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6

Sir Frank Tarleton, der Menschenkenner, hatte seine Gegnerin richtig eingeschätzt. Kaum fühlte sie die Berührung des Polizeibeamten, so schmolz all ihre Dreistigkeit wie Butter in der Sonne, und Madame geriet in einen Zustand der Panik und Bestürzung.

»Mon dieu! Was habe ich verbrochen? Wessen klagt man mich an?« Beschwörend blickte sie von Charles auf Tarleton und von ihm auf mich. Doch die Antwort erhielt sie von dem Inspektor.

»Die Vertreter des Gesetzes bei der Ausübung ihrer Pflicht zu hindern – das wird Ihnen vorläufig zur Last gelegt. Späterhin vielleicht auch noch mehr. Jedenfalls warne ich Sie, daß alles, was Sie hinfort sagen, festgelegt wird und als Belastungsmaterial gegen Sie verwandt werden kann.«

Madames Verhalten angesichts dieser üblichen Warnung überzeugte mich, daß sie zum erstenmal mit dem englischen Gesetz in Konflikt geriet.

»Aber, Messieurs, da muß ein Irrtum obwalten«, widersprach sie. »Ich verstehe Sie nicht. Nicht im entferntesten denke ich daran, mich gegen das Gesetz aufzulehnen. Nur wähnte ich, daß sich mit diesem traurigen Vorfall die Polizei nicht befassen sollte.«

»Unsinn!« unterbrach sie mein Chef unwirsch. »Natürlich befaßt sich die Polizei damit. Seit fünf Uhr morgens bereits, Madame – seit Sie selbst sie herbeiriefen. Sind Sie willens, das Register auszuliefern, oder müssen wir zu einer Haussuchung schreiten?«

Madame Bonnell stieß einen letzten Seufzer der Auflehnung aus. Hinfort aber war sie ganz unterwürfig. Von dem Tanzsaal führte sie uns in die angrenzenden Räumlichkeiten. Ihr Privatgemach lag zwischen der Küche und der Reihe Ankleidekämmerchen, zur Bequemlichkeit der Tänzer geschaffen, die erst im Klub in ihr Maskenkostüm schlüpften. An einer Seite des Zimmers verbarg ein zugezogener Vorhang Madames Bett; der übrige Raum gemahnte an ein Geschäftskontor, mit amerikanischem Rollschreibtisch, Schreibmaschine und Regalen für Bücher und Briefhefter. Und ganz in der Ecke befand sich ein Wandschrank mit einer starken Tür, die die Besitzerin voll anerkennenswertem Eifer aufschloß.

Der Inhalt dieses Wandschrankes mutete sehr unschuldig an. Ein Stapel Rechnungen, ein Hauptbuch, eine Geldkassette, deren Inhalt nachzuprüfen Tarleton verbot, und – wichtiger für unsere Zwecke – zwei dünne, in schwarzes Leder gebundene Bücher, von denen das eine die Aufschrift »Mitglieder«, das andere die Aufschrift »Gäste« trug. Über den Inhalt verschiedener kleiner Büchsen, Dosen, Fläschchen und Schachteln auf einem niedrigeren Brett, das eine gewisse weibliche Eleganz ausströmte, Vermutungen anzustellen, wäre wenig kavalierhaft gewesen.

»Wollen Sie bitte diese Bücher an sich nehmen, Cassilis«, sagte mein Chef, indem er auf die beiden schwarzen Lederbände wies. »Wir können sie später in Ruhe durchsehen.«

Die Französin äußerte ein schwaches Stöhnen, als ich meine Hand ausstreckte, und ich hätte am liebsten mit ihr gestöhnt. Zwar fürchtete ich nicht, daß mein eigener Name in dem Gästebuch enthalten sein würde, aber bestimmt erwartete ich, auf einen anderen Namen in dem anderen Buch zu stoßen. Und ich verwünschte die Klubbesitzerin, weil sie nicht die gefährliche Liste zerstört hatte, solange dies in ihrer Macht lag. Aber was fragte diese nüchterne Rechnerin nach der Sicherheit ihrer Gönner? ... Gewiß, sie hatte nach Kräften versucht, den Behörden Einblick in diese Bücher zu verwehren – doch lediglich aus Selbstsucht. Sie gaben ihr eine gewisse Macht über die Klubmitglieder, die nach Ruchbarwerden der Tragödie Neigung verspüren sollten, auszutreten. In diesem Fall brauchte sie ihnen nur zu sagen: »Schön, laßt den Klub im Stich, löst euch von mir; aber dann werde ich meine Bücher zu einer Zeitungsredaktion tragen und sie ihr für einen guten Preis verkaufen.« Wenn man ihr daher jetzt die Bücher nahm, beraubte man sie ihrer wertvollsten Waffe zu Erpressungszwecken.

