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III.

Hendrik spielte noch nicht lange den Redacteur. Erst seit October des vorigen Jahres. Wenn je die Liberalen und Katholiken in Belgien mit einander gekämpft, auf einander geschimpft, einander moralisch und physisch Fußtritte und Rippenstöße versetzt haben, so war es bei den Kammerwahlen im December 1857.

Schon mehrere Monate vorher ging das Geplänkel los, und um bei diesem Vortreffen fechten zu helfen, wurde in Antwerpen eine neue Zeitung gegründet. Es ist das in Belgien ein sehr beliebtes Mittel. Der oder jener reiche Mann will gewählt werden, vielleicht wollen es auch zwei reiche Männer. Abgeordneter sein giebt eine Stellung; wird auch die Kammer aufgelöst, wird man nicht wieder gewählt, so heißt es doch ein für alle Mal, Herr so und so, »ehemaliges Mitglied von der Kammer der Volksvergegenwärtiger.« Diesen Titel kann man sich schon etwas kosten lassen.

Ein reicher Antwerpner nun hatte es sich zwanzigtausend Franken kosten lassen, um das Journal »die Constitution« zu gründen. Zum Hauptredacteur – denn Hendrik war nur zweiter – hatte man einen Mann ausersehen, der sich als »Volksdichter« bekannt gemacht. Ein Volksdichter ist einer, der theils lose lustige Lieder macht, welche in den Estaminets Das Estaminet war eine traditionelle Gaststätte, die typisch war für den Norden Frankreichs sowie in Belgien; es kombinierte Café, Kneipe und Restaurant und diente der Bevölkerung als Treffpunkt. und auf den Straßen im Chor gebrüllt werden können, theils in pathetischen Strophen die Könige als Vampyre, das Volk als das unglückliche Opfer, dem das Blut ausgesogen wird, und sich selbst als den ehrlichsten Mann in der Welt schildert, in der Welt, die so verderbt ist, daß sie den ehrlichen Mann, den Volksdichter, nicht anerkennt und folglich nicht zu schätzen weiß. Daraus läßt sich entnehmen, daß der Volksdichter außer seiner Ehrlichkeit nicht viel besitzen kann, und das war auch wirklich der Fall mit Joseph Coppemans gewesen, bevor der reiche Herr ihm die zwanzigtausend Franken und die Redacteurschaft der Constitution anbot. Joseph Coppemans, den ich der Kürze wegen von nun an Jef nennen will, nahm die zwanzigtausend Franken, schrieb sie auf seine Frau, die eben nahe daran war, ihn zum Vater eines vierten Kindes zu machen, schaffte eine Presse an, die er nicht bezahlte, und machte sich an die Constitution. Allein aber konnte er sie nicht redigiren, er sah sich also nach einem Mitarbeiter um. Hendrik war damals Schreiber im Comptoir eines sehr bedeutenden Handlungshauses. Ein Gönner hatte ihn das Athenäum Schultyp in den Niederlanden, in Luxemburg und in Belgien, etwa: ›Oberschule‹. durchmachen lassen. Der Junge hatte Talent, Eifer, den festen Willen, Mutter bald helfen zu können, Mutter, die nach Vaters Tode Tag und Nacht am Waschfaß gestanden hatte, um das Brot für sich und ihre beiden jüngsten Söhne zu verdienen. Der älteste war schon Buchbinder, das Mädchen ging in ein Atelier plätten, aber die Mutter mußte immer noch viel waschen, um das Allernöthigste zu erschwingen. Das sah Hendrik, sah es nicht nur, fühlte es auch, und lernte so gut, daß er mit sechzehn Jahren schon fertig war, Englisch, Deutsch und Französisch verstand, und sogleich einen guten Posten fand. Nun konnte er doch auch Mutter Geld bringen, wie die Schwester schon mehrere Jahre lang that. War Hendrik damit zufrieden! Sein Patron war auch zufrieden mit dem tüchtigen jungen Schreiber, Hendrik konnte auf Beförderung und höheren Gehalt rechnen, da kam Mephistopheles-Jef an, ungekämmt und ungewaschen – darauf hielt er: schmutzige Hände und ungeordnete Haare waren unumgänglich nothwendig zu der Rolle des ehrlichen Mannes, der die undankbare Welt so liebt, daß er ihr um jeden Preis die Freiheit geben will, selbst wenn sie dieselbe nicht verlangt. Wer, der die Freiheit liebte und wollte, wusch sich je? Reinlichkeit ist Weichlichkeit, Jef war ein Mann, folglich stieg er täglich die Schelde entlang, ohne ein einziges Mal daran zu denken, daß Wasser drinnen sei, und daß man sich mit Wasser waschen könne. Hendrik bewunderte den unabhängigen Jef, der auch in seiner Kleidung ein eigenes Gesetz hatte – die braven Männer, welche die Freiheit lieben und wollen, sind stets ihre eigenen Gesetzgeber. Zum Glück hatte Hendrik eine natürliche Neigung für Zierlichkeit, sonst hätte Jef für ihn gefährlich werden können. In Bezug auf seine äußere Erscheinung, mein' ich, denn in Bezug auf die Meinungen war er es, leider; man bewundert nicht ungestraft ein unabhängiges Ungethüm. Der ehrliche Jef hatte während so mancher Abendsitzung im Estaminet Hendrik's Kopf so voller politischer Zündstoffe gestopft, daß Hendrik sich seitdem immerwährend im Zustand einer gefüllten Granate befand. Es war ein Glück, sowohl wie ein Wunder, daß er im Frühling 1857 nicht explodirt war, ohne Bild zu reden, nicht mit großen und kleinen Gassenbuben Steine in die katholischen Fenster geworfen hatte. Wenn sein Patron nicht gewesen wäre, und sein Posten und Mutter, er hätt' es nicht lassen können. Es hatte ihm in den Fingern gejuckt. »Ich habe mich bewunderungswürdig benommen,« pflegte er zu sagen, wenn die Rede auf diese seine passive Heldenthat kam, »ich habe mich damit begnügt zu schreien.« Hendrik sagte das nicht etwa ironisch, nein, er glaubte in allem Ernste dem Staate eine Nachsicht erwiesen zu haben, für welche die Regierung ihm hätte dankbar sein müssen, und auch sicherlich gewesen wäre, hätte sie ihre Verpflichtung nur gekannt. Aber wie konnte sie Hendrik dankbar sein – sie wußte ja gar nicht um seine Existenz. Nicht existiren für die Regierung, der man doch so viele harte Wahrheiten zu sagen gehabt hätte, mußte das einen politischen Brausekopf von dreiundzwanzig Jahren nicht zur Verzweifelung bringen? Hendrik war also nur allzubereit für die Verführung, als Jef bei Gersten und Tabak – Hendrik rauchte, leider, und sogar aus einer der kleinen weißen Thonpfeifen, welche zu einem modernen Anzug so wunderlich lassen – als Jef, sage ich, den Hut auf dem Kopf – Jef hatte immer und überall den Hut auf dem Kopf, er betrachtete das ebenfalls als eine Unabhängigkeitsmanifestation – wohl, als Jef sich daran machte, mit seiner Ehrlichkeit Hendrik zu übertölpeln.

