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20

Als Sir Frank bei seiner Rückkehr von Paris an seinem Arbeitstische Platz nahm, holte er seine goldene Weckuhr aus der Westentasche, legte sie an sein Ohr und ließ das silberhelle Läutewerk erklingen. Und das bedeutete Sieg, bedeutete Triumph.

Er erzählte mir alles, genau so, wie ich es geschildert habe, und richtete dann eine Frage an mich.

»Ich erwarte, Cassilis, daß Sie ebenso offen zu mir sind wie Mrs. Neobard. Haben Sie zusammen mit dem Opium auch das unbekannte Tropengift in Weathereds Tasse geschüttet?«

Schon lange hatte ich diese Frage erwartet, schon lange sie verdient. Nichtsdestoweniger jagte sie mir einen furchtbaren Schrecken in die Glieder.

»Bei allem, was mir heilig ist: nein!«

Mein Chef bekundete bei diesem Eid weder ein Zeichen von Glauben noch von Unglauben.

»Ich schelte Sie nicht für das andere, das Sie um Lady Violets willen taten«, sagte er ernst. »Selbst wenn Sie sie nicht liebten, hätten Sie als Mann von Ehre sie aus den Händen dieses Schuftes retten müssen. Sie hatten das Recht, ihn zu betäuben, das Recht, sein Buch mit den Krankheitsfällen zu vernichten. Aber Sie hatten nicht das Recht, sich an seinem Leben zu vergreifen. Ich habe Sie gern, Cassilis; Sie wußten es, und dennoch fanden Sie nicht den Mut, sich mir zu offenbaren.«

»Es war nicht mein Geheimnis allein, Sir Frank.«

»Gut, das läßt sich hören. Trotzdem begingen Sie einen Fehler, weil nicht die geringste Aussicht bestand, auf die Dauer dies Geheimnis wahren zu können. Sie verstehen nämlich, Ihre Zunge zu hüten, aber nicht Ihr Gesicht, mein lieber Junge.«

Das erwies sich in der nächsten Sekunde schon, denn eine glühende Röte schoß mir in die Wangen.

»Ich bin ein leichter Schläfer, Cassilis, wie Sie eigentlich wissen sollten. Das Telephon weckte mich einige Minuten, bevor Sie in jener ersten Nacht ins Haus traten. Sobald Sie es hörten, bewegten Sie sich so lautlos wie eine Maus die Treppe hinauf, aber da ich bereits wach geworden war, hatte ich zwischen dem ersten und zweiten Läuten das Geräusch der Haustür vernommen. Als Sie dann mit Inspektor Charles' Botschaft zu mir kamen, sah ich sofort Ihrem Gesicht an, daß Sie mehr plagte als nur ein heimlicher nächtlicher Ausflug. Und Sie gaben sich die erste Blöße mit der Bemerkung, Sie seien einst durch einen Hauptmann Smethwick im Klub eingeführt worden. Solch ein Name ist in der ganzen Armee-Liste nämlich nicht aufzufinden!«

Schlappe nach Schlappe, und mit gutmütiger Ironie zählte Tarleton sie sämtlich auf. Der Diebstahl des Krankheitsbuches hatte angezeigt, daß der Dieb ein Arzt war. Die Auslassung von Violets Namen auf der für Charles bestimmten Liste lieferte den Schlüssel für mein Handeln, und mein Angriff auf Betty Neobard offenbarte dem erfahrenen Menschenkenner, daß ich das Mädchen, das sie denunzierte, liebte. Bereitwillig hatte Tarleton meinen Plan, Violet auf Schloß Tyberton heimlich zu treffen, begünstigt, wiewohl er hinterher durchblicken ließ, daß er nicht ganz mit Blindheit geschlagen sei. Und Violets Weigerung, den Entleiher des Zenobia-Kostüms zu nennen, hatte meinem Chef mehr enthüllt als mir armem, einfältigem Gesellen.