Ob mein Chef sich durch derartige Erwägungen leiten ließ, vermochte ich nicht zu beurteilen. Äußerlich schien er nur ein Ziel zu verfolgen: den Urheber des Verbrechens aufzuspüren, und sobald ich mich der beiden Bücher bemächtigt hatte, machte er dem Inspektor ein Zeichen.

»Ich würde Ihnen raten, den Wandschrank abzuschließen und den Schlüssel vorläufig zu behalten ... sofern Madame Bonnell nicht vorher noch irgend etwas herausnehmen will.«

Madame blickte sehnsüchtig die Sammlung kleiner Fläschchen und Schachteln an, aber als kluge Frau schüttelte sie den Kopf.

»Merci, monsieur. Ich will nichts nehmen. Denn ich wünsche keine Geheimnisse vor der Polizei zu haben. Meine Parfüms und Toilettenartikel werde ich lieber neu aus dem Laden beziehen.«

Tarleton lächelte fein. Dies war eine Gegnerin nach seinem Herzen, eine, die jede Pointe in dem Spiel erfaßte und keinen falschen Zug tat. Inzwischen sperrte der Inspektor den Schrank ab und steckte den Schlüssel mit der nämlichen sturen Pedanterie in seinen Rock, mit der er die Nummer eines Taxis festgestellt oder den Prinzen von Lavonia verhaftet haben würde.

»Befindet sich Madame noch unter Arrest?« fragte er schwerfällig.

»Durchaus nicht – soweit ich in Frage komme«, erwiderte der Arzt. »Ich habe nichts mehr mit Madame zu verhandeln ... Meine Aufgabe beschränkt sich nur noch auf die medizinische Untersuchung.«

Mit aller Förmlichkeit gab Inspektor Charles seine Gefangene frei, die so tat, als sei dies eine Selbstverständlichkeit. Mir war jedoch ein dankbares Aufleuchten der schwarzen Augen nicht entgangen, als Sir Frank sich zu ihren Gunsten eingesetzt hatte, und es bestärkte mich in dem Gefühl, daß Madame Bonnell niemals in unmittelbarer Nähe der Polizei ganz frei atmen könne.

Die Anordnungen für das Fortschaffen des Leichnams waren bald getroffen. Ein verdeckter Polizeiwagen wurde für den Transport nach dem stillen Hause in der Montague Street angefordert, und Sir Frank und ich fuhren ihm voraus. Unterwegs plauderte mein Chef sehr angeregt.

»Eine interessante Frau, wie? Sie müßte ein lohnendes Studienobjekt für einen Psychologen abgeben ... Für einen wirklichen, meine ich – nicht einen Scharlatan wie Weathered. Die Worte recht und unrecht haben meines Erachtens keinen Sinn für sie, und nur schwer dürfte sie unseren Gesichtspunkt begreifen. Nach ihrer Meinung ist das einzig Wichtige, daß der Name des Prinzen nicht in einen Skandal verwickelt wird. Und wenn Seine Königliche Hoheit geruht haben sollte, einen Mord zu begehen, so ist weiter nichts erforderlich, als daß der Monarch von Lavonia mir irgendeinen Orden verleiht, damit die Untersuchung unter den Tisch fällt. Das ist Madames Mentalität, Cassilis!«

Wir kamen gerade zum Lunch zurecht, und mein gütiger Chef nötigte mich wieder und wieder zum Essen.

