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18

Sir Frank Tarletons Absicht lief – wie ich später von ihm erfuhr – darauf hinaus, in Paris sich als Freund Betty Neobards zu gebärden, der meinen Argwohn gegen sie nicht teilte und nur wünschte, ihre Unschuld dartun zu können. Ganz offen erzählte er mir, wie er dort über mich gesprochen habe, und beantwortete mir überhaupt bereitwillig alle meine Fragen.

Er hatte in seinem Lieblingshotel Saint Lazare Wohnung genommen, das er bevorzugte, weil es trotz seiner zentralen Lage, nicht von Engländern und Amerikanern überlaufen wurde. In Frankreich liebte er es, unter Franzosen zu leben. Nach dem kleinen Frühstück, diesem köstlichen Mahl von französischem Kaffee und französischem Weißbrot, das für die Unbequemlichkeit der französischen Eisenbahnwagen entschädigt, schlug er den Weg zum Hauptquartier der Pariser Polizei ein, wo sein Name und sein Rang wohlbekannt waren. Hier lernte er Monsieur Samson kennen, den Detektiv, der die beiden Flüchtigen überwachte, und der auf Wunsch des englischen Gastes veranlaßte, daß ein Polizist genau dem Hotel Sainte Catherine gegenüber bis auf weiteres Posten bezog. Alsdann holte Tarleton die Photographie, die ihm Inspektor Charles gebracht hatte, hervor und bat, man möge nachsehen, ob im Register der Fingerabdrücke eine gleiche vorhanden sei.

Als die Uhrzeiger eine Stunde angaben, zu der man einen Besuch bei Damen wagen darf, brach mein Chef zur Rue Tivoli auf. In der Hotelhalle stieß er auf den Londoner Detektiv, der als harmloser Vergnügungsreisender ein Zimmer im gleichen Stock wie Mutter und Tochter bewohnte.

»Die Vögel sind in ihrem Käfig, Sir Frank«, berichtete er, als er den Gelehrten erkannte. »Aber Mrs. Weathered hat es vorgezogen, sich hier wieder Neobard zu nennen.«

Tarleton schickte seine Visitenkarte hinauf und mußte etliche Minuten warten, ehe man ihn nach oben bat. Und ganz, wie er vorausgesehen, empfing ihn Betty Neobard allein.

»Meine Mutter bittet, sie zu entschuldigen, Sir Frank«, sagte sie. »Ihr Befinden ist nicht so gut, daß sie sich geschäftlichen Besprechungen gewachsen fühlt.«

»Oh, das bedauere ich außerordentlich. Im Übrigen komme ich halb in amtlicher Eigenschaft und halb als Privatmann. Das heißt, ich würde ohne Einwilligung Ihrer Mutter keinen Gebrauch von den Auskünften machen, die ich von ihr erhoffe.«

»Gilt das auch für mich?«

Sir Frank zögerte absichtlich.

»Ich wünschte eine Unterredung mit Ihrer Mutter und nicht mit Ihnen«, entgegnete er nach einem Weilchen.

»Meine Mutter kann Sie nicht empfangen, Sir Frank. Was Sie ihr zu sagen haben dürfen Sie unbesorgt auch mir anvertrauen«, gab die junge Dame scharf zurück.

»Meine liebe Miß Neobard, ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich als Freund betrachteten. Wäre ich als Feind gekommen, so hätte ich Dr. Cassilis mitgebracht. Oder vielmehr, ich hätte mir die Strapazen der Reise erspart und ihn herübergeschickt.«

Diese Worte wirkten so, wie Tarleton, dieser schlaue Fuchs, erwartete.

»Dr. Cassilis hat mich unumwunden des Mordes angeklagt«, rief Betty erbost.

»Dr. Cassilis ist ein junger Mann ohne viel Erfahrung, den die junge Dame, die Sie verdächtigen, interessiert. Er sprach so, weil er sich zu ihrem Ritter aufwarf. Daß er tatsächlich meint, sie hätten etwas mit Dr. Weathereds Tod zu schaffen, glaube ich nicht. Selbstverständlich ließ er sich fortreißen, was ich ihm bereits tadelnd zu verstehen gab, und als Folge davon habe ich ihm den Fall aus den Händen genommen.«

Die Kühle und der Trotz schwanden aus Miß Neobards schönen, dunklen Augen.