»Bedenken Sie, mein Junge, welche Aussichten Sie an meiner Seite haben«, fuhr Sir Frank fort. »Ich habe die höchste Rangstufe erklettert, und mein Gehalt beträgt 1500 Pfund im Jahr. Und dazu rechnen Sie meinetwegen noch 500 Pfund, die ich durch Privatarbeit verdiene. Das genügt nicht für die Tochter eines Grafen, Cassilis. Mit Ihrem Wissen und Ihrer Tüchtigkeit werden Sie im Londoner Westen rasch das Doppelte wie ich verdienen. Sie haben eine für den medizinischen Beruf unschätzbare Gabe mit auf den Weg bekommen: Sie sind ein guter Zuhörer. Einem Teil der Patienten, die Sie konsultieren werden – und das sind die besten Zahler –, fehlt nämlich nichts Ernstliches. Sie bilden sich allerhand Krankheiten ein, über die sie ausführlich zu reden wünschen. Lassen Sie ihnen das Vergnügen. Mit meinem und Lord Ledburys Einfluß werden Sie in kurzer Zeit über eine brillante Praxis verfügen.«

Ich schüttelte betrübt den Kopf.

»Sie sind sehr gut zu mir, Sir Frank – weit mehr, als ich es verdiene. Aber nichts berechtigt mich zu der Annahme, daß Lady Violet Bradwardine mich je heiraten wird.«

Sir Frank schielte zu mir herüber.

»So. Dann schreiben Sie sich gefälligst das Folgende hinter die Ohren: wenn Sie sie nicht heiraten, heirate ich sie! Basta!«

Bevor ich mich von dieser Drohung erholt hatte, zog Tarleton schon wieder seine Uhr.

»Na, gleich müssen sie hier sein. Ah, da sind sie schon! Ich möchte, daß Sie uns begleiten, Cassilis. Wir fahren zum Domino-Klub.«

Dankbar folgte ich ihm in die Halle, wo wir mit Inspektor Charles und einem französischen Herrn zusammentrafen, der mir als Monsieur Samson vorgestellt wurde. In dem Taxi, das die beiden Detektive hergebracht hatte, fuhren wir zu viert zum Domino-Klub.

Die neue Besitzerin, scheinbar entschlossen, ihm einen größeren Aufschwung zu geben, hatte Handwerker bestellt, die den Ballsaal frisch dekorierten. Als der Kellner Gérard mit der Botschaft zurückkehrte, Madame Bonnell sei bereit, uns zu empfangen, blieb der französische Kollege von Inspektor Charles in einer der Nischen sitzen, während wir drei in ein geschmackvoll ausgestattetes Wohnzimmerchen geführt wurden. Dort begrüßte uns Madame mit der ganzen Würde ihrer neuen Stellung, ohne eine Spur von Nervosität.

»Die Anzeige von James, Halliday & James führt uns zu Ihnen, Madame«, griff Tarleton sofort den Kernpunkt heraus.

»Was ist das für eine Anzeige, bitte?« klang es mit bewunderungswürdiger Fassung zurück.

»Um Zeit zu sparen, will ich Ihnen nur gleich eröffnen, daß sämtliche Personen, die einen Briefwechsel mit Dr. Weathered unterhielten, durch die Polizei gewarnt wurden, von jener Annonce Notiz zu nehmen.« Jetzt sah Madame bereits weniger selbstbewußt aus. »Mr. Stillman ist in Kenntnis gesetzt worden, daß die Erbin des Verstorbenen als einzige ein Recht auf die Briefe hat. Er hat dann eingewilligt, daß ein Polizeibeamter in seinem Vorzimmer sitzt und alle, die sich auf jene Anzeige hin etwa noch melden sollten, an mich verweist. Der gleiche Beamte öffnet alle für die Firma einlaufende Korrespondenz.«

Inzwischen schien sich die Klubbesitzerin darüber klar geworden zu sein, daß die Briefe ihren Wert eingebüßt hatten und die Klugheit rate, dieselben zu opfern, sofern dies ohne persönliches Risiko geschehen könne.

»Was geht mich das an?« fragte sie vorsichtig.

»Mrs. Weathered teilte mir mit, sie habe Ihnen die Briefe zur Aufbewahrung gegeben.«

Die Französin überlegte – scharf und blitzschnell. »Mrs. Weathered ist verrückt und für ihre Taten nicht verantwortlich. Es überrascht mich, Sir Frank, daß Sie ihre Faseleien ernst nehmen. Wenn Sie glauben, ich hätte die Briefe, bitte – es steht Ihnen frei, eine Haussuchung zu veranstalten.«

Tarleton betrachtete sie mit einem amüsierten Lächeln. »Verbindlichsten Dank, Madame, für Ihre Erlaubnis. Vermutlich aber tragen Sie die Briefe bei sich. Deshalb würde ich Sie dann bitten, mich nach der Newgate Street zu begleiten, damit ein weiblicher Beamter Sie einer Leibesvisitation unterzieht.«

Ein plötzlicher Funke, ein sehr häßlicher und gefährlicher Funke, sprühte bei dieser Antwort in den schwarzen Augen auf, um sofort wieder zu erlöschen.