»Sie sehen abgespannt aus, junger Freund«, sagte er. »Wenn Sie nicht Abstinenzler wären, würde ich Ihnen eine halbe Flasche Burgunder verordnen. Wir stehen erst am Beginn unserer Arbeit. Gleich nach dem Essen will ich das Mitgliederverzeichnis durchgehen und seine Namen mit denen in Weathereds Terminbuch vergleichen. Möglich, daß wir so einen Schlüssel zu den mysteriösen Nummern erhalten.«

Mühsam unterdrückte ich einen Seufzer der Verzweiflung, raffte mich auf und aß trotz mangelnden Appetits von den Leckerbissen vor mir. Der Doktor verstand es, dem Leben die beste Seite abzugewinnen, und dank einer ausgezeichneten Verdauung konnte er sich nach Herzenslust an Hummermayonnaise und den saftigen Backhähnchen, die seine Köchin unübertrefflich zubereitete, gütlich tun. Er trank niemals etwas Schwereres als Bordeaux; aber es war ein Bordeaux, wie man ihn nicht oft in Privatkellern findet, und seine Blume traf über den Tisch hinüber meine Nase wie Rosenduft.

Und endlich – im Vertrauen auf die Wärme und Fröhlichkeit, die der Wein schuf – wagte ich eine Frage, die schon seit Stunden auf meinen Lippen schwebte.

»Haben Sie sich schon eine Meinung über die Todesursache gebildet, Sir Frank?«

Er warf mir einen scharfen Blick zu, und die buschigen Brauen zogen sich zu einer breiten Linie zusammen.

»Vor der Autopsie? Das wäre doch wohl verfrüht«, gab er zurück. »Wenn Sie aber wissen wollen, ob ich irgendeine Vermutung hege, so muß ich Ihnen antworten: ja. Mehrere Vermutungen sogar, von denen die eine oder andere sich vielleicht später als richtig erweisen mag. Bis zu einem gewissen Grade lehne ich sogar Ihre Theorie nicht ab.«

»Meine Theorie?«

»Ja. Wenn Sie sich erinnern, deuteten Sie an, daß jener, der Weathered das Opium einflößte, nicht seinen Tod beabsichtigt habe, Cassilis. Vielleicht beabsichtigte man tatsächlich nur einen Zustand der Bewußtlosigkeit, um sich die Schlüssel anzueignen. Wofür diese gebraucht wurden, wissen wir.«

»Um Beweismaterial gegen irgendeinen Patienten aus der Welt zu schaffen?« fragte ich, auf meinem Teller herumstochernd.

»Das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist, daß der Dieb das entwendete Buch für eigene unlautere Zwecke benutzen wollte. Vielleicht, um auf irgendeinen Patienten – oder auch mehrere – einen Druck auszuüben.«

»O nein!« Fast unbewußt legte ich diesen Protest ein, den ich in der nächsten Sekunde schleunigst in eine andere Bahn lenkte. »Ich meine, Sir Frank, so lautete meine Theorie nicht.« Ein kurzes Besinnen. »Wenn man alles, was Madame Bonnell, der Kellner und Miß Neobard erzählten, zusammenhält, gewinnt man die Überzeugung, daß Weathered ein Erzschurke gewesen ist. Meines Erachtens hat er die Beichten, die seine Patientinnen ihm als Arzt machten, späterhin zur Erpressung benutzt, bis schließlich eine von ihnen zur Verzweiflung getrieben wurde. Sie wähnte, sie könne sich befreien, indem sie die Niederschrift der sogenannten Krankheitsfälle vernichtete; doch sie war niemals willens, ihrem Peiniger eine verhängnisvolle Dosis Opium zu geben.«

»Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, Cassilis, daß das Gesetz dies nicht als Entschuldigung gelten läßt, wenn die Dosis wirklich verhängnisvoll wirkte«, erwiderte mein Chef. »Sie sind also der Ansicht, es sei das Werk einer Frau?«

»Ja. Auf Grund von Gérards Aussage, Sir Frank. Er beschrieb drei Frauen in Verbindung mit dem maskierten Inquisitor – nicht einen einzigen Mann.«

»Er beschrieb eine Frau, die sehr einem Mann geglichen hätte, mein Lieber. Und hat sogar geargwöhnt, daß Zenobia Seine Königliche Hoheit sei.«

Was konnte ich erwidern? ... Ich befand mich in solch einer kritischen Lage, daß ich fortgesetzt fürchtete, mich bloßzustellen. In meiner Unsicherheit griff ich den anderen zweifelhaften Punkt auf.

»Halten Sie es für möglich, Sir, daß eine an sich harmlose Dosis Morphium tödlich wirken könnte, wenn der Organismus der betreffenden Person schon vorher mit Opium gesättigt wurde?«

Wieder klang eine leichte Überraschung in Tarletons Stimme.

