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4

»Doktor Weathered«, wiederholte Captain Charles langsam. »Nun, ich glaube, wir dürfen ohne weiteres annehmen, daß dies Wilsons wirklicher Name ist.«

»Unbedingt«, pflichtete ihm mein Chef bei. »Was denken Sie, Cassilis?«

Ich bemühte mich, einen streng abwägenden Ton anzuschlagen.

»Hier ist ein Mann ohne Schlüssel, und dort sind Schlüssel ohne den Mann. Schon das allein läßt wenig Raum für Zweifel. Außerdem stimmt alles mit der Erscheinung des Toten überein. Ein Arzt des eleganten Westens müßte so und nicht anders aussehen. Und ferner würde niemand besser in der Lage sein als er, um einem Klub dieser Art gut situierte Gäste zuzuführen.«

»Das alles ist sehr schön«, meinte Charles. »Aber nachdem wir hier allerhand über Wilsons Angst vor Feinden gehört haben, entpuppt sich das Ganze als ein schlichter Einbruch.«

Tarleton blickte mich fragend an, worauf ich wortlos die Achseln zuckte. Ich hatte eine äußerst heikle Rolle zu spielen. Einerseits wünschte ich nicht, daß mein Chef mich für beschränkt hielt; andererseits zitterte ich davor, meinen tieferen Einblick in das Mysterium zu verraten. Zum Glück für mich schien Sir Frank meine Zurückhaltung zu billigen.

»Wir werden klarer sehen, wenn wir uns nach der Warwick Street begeben«, sagte er zu dem Kriminalbeamten. »Von dort können wir ein Mitglied des Haushaltes nach hier senden, um den Toten zu identifizieren.«

Natürlich machte keiner von uns beiden eine Einwendung. Und so wurde der Leichnam der Obhut eines Polizisten anvertraut, der strengen Befehl erhielt, ohne schriftliche Erlaubnis von Sir Frank oder Inspektor Charles niemanden sich nähern zu lassen.

»Seltsam, daß ich nie von einem Dr. Weathered gehört habe!« verwunderte sich Tarleton, als wir in seinem Wagen nach der Wohnung des als vermißt gemeldeten Arztes fuhren. »Er war doch offenbar ein Mann mit reichlichem Einkommen. Einen solchen Kollegen pflegt man doch wenigstens dem Namen nach zu kennen. Haben Sie je von ihm gehört, Cassilis?«

Was antworten? Eine glatte Lüge zu sagen, erkühnte ich mich nicht, und die reine Wahrheit durfte ebenfalls nicht laut werden. Also wieder halbe Ausflüchte!

»Ja, ich habe den Namen schon gehört«, entgegnete ich gedehnt, um Zeit für eine möglichst einleuchtende Antwort zu gewinnen. »Von einem seiner Patienten, im Verlauf einer vertraulichen Mitteilung, so daß ich eigentlich zum Schweigen verpflichtet bin.«

Schon hob mein Chef abwehrend die Hand.

»Kein Wort mehr darüber«, gebot er zu meiner unsagbaren Erleichterung. »Was einem Arzt anvertraut wurde, ist meiner Ansicht nach ebenso heilig wie die dem Priester abgelegte Beichte. Ich hoffe, Sie werden meinen Standpunkt verstehen, Inspektor Charles. Bitte, dringen Sie nicht weiter in Dr. Cassilis.«

Mir wollte es scheinen, als ob sich der Detektiv nur widerstrebend fügte. Und gleichzeitig lebte offenbar die ursprüngliche Abneigung gegen mich wieder in ihm auf. Hin und wieder streifte er mich mit einem verstohlenen Blick, als überlegte er, ob es klug von ihm sei, in solch zweifelhafter Gesellschaft zu bleiben.

Dann hielt der Wagen vor einem eleganten Hause in einer eleganten Straße, die von Hofärzten und ähnlichen Leuchten des ärztlichen Berufs, vor denen mein eigenbrötlerischer Chef eine recht mäßige Achtung hatte, bevorzugt wurde. Das Haus war hell angestrichen, und in den Blumenkästen der Fenster blühten scharlachrote Geranien und blaue Lobelien. Das Messingschild an der Tür funkelte wie eitel Gold, und die Stufen blendeten in ihrer schneeigen Weiße.