»Heißt das, daß ich nicht länger verdächtig bin?« lächelte sie meinen Chef an.

»Habe ich Sie denn je verdächtigt?« wich Tarleton geschickt aus. »Ich halte Sie für einen glaubwürdigen Menschen, und was Sie mir im Vertrauen erzählen würden, zöge ich wirklich nicht in Zweifel.« Nun war Betty gewonnen.

»Ich bin ein schlechtes Mädchen, Sir Frank«, begann sie leise. »Manchmal habe ich gewünscht, daß er sterben möge. Aber das war auch alles. Ich schwöre Ihnen, daß ich keine Ahnung habe, wer ihn ermordet hat, und wie er ermordet wurde. Keine Ahnung, Sir Frank!«

»Vieles deutet überhaupt auf einen Selbstmord hin, Miß Neobard. Dr. Weathered trug nämlich Gift bei sich.«

»Gift? Ich wußte, daß er manchmal Opium nahm, aber Selbstmordgedanken habe ich nie bei ihm vermutet.«

»Jedenfalls sehen Sie jetzt wohl, daß ich nicht gekommen bin, um Ihre Mutter über Sie auszuhorchen, liebes Kind. Was mich hierherführt, betrifft Sie gar nicht, sondern einige von Dr. Weathereds Patienten. Ich glaube, Ihre Mutter, die, wie ich erfuhr, wieder den Namen ihres ersten Gatten angenommen hat, könnte mir einige wertvolle Winke geben. Nicht wahr, Miß Neobard, Sie wollen doch nicht, daß das Böse, das Weathered beging, auch noch nach seinem Tode Unheil anrichtet?«

Das war ein Satz, der an die edlen Instinkte Betty Neobards appellierte, und er hatte Erfolg. Zwar machte sie noch einen schwachen Versuch, von dem Besucher zu erfahren, was er von ihrer Mutter zu wissen begehrte, aber als sie auf eine feste, wenn auch liebenswürdige Abwehr stieß, ging sie, um die Witwe zu holen.

Eine Viertelstunde verstrich. Im Nebenzimmer mußte ein heftiger Kampf ausgefochten werden, obwohl kein Laut durch die Mauer drang, und gerade als Tarleton, am Ende seiner Geduld, dem Zimmermädchen schellen wollte, öffnete sich die Tür, und Mutter und Tochter erschienen.

Die ältere Frau schien zu ahnen, was den Gelehrten herführte. Ihre Augen waren verweint und ihre gewöhnlich blassen Wangen mit einer hektischen Röte überzogen. Betty hingegen tappte offenbar im Dunkeln, denn verwundert flogen ihre Blicke zwischen Sir Frank und ihrer aufgeregten Mutter hin und her. Tarleton verzichtete auf langwierige Einleitungen und Umschweife.

»Ihre Tochter hat Ihnen wohl erklärt, daß ich gesonnen bin, alles, was Sie mir sagen, vertraulich zu behandeln«, begann er. »Ihnen steht es anheim, zu entscheiden, ob Miß Neobard im Zimmer bleiben soll.« Die Witwe klammerte sich eng an ihre junge Beschützerin, der sie auch die Antwort überließ.

»Ich habe meiner Mutter versprochen, dazubleiben, Sir Frank.«

»Gut. Dann will ich Ihnen diese Anzeige vorlesen, die in einer gestrigen Zeitung abgedruckt wurde.« Tarleton las die Aufforderung von Messrs. James, Halliday und James und fuhr dann fort: »Der Anwalt, der die Annonce aufgab, weigert sich, den Namen seines Klienten zu nennen. Wollen Sie mir sagen, ob Sie es sind?«

Mrs. Neobard schüttelte stumm den Kopf.