»Reichen Ihre wissenschaftlichen Kenntnisse nicht aus, damit Sie sich diese Frage allein beantworten, Cassilis? Das wundert mich! ... Unter gewöhnlichen Umständen, nein; ganz im Gegenteil würde die Dosis die beabsichtigte Wirkung nicht einmal herbeiführen; sie würde das Opfer kaum bewußtlos machen. Wenn jedoch der Betreffende seine Höchstdosis gerade genommen hat, und die Extraportion wird ihm unmittelbar danach eingeflößt, dann können allerdings die bösesten Folgen eintreten.«

Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß Tarleton mich nicht ganz ins Vertrauen zog. War ihm mein Mangel an Offenheit aufgefallen? Vergalt er deshalb Gleiches mit Gleichem? Er wußte, daß ich mindestens einmal den Domino-Klub besucht, und daß ich weiterhin etwas über Dr. Weathered gehört hatte ... von einem meiner Patienten, vermutete er wohl, oder gab sich wenigstens diesen Anschein.

Nach dem Lunch nahm mich mein Chef mit nach oben in sein Arbeitszimmer. Die Prüfung der von Madame Bonnell so widerstrebend ausgelieferten Bücher schien ihm wichtiger zu sein als die Autopsie der Leiche. Er ließ sich an seinem schweren Schreibtisch – einem Mittelding zwischen Pult und Sekretär – nieder und schlug den Band mit dem Etikett »Mitglieder« auf.

»Die Liste der Mitglieder ist nicht sehr lang«, lautete seine erste Bemerkung. »War nicht anders zu erwarten. Der Domino-Klub hat mehr den Charakter eines Geheimbundes als eines Klubs; ein Bund für unerlaubte Vergnügen, sozusagen. Mal sehen: wen haben wir hier denn alles?« Langsam überflog sein Auge die erste Seite. »Herzog von Altringham – überrascht mich nicht, ihn hier verzeichnet zu finden! General Sir Francis Uppingham; Gräfin Eardisley; Baronin Janette Wilbraham; Mrs. Worboise; Sir George Castleton ... hm, da sind ja schon etliche Namen, die auch in Weathereds Terminbuch stehen. Aber ich erkenne keinen Hinweis auf die angefügten Nummern. Und dennoch bin ich sicher, daß just diese Nummern den Schlüssel zu dem ganzen Geheimnis bilden.«

Nachdenklich hielt er inne und zog dann Dr. Weathereds Diarium aus der Tasche.

»Zuerst heißt es, eine Liste jener Mitglieder anzufertigen, die auch Patienten waren, Cassilis, und hierbei die durch eine Nummer ergänzten Namen zu unterstreichen. Unter ihnen finden wir vielleicht Zenobia und Salome und möglicherweise auch die Leopardin, obwohl ihr Benehmen eher andeutet, daß sie nicht zu den Patientinnen gehörte. Jedoch kann sie früher einmal Dr. Weathered konsultiert haben.«

Angstvoll hörte ich ihm zu. Wann würde der Name fallen, den ich mit ziemlicher Gewißheit in der endgültigen Liste der Verdächtigen vermutete? Plötzlich aber gab mir Tarleton einen unerwarteten Auftrag.

»Während ich diese beiden Bücher vergleiche«, sagte er, »können Sie das Gästebuch durchgehen. Wer weiß, ob Sie dabei nicht über Ihren eigenen Namen stolpern!« Bemerkten Sir Franks scharfe, graue Augen mein Entsetzen? ... Ich wußte ganz genau, daß mein Name nicht dort verzeichnet stand. Weshalb nicht? würde mein Chef fragen. Und welche Erklärung sollte ich ihm geben? Wenn ich ihm sagte, daß ich unter einem falschen Namen dort gewesen sei, würde er natürlich erwarten, daß ich ihm diesen Namen nannte. Nein, ich mußte ihn sogar nennen, noch ehe ich das Buch aufschlug. Gerechter Gott, nur eine Sekunde hatte ich zur Verfügung, um solch einen schwerwiegenden Entschluß zu fassen! ... Wenn nur mein eigener Ruf oder selbst mein eigenes Leben auf dem Spiel gestanden hätte, würde ich mich Tarleton auf Gnade und Ungnade ausgeliefert haben. Aber mir waren die Hände gebunden – vor allem jetzt, da die Spitzel der Polizei eifrig umherschnüffelten, um die Besitzer der Kostüme, die Gerard uns beschrieben hatte, aufzuspüren.