»Junge,« sagte er in dem reinsten, d. h. dem unverständlichsten Antwerpner Dialekt, denn Jef setzte auch darein eine Ehre, nie rein vlämisch zu sprechen, »Junge, was wollt Ihr Euer ganzes Leben da sitzen und rechnen? Ihr entwürdigt Euch, denn Ihr seid im Dienste des Geldes. Ihr müßt in den der Intelligenz treten. Werdet Journalist. Der Journalist ist der Herr der Jetztzeit. Die Presse ist die eigentliche Macht des Jahrhunderts. Wollen wir sie nicht anwenden, he, Junge? Wollen wir's den Schwarzröcken nicht eintränken, daß –« jetzt folgte eine Litanei von allen Anmaßungen, welche der Klerus gehabt hatte, noch hatte und noch haben würde. »Soll das Ministerium nicht bereuen, daß es mich abgesetzt hat?« Jef hatte früher, ich weiß nicht, welchen unschuldigen kleinen Posten bekleidet, hatte, ohne allen Begriff von den Pflichten eines Beamten, den die Regierung bezahlt, aufrührerische Reden gehalten, Spottverse auf den König gemacht und war ruhig abgesetzt worden, sogar ohne Erlaubniß zu einer hochtönenden Vertheidigung oder vielmehr zu einer sehr unpassenden Erklärung zu erhalten, welche er sich ausstudirt hatte. Jef prahlte zwar allenthalben von dem Eindruck, welchen seine Rede auf die Richter gemacht, aber man wußte es allgemein, daß ihm das Wort im Munde abgeschnitten worden war. Folglich steckte ihm die Rede noch in der Kehle, und er bereitete sich mit einem innern Triumphe darauf vor, sie in so und soviel Artikeln in der Constitution loszuwerden. Hendrik war mächtig ergriffen – was konnte er als zweiter Redacteur bei einem liberalen Blatte nicht für Belgien, für die vlämische Sache, ja, für die Sache der ganzen Menschheit wirken? O das mußte »überherrlich« sein, aber – Mutter, das Gehalt – Hendrik war groß, brauchte mehr, als er gebraucht, da er noch ein kleiner Junge war, konnte doch Mutter nicht mehr für ihn waschen lassen, und sie so alt schon! Wahr ist es, der jüngste Bruder, welcher Vaters Gewerbe, die Buchdruckerei, erlernt hatte, verdiente jetzt auch schon zwei Franken täglich, und die Schwester anderthalb, aber wenn Hendrik länger Nichts beitrug, war es doch nicht genug für eine Familie von vier Personen. Der ältere Bruder war verheirathet, hatte zwei Kinderchen, der konnte Mutter nichts geben. Und dann – sollte Hendrik sich von der Schwester und von dem Kinde, dem jüngeren Bruder, unterhalten lassen? Es ging nicht. »Es ist sehr Schade, Jef, aber es will sich nicht thun lassen,« lautete der Schluß, zu welchem der arme Hendrik gelangte, der mit der Constitution so gern Sturm gegen die verderbte Welt gelaufen wäre; der Sohn war stärker in ihm, als der politische Enthusiast. Jef, der hier eine einfache natürliche Tugend in seinem Wege fand, suchte sie nicht wegzuräumen, dazu war er zu schlau. Wie konnte er Hendrik zureden, nicht an Mutter zu denken, Jef, der jeden Monat wenigstens ein Mal über das Glück declamirte, arm, ehrlich und Familienvater zu sein! Er lobte im Gegentheil den guten Hendrik, billigte seine kindlichen Bedenklichkeiten und bot ihm dann ebenso viel wie sein Patron ihm gab. Hendrik war halb überredet, aber ein letzter Funken von Vorsicht glimmte doch noch durch die Berauschung, welche ihn umnebelte. »Habt Ihr's aber auch, Jef?« fragte er. »Ich weiß wohl, daß Ihr mir's geben wollt – aber könnt Ihr's auch?« Jef fing an, zu prahlen. Was für Männer hinter ihm und der Constitution standen – nun, er wollte Nichts sagen, aber konnte Hendrik sich nicht auf ihn verlassen? War Jef nicht bekannt? Och! och! Ganz betäubt sah Hendrik eine Zukunft voll Ruhm und Gold vor sich, gab Wort und Handschlag und war zweiter Redacteur der Constitution.