Der Mann, der uns die Tür öffnete, paßte mit seinem eigenen Äußern zu der Fassade des Hauses. Jung, frisch, glattrasiert, sorgfältig gebürstetes Haar, sauberer, gutsitzender Anzug. Das Gesicht war das eines harmlosen Jünglings, unfähig, von seinem Herrn oder den Patienten seines Herrn Schlimmes zu argwöhnen. Die Nervosität, mit der er uns empfing, wurde sicher nur durch die unerwartete Störung des täglichen Gleichmaßes hervorgerufen. Nein, nichts gemahnte hier an trübe Berufsgeheimnisse und unheilige Konsultationen. Inspektor Charles nannte sowohl seinen Namen und Titel als auch den meines Chefs. Mich selbst hielt er der Erwähnung nicht für würdig. Dann legte Tarleton dem jungen Butler auch schon die erste Frage vor.

»Ist die Polizei bereits hier gewesen?«

»Jawohl, Sir. Der Konstabler hat bei seinem Rundgange gegen fünf Uhr morgens die nur angelehnte Haustür bemerkt und uns hierauf geweckt. Ich äußerte die Vermutung, daß der Herr, der, wie häufig, spät abends fortgegangen war, die Tür bei seiner Rückkehr offengelassen habe. Aber das genügte dem Polizisten nicht. Er verlangte, daß ich hinaufginge und mich nach Dr. Weathered umsähe. Nun, und da fand ich oben ein leeres Schlafzimmer und ein unberührtes Bett. Stutzig geworden, gingen wir sodann in das Sprechzimmer, wo sich der Geldschrank befindet. Seine Türen standen sperrangelweit offen, und der Schlüssel, an dessen Ring das ganze Bund hing, steckte im Schloß.«

»Und was ist entwendet worden?« forschte Tarleton.

»Nichts«, gab der Butler zurück. »Ich meine, soweit wir es beurteilen können«, verbesserte er diese überraschende Antwort. »Wir öffneten die Schubladen, in die der Doktor seine Honorare legt, ehe er sie an die Bank überweist, und sie waren voll – ein Fach voll Scheine, das andere voll Silber. Als niedrigstes Honorar nahm der Herr nämlich drei Guineas«, schloß Simmons mit einem gewissen Stolz.

»Führen Sie uns in das Sprechzimmer«, gebot Sir Frank.

Der Butler gehorchte ohne Zaudern. Mein Herz aber hämmerte so heftig, daß mich – all meinem medizinischen Wissen zum Trotz – die kindische Furcht überfiel, die Gefährten könnten dies wilde Pochen hören. Ich blieb ein wenig zurück und betrat erst nach einer kleinen Weile Dr. Weathereds berufliches Heiligtum, dem nichts Schauriges anhaftete.

Der Raum, in dem er seine Patienten empfing, war so hell und freundlich wie alles bisher Gesehene in diesem Haushalt. Ein schöner Nußbaumschreibtisch trug verschiedene medizinische Bücher und Schriften, die durch eine schöne, rosengefüllte Chinavase ergänzt wurden. Ein Sessel mit gelbem Seidenbezug lud die Patienten zum Niedersitzen ein, und Dr. Weathereds eigener Stuhl zeigte ein glänzendes, weiches Saffianleder. Nur ein einziger Bücherschrank, der eigentlich mehr in ein Wohnzimmer gehört hätte. Eine Marmorgruppe, Eros und Psyche, stand auf ihm, rechts und links von chinesischen Drachen bewacht. An den Wänden hingen in allzu reichlicher Menge zartfarbene Aquarelle, Mädchen und Jünglinge, die in Teichen badeten, oder Szenen von Liebe und Eifersucht darstellend.

Tarleton umfaßte das alles mit dem ihm eigenen schnellen, bohrenden Blick, der durch die Oberfläche hindurch bis in den eigentlichen Kern zu dringen schien. Schließlich blieben seine Augen auf dem Safe haften. Ein über drei Fuß hohes, wie oxydiertes Silber aussehendes Gelaß, verankert auf einem Postament von Ebenholz.