»Ich glaube nicht, daß ich meinen Namen hier finden werde«, sagte ich heiser und schlug die erste Seite auf.

»Warum nicht?« Prompt wie ich erwartet, kam die Frage.

»Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, bediente ich mich eines Decknamens, der mir vielleicht noch wieder einfällt. Ich mißtraute dem ganzen Rummel dort und wollte nicht, daß mein Besuch bekannt würde. Der Name, dachte ich, ist doch schließlich eine bloße Formsache.« Fieberhaft glitten meine Augen während dieser unwahren Rede über die Seiten und suchten nach einem Namen, der zu Dutzenden vorkommt. »Ah, ja – jetzt entsinne ich mich: Carter.«

Ich legte meinen Zeigefinger auf eine neun Monate alte Eintragung, die besagte, daß ein Mr. Robert Carter von einem Hauptmann Smethwick eingeführt worden sei.

Zu meiner Erleichterung nahm Tarleton die Erklärung willig hin. »Da drin wird es wohl noch viele Namen geben, die ebenfalls Erfindung sind«, lächelte er gutmütig. »Sehen Sie mal nach, unter welcher Flagge der Prinz gestern nacht segelte.«

Nun, das ließ sich schnell feststellen. Ein Graf Donau war von dem Legationsrat der lavonischen Gesandtschaft eingeführt worden.

»Sonst keine Gäste?«

Ich las ein oder zwei männliche Namen, doch Sir Frank fiel mir ins Wort:

»Keine Damen?«

Auch zwei weibliche Gäste waren vermerkt, deren Namen ich ohne Furcht vorlas. Lady Greatorex und Mrs. Antrobus.

Augenblicklich schenkte mir mein Chef wenig Beachtung. Er beschäftigte sich mit seinem Vergleichssystem, und mit wachsender Sorge sah ich, wie er Namen nach Namen auswählte.

»So, jetzt habe ich hier achtunddreißig Leute, die gleichzeitig Patienten Weathereds und Mitglieder des Klubs waren«, erklärte er nach Ablauf einer halben Stunde. »Und ausnahmslos waren sie zuerst Patienten. Es muß jedem einleuchten, daß er den Klub ihretwegen ins Leben rief, das heißt, um sie unter seinem Einfluß zu halten und sie in denselben Neigungen zu bestärken, von denen er sie zu erlösen vorgab. Dieser Mann ist ein moralisches Ungeheuer gewesen. Wenn Satanas je auf Erden ein tätiges Werkzeug besaß, so war es dieser Weathered. Und ich bezweifle, daß das Gesetz ihn hätte packen können.«

»Dann kann das Gesetz auch sehr gut darauf verzichten, sich um sein Schicksal zu kümmern«, erwiderte ich. Aber mein Chef wiegte sein graues Haupt.

»Das kommt darauf an, Cassilis. Zuerst muß das Gesetz sich über sein Schicksal klar werden. Und vorderhand wissen wir weder, wie er starb, noch durch wessen Hand, noch aus welchen Gründen.«

»Deutet nicht alles darauf hin, daß sein Tod mehr oder weniger ein Unglücksfall war, Sir Frank?«

»Im Gegenteil. Mir scheint alles darauf hinzudeuten, daß es ein wohl überlegter, reiflich bedachter Mord war.«

Ich japste entsetzt auf. Und während das Wort Mord noch in meinen Ohren dröhnte, klingelte hell die Telephonglocke.

Bei unserem hastigen Aufbruch frühmorgens hatte ich versäumt, den Apparat nach unten umzuschalten. Infolgedessen raste ich, dankbar für die Unterbrechung dieser qualvollen Unterhaltung, treppauf nach meinem Schlafzimmer. Der Anruf kam von Inspektor Charles, der gerade den Bericht eines seiner Untergebenen erhalten hatte.

»Der Lieferant des Salomekostüms ist gefunden worden«, hörte ich über den Draht. »Es wurde vor zwei Tagen an Miß Betty Neobard, Warwick Street, Cavendish Square, geschickt.«


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