»Wenn Sie das glauben – meinetwegen«, erklärte sie, indem sie die Arme verschränkte. »An der Sache selbst ändert es nichts. Sie behaupten, Mrs. Weathered hätte mir die Briefe gegeben. Warum fordert sie dieselben nicht persönlich zurück? Bis dahin habe ich das Recht, sie zu behalten.«

Das war richtig ... leider. Aber jetzt griff Inspektor Charles ein.

»Dann müssen Sie sich als meine Gefangene betrachten, Madame. Es wird Ihnen vorgeworfen, daß Sie gemeinsam mit Arthur Stillman aus den Briefschaften Kapital schlagen wollen.«

»Die Beschuldigung ist unrichtig, Inspektor, das wissen Sie sehr wohl. Sie sind es, die Drohungen anwenden, um in den Besitz der Briefe zu gelangen, auf die Sie kein Recht haben; Sie handeln dem Gesetz zuwider, nicht ich!«

Aber seltsamerweise nestelte Madame während dieser Rede am Ausschnitt ihres Kleides, brachte ein Päckchen zum Vorschein und reichte es dem Kriminalbeamten. »Ich übernahm die Briefe nur, weil ich die Gefährlichkeit Mrs. Weathereds durchschaute und Unheil verhindern wollte«, fuhr sie merklich unsicher fort. »Es war meine feste Absicht, sie den Schreibern zurückzugeben, sobald ich diese in Erfahrung gebracht hatte. Diesen Weg wies mir allein schon meine Stellung – ich mußte doch den Ruf des Klubs berücksichtigen.«

Hiergegen ließ sich nichts einwenden. Aber Tarleton ging nun von einer anderen Seite zum Angriff vor.

»Nach Mrs. Weathereds Aussage erhielten Sie von ihr noch etwas anderes außer den Briefschaften.«

Madame Bonnell zeigte sich auch diesem Schlag gewachsen. Sie seufzte, offensichtlich erleichtert.

»Ah, wie froh bin ich, daß sie es gestanden hat! Sie nehmen eine Last von meiner Seele, Sir Frank. Ich hätte Mrs. Weathered eigentlich anzeigen müssen, aber wie gesagt – sie war nicht Herr ihrer Sinne. Und sie tat mir so leid! Deshalb begnügte ich mich damit, ihr das Gift abzunehmen und sicher zu verwahren.« Ich merkte, wie mein Chef Respekt bekam vor dieser Gegnerin.

»Dann haben Sie das Gift noch ... unberührt, Madame?« forschte er.

»Aber selbstverständlich! Ich stellte es zwischen meine kleinen Schönheitsmittelchen. Sie werden es in dem Zimmer, das Sie abschlössen, finden.«

»Würden Sie vielleicht die Güte haben, es zu holen? Inspektor Charles wird Ihnen das Zimmer aufschließen.«

Der Inspektor machte ein ziemlich betretenes Gesicht, als er mit seinem Schützling abzog; vermutlich glaubte er, daß dem Gelehrten ein Irrtum unterlaufen sei. Nach wenigen Minuten kehrten die beiden zurück, und Charles trug wirklich die kleine Flasche in der Hand.

Tarleton befeuchtete seinen Zeigefinger, ehe er ein paar Körnchen von dem grauen Pulver herausnahm und kostete.

»Hm ... das Pulver, das diese Flasche jetzt enthält, ist ein harmloses Gemisch von pulverisierter Holzkohle und gewöhnlichem Kochsalz. Das Gift, das Dr. Weathered tötete, war Upasine.«

Madame Bonnell fuhr sich verzweifelt mit beiden Händen in ihr sorgfältig onduliertes Haar.

»Mille tonnerres! Diese Mrs. Weathered ist noch viel verrückter, als ich dachte! Sie hielt dies Zeug für ... wie sagten Sie, Sir Frank?«

Der Arzt wiegte langsam den Kopf. »Sie tun der Witwe Ihres Brotgebers unrecht, Madame. Ich habe ihre Aussagen geprüft und weiß, daß sie Ihnen das echte Gift übergab; ich habe die Person gesprochen, der sie es entwendete, und von deren Bruder ich selbst die Hälfte der Giftmenge erhielt.«

Unglaublich, wie die Französin jeder neuen Wendung sofort gerecht wurde! Nun blickte sie bestürzt uns drei der Reihe nach an.