»Sie haben ja, wie ich sehe, abgeschlossen. Wo sind die Schlüssel?«

Die jähe Frage verschüchterte den Butler.

»Miß Betty hat sie«, stotterte er. »Wenigstens nahm sie den Bund an sich, als sie den Schrank abschloß. Vielleicht hat sie es aber inzwischen ihrer Mutter gegeben – Mrs. Weathered.«

Sir Frank riß unwillkürlich die Augen auf. Und ich glaube, Charles und ich taten dasselbe. Daß der Begründer des Domino-Klubs ein verheirateter Mann sein sollte, erschien uns allen ungereimt.

»Wie? Es gibt eine Mrs. Weathered?«

»Aber gewiß, Sir.« Simmons zeigte sich ebenso erstaunt wie wir. »Wollen Sie sie sprechen, Sir Frank? Soll ich Sie melden?«

Man merkte, wie gern er die Unterredung mit uns seiner Herrin aufgebürdet hätte, doch Tarleton hielt ihn mit einer herrischen Geste zurück.

»Noch nicht. Sie haben uns noch nicht gesagt, was sich zutrug, nachdem Sie den offenen Geldschrank gefunden hatten. Benachrichtigten Sie Mrs. Weathered?«

»Das war meine Absicht. Doch ehe ich sie ausführen konnte, kam Miß Betty herunter und traf uns vor dem Geldschrank an. Daher überließ ich alles weitere ihr.«

Wieder machte der Mann eine fluchtartige Bewegung, und wieder hielt ihn mein Chef zurück.

»Was veranlaßte ihr Kommen? Wußte sie, was sich ereignet hatte?«

»Wahrhaftig, Sir, das kann ich Ihnen nicht sagen«, beteuerte Simmons. »Vermutlich ist eines der Mädchen nach oben gelaufen und hat sie in Kenntnis gesetzt. Jedenfalls war Miß Betty zuerst sehr ärgerlich. Sie dachte nämlich, der Doktor sei hastig heimgekommen, um irgendetwas für einen Kranken zu holen, und habe dabei vergessen, den Schrank abzuschließen. Daher schalt sie mit uns. Wir hätten nicht das Recht, in Dr. Weathereds Abwesenheit in seinem Geldschrank herumzuschnüffeln, sagte sie. Und dann nahm sie die Schlüssel an sich und schickte den Polizisten mit der Versicherung fort, daß der Doktor bestimmt bald wieder da sein würde. Doch das war vor vier Stunden, Sir, und noch immer warten wir auf ihn.«

Offensichtlich zieh Simmons im geheimen seine junge Herrin einer übermäßigen Zuversichtlichkeit, und wir, die wir soviel mehr wußten als er, konnten seine Gefühle begreifen. Aber jetzt gestattete ihm Sir Frank zu gehen.

»Das genügt mir«, erklärte er. »Unterrichten Sie Mrs. Weathered von unserer Anwesenheit und bestellen Sie ihr, daß ich um eine baldige Unterredung bitte.«

Als der junge Mann gegangen war, trat Tarleton zu mir.

»Was denken Sie von diesem Zimmer, Cassilis? Welche Art von Krankheiten werden Ihrer Ansicht nach hier behandelt?«

Ich hielt es für besser, den Bildern und der Marmorgruppe einen Blick zu schenken, ehe ich antwortete.

»Keine sehr ernstlichen.«

»Und dennoch zog eine recht ernstliche Folgen nach sich. Oder teilen Sie etwa Miß Weathereds Glauben, daß ihr Vater den Schlüsselbund im offenen Safe gelassen hat?«

Stumm schüttelte ich den Kopf.

»Schnurrig, daß sie sich einmischte, an Stelle der Mutter«, knurrte Captain Charles übellaunig.

Tarleton machte es sich in Dr. Weathereds Schreibtischsessel bequem und ließ seine Uhr langsame Pendelbewegungen ausführen.