»Hat Ihr Gatte ein Testament hinterlassen? Und wer ist der Erbe?«

Jetzt griff Betty wieder ein.

»Ja, ein Testament ist da, das meine Mutter zur alleinigen Erbin einsetzt. Sie wollte auf die Erbschaft verzichten; der Anwalt jedoch meinte, das sei zwecklos, da das Gesetz sie dann mit der Verwaltung betrauen würde. Jedenfalls wird sie nicht eine Kupfermünze von seinem Gelde nehmen.«

»Wenn Mrs. Neobard Universalerbin ist – wie kommt es dann, daß die von Dr. Weathered hinterlassenen Briefschaften in den Besitz jener Anwaltsfirma oder ihres betreffenden Klienten gelangten?«

»Das kann ich nicht erklären«, wisperte die Witwe. »Ist das nicht nebensächlich?« warf Betty ein. »Solange die Leute ihre Briefe zurückerhalten, tut es doch nichts zur Sache, aus wessen Hand sie dieselben empfangen.«

»Die Leute werden sie aber nicht zurückerhalten, Miß Neobard«, sagte der Arzt ernst. »Die Anzeige ist ein schmutziges Manöver. Ich muß Ihnen und Ihrer Mutter – falls diese nicht schon Bescheid weiß – erklären, was es mit diesen Briefen für eine Bewandtnis hat.«

Ganz ausführlich schilderte Tarleton nun seine Entdeckungen, ohne natürlich Namen zu erwähnen. Er erläuterte, weshalb Weathereds Krankheitsbuch aus dem Safe entwendet worden war, und weshalb sich diese Vorsichtsmaßregel als nutzlos erwiesen hatte. Je weiter er in seiner Erzählung fortschritt, desto kläglicher sank die Witwe in sich zusammen. Betty Neobards schwarze Augen aber sprühten vor Entrüstung, als das Wort Erpressung fiel.

»Ich glaube es nicht, kann es einfach nicht glauben, daß mein Stiefvater die Briefe in dieser Art auszubeuten gedachte!« rief sie hitzig. »Erpressung, das gemeinste aller Verbrechen! Ah, Sir Frank, Sie wähnen doch nicht, daß meine Mutter etwas von den Briefen oder ihrem Inhalt gewußt hat? ... Mutter, Mutter, hörst du?« Sie rüttelte die von neuem erblaßte Frau an der Schulter. »Du mußt Sir Frank Tarleton nach Kräften helfen, damit den jetzigen Besitzern der Briefe ihr schmutziges Handwerk gelegt wird!« Und plötzlich ließ sie von ihrer Mutter ab und drehte sich meinem Chef zu: »Ich errate es, wer diese Briefschaften hat – Madame Bonnell!«

»Madame Bonnell ist der letzte Mensch, dem Dr. Weathered sie anvertraut haben würde«, erwiderte Tarleton.

»Vielleicht hat sie die Briefe gestohlen«, beharrte das Mädchen. »Vielleicht bewahrte er sie im Klub auf, und sie entdeckte sie nach seinem Tode.«

»Außer dem Kostüm, das er bei den Festlichkeiten trug, bewahrte er nichts im Klub auf, Miß Neobard. Ich habe eine gründliche Suche veranstalten und die Angestellten verhören lassen. Die Briefe sind nicht dort.«

Mrs. Neobard hörte diese Diskussion mit ängstlichem, verstörtem Gesicht an.

»Wer kann sie denn sonst haben?« fragte sie heiser. »Das möchte ich gern von Ihnen wissen. Und ich denke, Mrs. Neobard, Sie sind imstande, es mir zu sagen.«

Die Witwe erschauerte, und Betty beugte sich zu ihr herab.