Am nächsten Morgen kam mit der geistigen Nüchternheit das unangenehme Bewußtsein, den gefaßten Entschluß sowohl dem Patron, wie Mutter mittheilen zu müssen. Hendrik that es wie ein braver offener Mensch, der nie hinter dem Berge hält. Er sagte es ohne Umschweife und ohne Entschuldigungen, zuerst dem Patron, dann Mutter. Der Patron sah sehr mißbilligend darein, er hatte seinen jungen Schreiber wirklich gern, er suchte ihn von dem Schritt, den er in ein neues Feld thun wollte, väterlich abzureden. Jef war bekannt, darin hatte er ganz Recht, nur anders, als er meinte. Man traute ihm Talent zu – das besaß er, aber man glaubte nicht an die Grundsätze, die er nicht hatte. Im Allgemeinen sind die Urtheile der Welt gerechter, als man es ihr zugestehen will, so lange man noch jung ist. Dann nimmt man unfehlbar Partei gegen sie für den Einzelnen, für den Schwachen gegen die Stärke. Jeder junge Mann, der später etwas taugen und leisten soll, fängt damit an, Don Quixote zu spielen. Hendrik vertheidigte seinen Jef sehr warm gegen seinen Patron, der zuletzt mit einem bedauernden Lächeln sagte: »Wohl, wenn Ihr's wollt. Nur wünsche ich, daß Ihr nicht einst bereuend an mich denken mögt.« Bei Mutter kam Hendrik gleich damit heraus, daß er's Jef versprochen hätte und doch Wort halten müsse. Die Geschwister – Hendrik aß damals noch mit der Familie – fanden es sehr schön, daß ihr Bruder Journalist werden sollte. Es würde ihm ein Ansehen geben, meinten sie. Was sollte Mutter thun? Sie begnügte sich, stillschweigend den Kopf zu schütteln, wie es ihre Art war, wenn ihr etwas einleuchten sollte und nicht einleuchten wollte. Am Abend, als der künftige Redacteur seiner großen Zukunft entgegenschlief, und Trees und Toon ihm, wenigstens im Schlafen, Gesellschaft leisteten, saß Mutter noch vor dem Herde, wo noch einige Kohlen glimmten. Die alte Frau weinte, Hendrik's Entschluß machte ihr Kummer und Sorge, aber sie hatte nicht weinen wollen, daß Hendrik es sähe. Warum seine Freude stören, seine Hoffnung niederschlagen?


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