»Ich erwarte, noch auf weitere Schnurrigkeiten zu treffen«, erwiderte er träge. »Es ist doch möglich, daß Weathereds Tochter besser über ihn Bescheid weiß als seine Frau.« Dann schoß er plötzlich aus seiner faulen Haltung empor. »Aber ich mißbrauche Ihre kostbare Zeit, Captain Charles. Was hier zu erledigen ist, können Cassilis und ich auch allein besorgen. Nichts weiter, als die Leiche identifizieren und sie – sofern die Behörden den Fall geheimzuhalten wünschen – hierher transportieren zu lassen. Ihrer, Captain Charles, warten wichtigere Geschäfte. Gehen Sie zum Ministerium, und teilen Sie mir hernach den dort gefällten Entscheid mit. Und vergessen Sie bitte nicht die Nachforschungen wegen der Kostüme.«

Der Inspektor stand schon auf der Türschwelle. Er trennte sich sicher gern von uns. Tarleton war eine zu überragende Persönlichkeit, so daß in seiner Gegenwart jeder andere leicht zur Attrappe wurde, worunter Charles' Selbstgefühl nicht wenig gelitten hatte.

»Ich vertraue blindlings seiner Rechtschaffenheit«, sagte mein Chef leise, indem er die goldene Uhr als Wegweiser nach der Tür, hinter der der Detektiv verschwunden war, benutzte, »aber sehr wenig seinem Takt. Und dies ist ein Fall, den man mit zarten Fingern anfassen muß, Cassilis. Wenn diese Leute einen öffentlichen Skandal fürchten, werden sie uns gerade das Unumgänglichste erzählen; und wenn sie merken, daß das Ganze vertuscht werden soll, werden sie uns überhaupt nichts erzählen.« Tarletons Augen schweiften über die Aquarelle. »Ich wünsche nicht, daß Charles die Richtung, die ich einschlage, kennt. Er ist nicht mein Untergebener, ist mir für seine Handlungen keine Rechenschaft schuldig. Es steht ihm frei, hinter meinem Rücken zu seinem höchsten Chef zu gehen, und dieser wiederum kann genau so zu Sir James Ponsonby gehen. Wir müssen schlau und vorsichtig sein, Cassilis.«

Vergebens suchte ich einen Blick aus Tarletons Augen zu erhaschen. Was meinte er mit dieser sonderbaren Warnung? Spielte er auf mein Eingeständnis an, daß ich Dr. Weathereds Namen schon zuvor gehört hätte? Mahnte er mich, dergleichen in Zukunft in Anwesenheit des Inspektors nicht zuzugeben? Beklemmend schnürte mir die Angst die Kehle zu ...

Sir Frank schien meine Qual nicht zu bemerken.

»Sie und ich wissen, daß nicht Weathered sich diese Nacht hier eingeschlichen und wieder fortgeschlichen hat«, fuhr er im Tone des Vertrauens fort. »Und weiter wissen wir, daß der Betreffende nicht um Geld kam. Nicht wahr, Cassilis, ich glaube, wir beide erraten, weshalb er kam ... er oder sie!«

Bei diesen letzten Worten trafen mich seine Augen unerwartet in voller Schärfe, und fraglos hatten sie mein Zusammenzucken gesehen. Aber in derselben Sekunde öffnete sich die Tür. Zwei Damen traten herein, und wir erhoben uns, um sie zu begrüßen.

Mrs. Weathered mochte im gleichen Alter stehen wie der Mann, der jetzt entseelt im Domino-Klub lag, aber sonst hatte sie nichts mit ihm gemeinsam. Ohne eigentlich im beleidigenden Sinne des Wortes vulgär zu sein, hätte sie in Erscheinung und Manieren besser in das Hinterzimmer eines Kleinstadtladens gepaßt als in einen Salon des Londoner Westens. Ihre Züge waren reizlos und plump; ihr graues Haar zeigte keine Spur von der geschickten Hand einer Zofe, und das schicke Kleid offenbarte nur ihre Untauglichkeit, es zu tragen. Solch eine Frau bildete für einen ehrgeizigen Mann, der nach einer Stellung in Londons Gesellschaft verlangte, lediglich einen Hemmschuh. Ein wenig verstand man jetzt Dr. Weathereds Neigung, ein geheimes Leben zu führen, das ihm gleichartigeren, angemesseneren Umgang brachte als seine kleinbürgerliche, spießige Gattin. Nichtsdestoweniger lag etwas Rührendes auf ihrem blassen, verblühten Gesicht, und ihre sanften blauen Augen klammerten sich mit einer jammervollen Ängstlichkeit an uns fest, die mich überzeugte, daß ihr Herz noch immer dem Toten gehörte.