»Mutter ... um Gottes willen, weißt du etwas? Dann mußt du es erzählen.«

»Ihr Gatte bewahrte die Briefschaften in einem geheimen Wandschränkchen seines Ankleidezimmers auf«, ergriff Sir Frank von neuem das Wort. »Die Polizei hat Ihr Haus nach einem solchen Gelaß durchsucht und es gefunden. Aber es ist leer. Es stand Ihnen als Erbin das Recht zu, sich den Inhalt anzueignen; doch als Vertreter des Gesetzes verlange ich jetzt Rechenschaft von Ihnen, was mit den Briefschaften geschah.«

Dr. Weathereds Witwe schien furchtbar mit sich zu kämpfen. Bald öffnete sie den Mund, als wolle sie sprechen, bald preßte sie ihn fest zusammen.

»Sag' es doch, Mutter!« flehte Betty.

Die andere blickte verzweifelt zu ihr empor.

»Ich kann es nicht! Ich darf es nicht! Quäl' mich doch nicht so, Kind!«

Sir Frank zog seine Uhr.

»Wenn das Ihre Antwort ist, müssen Sie die Folgen tragen, Mrs. Weathered.« Absichtlich redete er sie wieder mit dem Namen an, den sie abgelegt hatte. »Schauen Sie aus dem Fenster, Miß Neobard, und berichten Sie Ihrer Mutter, was Sie sehen.«

Betty rannte zum Fenster und stieß einen Schrei aus. »Mutter, da steht ein Polizist, der das Hotel bewacht!« Vorwurfsvoll musterte sie den Arzt. »Und Sie behaupteten, Sie kämen als ein Freund, Sir Frank!«

»Ich gebe mir die größte Mühe, als solcher zu handeln. Ihre Mutter braucht nur meine Frage zu beantworten, und ich schicke den Mann fort.«

»Hörst du, Mutter? Du wirst es doch nicht so weit treiben, daß man mich verhaftet?«

Da sprang die Witwe von ihrem Stuhl auf – eine ganz andere Frau.

»Dich? Dich verhaften! Was meinst du, Kind? Was hast du mit der Sache zu schaffen? Meinetwegen ist die Polizei da!«

Betty starrte die Mutter an, als stände sie einer Irren gegenüber.

»Unsinn!« rief sie. »Dir kann man nichts anhaben. Du warst ja in der Mordnacht nicht auf dem Maskenball.«

»Warst du denn dort? Mein Kind, mein armes Kind, was hast du getan?«

»Sir Frank Tarleton weiß es ... ich habe ihm alles erzählt, Mutter.«

Und jetzt wurde die Szene wirklich peinlich für den Zeugen, der Mutter und Tochter sich mit erschreckten, ungläubigen Augen messen sah. Beide hatten sie zeitweilig den Ermordeten geliebt; bei beiden war die Liebe vielleicht in Haß umgeschlagen.

»Wenn du Sir Frank Tarleton zu deinem Vertrauten gemacht hast«, meinte die ältere Frau schließlich müde, »kann ich dasselbe tun. Er denkt, ich hätte jene Briefe in dem Geheimfach nach dem Tode meines Gatten gefunden – das ist ein Irrtum, mein Kind. Seit mehr als einem Jahr habe ich jeden einzelnen gelesen.«

Erschöpft von dem Sturm ihrer Gefühle, nahmen die beiden Seite an Seite Platz; aber sie vermieden es, sich anzusehen.

»Sie dürfen mich nicht für eine neugierige Frau halten, Sir Frank«, fuhr die Witwe fort. »Ich entdeckte die Geheimnisse Dr. Weathereds wahrhaftig nicht durch Spionieren. Sowohl von dem Geheimfach als auch von den Briefen erfuhr ich erst, als eine der Frauen, die er zum Schreiben überredet hatte, zu mir kam. Es war eine Miß Sebright – Miß Julia Sebright.«

»Sie ist inzwischen gestorben.« Tarleton hielt es für ratsam, zu zeigen, daß er den Namen kannte.

»Ja. Sie starb kurz darauf – an gebrochenem Herzen, denke ich. Als Verzweifelte kam sie zu mir und flehte mich, Dr. Weathereds Ehefrau, an, sie vor ihm zu schützen.«

Sir Frank stand auf, schritt zum Fenster, öffnete es und winkte mit der Hand. Und respektvoll salutierend entfernte sich der Polizist.


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