»Dann hat man mich also beraubt? Nicht wahr, das meinen Sie doch? Irgendein elender Schuft hat das Gift gestohlen und die Flasche wieder gefüllt, um mich zu täuschen.«

»Gewiß, Madame, so sieht es aus.« Mein Gott, was fiel denn Tarleton ein? Aber schon setzte er mit der gleichen höflichen Ruhe hinzu: »Leider hat einer der Kellner – Gérard heißt der Mann – der Polizei eine abweichende Schilderung vorgetragen.«

Und jetzt erbleichte Madame Bonnell. Ihr Atem ging in kurzen Stößen.

»Seine Geschichte, Madame, lautet, daß Sie immer andeuteten, Dr. Weathered schwebe in Angst, von einem seiner Feinde im Klub vergiftet zu werden. Späterhin bewogen Sie Gérard zu der Aussage, der Doktor selbst habe ihm Anweisung erteilt, über seine Getränke zu wachen. In Wirklichkeit aber wurde Gérard durch Ihre fortgesetzten Andeutungen mißtrauisch, beobachtete die Gäste schärfer und sah, wie eine der Tänzerinnen in jener verhängnisvollen Nacht etwas in des Doktors Tasse fallen ließ. Es ist eine harmlose Dosis Opium gewesen, gegen die Weathered immun war, weil er ohnehin dem Opiumlaster frönte. Gérard berichtete Ihnen sofort den Vorfall, worauf Sie antworteten, so etwas hätten Sie befürchtet, aber glücklicherweise verfügten Sie über ein Gegenmittel. Dieses sogenannte Gegenmittel schütteten Sie in eine frische Tasse Kaffee, die Gérard auf Ihr Geheiß dem Doktor bringen mußte. Es unterliegt keinem Zweifel, Madame Bonnell, daß Weathered nach dem Genuß von diesem Kaffee starb.«

Von neuem zuckte der häßliche Funke in den schwarzen Augen auf, um nicht mehr zu verschwinden. Madame biß die Zähne zusammen, und sie zischte:

»Gérard ist ein infamer Lügner.«

Aber im nächsten Augenblick hatte sie sich wieder gefaßt und verschanzte sich hinter einer Verteidigungslinie, die wirklich ausgezeichnet war.

»Wollen Sie diese Geschichte in die Welt posaunen? Bitte! Ah, aber ich kann auch Geschichten erzählen! Eine zum Beispiel von dem Prinzen von Lavonia. Wie Seine Königliche Hoheit mit Giftmischern und Halbweltdamen und Leuten, deren Charakter schlimmer stinkt als Aas, sich vergnügte und bis zum Morgengrauen tanzte, und wie unter seinen Augen von einem Festgenossen ein Mord begangen wurde. Verhält es sich etwa nicht so? Und ferner werde ich viel, viel aus jenen Briefen, die ich las, rezitieren. Oh, ich habe ein vortreffliches Gedächtnis, und ich rezitiere gut!«

»Sie haben recht, Madame, daß die britischen Behörden aus gewissen Gründen nicht gegen Sie vorgehen möchten«, bestätigte mein Chef. »Deshalb schlagen sie Ihnen vor, in Ihr Vaterland zurückzukehren.«

»Und meinen Klub in Stich lassen? Hahaha! Mein schönes Geschäft, das ich einer neuen Blütezeit entgegenführen will? Oh, Sir Frank Tarleton, so dämlich bin ich nicht!«

Der Gelehrte hob einen Finger, und sofort setzte Inspektor Charles seine schrille Pfeife an die Lippen. Gleich darauf stand Monsieur Samson im Türrahmen. Bei seinem Anblick wich Madame bis in den äußersten Winkel zurück, zog den Kopf ein, kroch in sich zusammen.

»Tag, Léonie Marchand«, sagte Monsieur Samson gleichmütig. »Sie haben zwar Ihr Haar gefärbt, seit ich Sie zum letzten Male sah, aber Ihre Fingerabdrücke sind unverändert. Und wir brauchen Sie drüben, Léonie Marchand ... wegen des Mordes in der Rue Lausanne ...«


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