Ihre Tochter glich ihr in keiner Weise. Jung genug an Jahren – ich schätzte sie auf wenig mehr als zwanzig –, waren Gesicht und Gestalt die einer reifen Frau. Und beide mußte man als königlich bezeichnen. Ihr ebenholzfarbiges Haar im Verein mit den dunklen, blitzenden Augen ließen mich an Judith und die tragischen Heroinen der Antike denken, die es trieb, an den Männern, die ihnen Unrecht zugefügt hatten, eigenhändig Rache zu nehmen. Stolz, ernst und mutig trat sie Sir Frank und mir entgegen.

Jedoch die Mutter ergriff zuerst das Wort. Obwohl sie meinen Chef, als den Älteren, anredete, hafteten ihre Augen an mir, als erhofften sie von meiner Jugend mehr Mitgefühl. Ihre Tochter hingegen übersah mich völlig.

»Haben Sie Nachrichten für mich, Sir? Dr. Weathered ist noch nicht zurückgekehrt ... seit er bei Morgengrauen hier war und seine Schlüssel versehentlich steckenließ.«

»Ich glaube, Sie irren sich. Doch ehe ich mehr sage, möchte ich einen Blick in den Safe werfen«, erwiderte Sir Frank.

»Warum? ...« Mrs. Weathereds sanfte Schafsaugen suchten die schöne Tochter. »Es ist doch nichts geraubt worden. Kein Einbrecher hätte das ganze Geld verschmäht.«

»Meine Mutter hat recht«, griff die junge Dame ein.

»Vielleicht war es kein Einbrecher. Der Betreffende muß sogar in der Gesellschaft Ihres Vaters geweilt haben, weil er sich sonst nicht die Schlüssel hätte aneignen können.«

Jäh brauste Miß Betty auf.

»Dr. Weathered ist nicht mein Vater!« rief sie zornig. »Vor fünf Jahren erst hat meine Mutter ihn geheiratet. Ich heiße Betty Neobard.«

Eine Ahnung von dem wahren Sachverhalt stieg in mir auf. Der Tote war eine Ehe mit einer Witwe eingegangen – einer faden, reizlosen –, die eine Tochter besaß, alt genug, um über den Schritt der Mutter zu grollen und es zu zeigen. Alles sprach dafür, daß sie Vermögen gehabt, und daß das Erbe der Tochter zur Bereicherung des Stiefvaters gedient hatte. Ah, nun erriet ich schon die ganze Geschichte. Ein Provinzdoktor mit mehr Hirn als Geld, der eine vermögende Patientin umgirrte, um die Mittel zu erlangen, deren er zur Verlegung seiner Praxis in den luxuriösen Londoner Westen bedurfte. Deshalb wußten weder Tarleton noch ich von besonderen Leistungen seinerseits. Nicht durch wissenschaftliche Verdienste war er emporgestiegen, sondern durch Reichtum und imponierendes Auftreten. Dergleichen Fälle gab es häufiger in der medizinischen Welt!

Jetzt fiel Mrs. Weathered müde in einen Sessel und lud uns durch eine Handbewegung gleichfalls zum Sitzen ein. Doch Miß Neobard, noch immer ein Bild flammender Entrüstung, blieb stehen.

»Ihr Stiefvater also«, verbesserte Tarleton freundlich, ohne von ihrer Feindseligkeit Notiz zu nehmen. »Dr. Cassilis und ich sind über den üblichen Inhalt eines ärztlichen Safes besser unterrichtet als Sie, Miß Neobard, und vielleicht können wir auch besser als Sie beurteilen, ob irgend etwas entwendet wurde.«

»Ich glaube nicht, daß er dort Rauschgifte aufbewahrte – wenn Sie etwa derartiges vermuten sollten!« sagte das junge Mädchen halsstarrig.

Mein Chef ließ das Thema fallen und versuchte jetzt sein Heil bei der Mutter.

»Vielleicht können Sie mir Auskunft geben, ob Ihr Gatte sich auf eine besondere Krankheit oder Klasse von Krankheiten spezialisierte?«

Die blasse Witwe blickte ihre Tochter an, als müsse sie von dieser die Erlaubnis, zu antworten, einholen.

»Ich weiß, daß er sich mit nervösen Fällen beschäftigt«, erwiderte Mrs. Weathered endlich, als Betty Neobard nur spöttisch lächelte. »Er ist Psychiater.«

Den letzten Satz plapperte sie wie einen eingelernten Spruch und erwartete offenbar, daß wir ihn besser verstünden als sie. Doch schon wieder floß Miß Neobards Galle über.

»So nannte er sich anfänglich«, ergänzte sie spitz. »Heute ist er Psychoanalytiker. Frauen kommen und erzählen ihm ihre Geheimnisse, als ob er ein Priester wäre.«

Ein leises Zucken von Tarletons Augenlidern verriet mir, daß diese Auskunft seinen Erwartungen entsprach. Trotzdem behielt seine Stimme den gleichgültigen Klang bei.

»Dann dürfte wohl Miß Neobards Vermutung in bezug auf die Rauschgifte stimmen«, erklärte er. »Indes muß ich Sie dennoch um Dr. Weathereds Schlüssel bitten.«

Die Mutter schwankte augenscheinlich zwischen der Furcht vor uns und der Furcht vor ihrer Tochter, deren Unterstützung sie abermals durch einen hilflosen Blick erflehte.

»Mit welchem Recht verlangen Sie das, Sir Frank? Meine Mutter ist nicht befugt, die Schlüssel ihres Gatten ohne seine Einwilligung fortzugeben. Er kann jeden Augenblick zurückkehren, und dann können Sie Ihr Anliegen ihm selbst vortragen.«

Jetzt mußten wir die traurige Wahrheit enthüllen, denn Bettys Weigerung war durchaus berechtigt, solange sie sich über das Schicksal ihres Stiefvaters im unklaren befand.

»Es tut mir herzlich leid, daß ich der Überbringer schlechter Nachrichten bin«, sagte Tarleton zu der Witwe. »Sie müssen sich auf das Schlimmste vorbereiten, gnädige Frau!«

Schützend legte das Mädchen den Arm um die Schulter Mrs. Weathereds, deren matte Augen schon Tränenströme vergossen.

»Wollen Sie sagen, er sei tot?«

»In einem gewissen Lokal in Chelsea wurde ein Leichnam gefunden, von dem wir Grund haben, zu vermuten, daß es Mr. Weathered ist. Ich möchte eins der Hausstandsmitglieder zwecks Identifizierung der Leiche mit nach Chelsea nehmen.«

Ein Stöhnen brach von den Lippen der Witwe, so daß Betty sie noch enger umschlang. Gleichzeitig zog sie mit der freien Hand ein Schlüsselbund aus der Tasche. »Hier! Und entschuldigen Sie mich, Sir Frank. Ich muß meine Mutter nach oben in ihr Zimmer führen. In ein paar Minuten bin ich zurück und werde selbst mit Ihnen zum Klub fahren.«

Ich beeilte mich, den beiden Frauen, von denen die jüngere fast die ältere trug, die Tür zu öffnen.

»Zum Klub! ...« wiederholte mein Chef, sobald wir uns allein sahen. »Haben Sie es gehört? Ich glaube, daß dieses junge Ding uns, wenn es ihm beliebt, allerhand über den Stiefvater verraten könnte. Und jetzt!« Er schritt zum Geldschrank hinüber, suchte den richtigen Schlüssel heraus und schloß auf. »Was wird wohl fehlen, Cassilis?«

Nichts anderes fehlte als das Buch mit den Krankheitsfällen – das Buch, das die Geheimnisse der Frauen enthielt.


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