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XI.

Die Mama ließ den jungen Mann öfter kommen, und sogar recht oft. Sie wäre auch sehr thöricht gewesen, wenn sie es nicht gethan hätte. Hendrik war es, dem Mutter und Tochter zu verdanken hatten, daß sie schon nach wenigen Wochen in Antwerpen eingerichtet und bekannt waren. Die Vlamingen sind im Ganzen hülfreich und dienstbereit, und Hendrik insbesondere war der willigste, gutmüthigste Mensch, den man sich wünschen konnte. Wenn man überall seinesgleichen fände, würde man als Fremder nicht oft monatelang sich wie verloren und verlassen fühlen. Er wußte am Werft eine Wohnung ausfindig zu machen, in welcher sich ein Atelier einrichten ließ, er entdeckte ein Mädchen, welches das Nothwendigste kochen konnte und zugleich etwas Französisch verstand, er führte die beiden Frauen herum zu den Künstlern und brachte ihnen einige seiner jungen literarischen Freunde, genug, in kürzester Zeit hatten sie, so gut es in der Fremde geht, ihren eigenen Herd, konnten an einer oder der andern Thüre schellen, ohne fürchten zu müssen, daß man nicht zu Hause sein werde, und wurden auf der Straße bisweilen gegrüßt. Und das Alles war lediglich Hendrik's Verdienst, denn der Deutsche, auf welchen sie am ersten Tage gehofft hatten, schien ein für allemal in England bleiben zu wollen, sowie seine Frau ein für allemal leidend blieb. Wären die Herrmann's schon erfahrener als Reisende gewesen, so würden sie sich nichts Anderes erwartet haben, jetzt wunderten sie sich nicht wenig über diesen geringen Grad von Landsmannschaftlichkeit, und waren Hendrik um so dankbarer.

Helene hatte sich der Dankbarkeit nicht entziehen können. Wenn Hendrik nie kam, ohne guten Rath zu ertheilen, oder irgend einen freundlichen Vorschlag zu thun, wie hätte das junge Mädchen das rasch entstandene Vorurtheil gegen ihn behaupten können? Sie legte es bei Seite und ergab sich darein, Hendrik verpflichtet zu sein. Nicht daß sie die Stirn nicht noch immer zusammengezogen hätte, wenn seine Gesinnungen gegen die ihrigen stießen, aber wenn sie darunter auch litt, so grollte sie ihm doch nicht mehr. Sie beklagte ihn nur, daß er, sonst so empfänglich für alles Edle und Schöne, die freudige Aufopferung für das Vaterland nicht begriffe. Selbst als sie allmälig einsehen lernte, daß in Belgien die Nationalität erst in der Bildung begriffen sei, und folglich der Patriotismus noch nicht angeboren und instinktiv sein könne, selbst da fand sie, daß Hendrik seinem Lande eigentlich voraus sein müßte. Wenn Helene sich nicht vollkommen sicher in der Kälte geglaubt hätte, welche sie bisher den Männern gegenüber von sich selbst gewohnt gewesen war, sie hätte über diesen ungehörigen Anspruch, welchen sie an Hendrik machte, erschrecken müssen. Sie war durch Lesen bekannt genug mit der Leidenschaft, um zu wissen, daß man nur von denen, welche man liebt oder lieben soll, mehr verlangt, als eigentlich billig ist. Aber sie war es sich nicht bewußt, daß sie Hendrik Van Loon auf diese bedenkliche Weise auszeichnete. Sie dachte überhaupt jetzt viel weniger nach, als es ihr eigen war. Sie lebte, geräuschlos und verschlossen, wie bei ihr Alles geschah, doch deßhalb vielleicht um so intensiver.

Daß der junge Antwerpner einen so raschen Eindruck auf dieses bisher so in sich gekehrte Mädchenwesen machte, war leicht erklärlich. Sie war noch nie in Berührung mit einer poetischen Natur gekommen, welche zugleich unbefangen gewesen wäre. In Deutschland ist die Naivetät mit der Schriftstellerei nicht mehr vereinbar. Das Selbstbewußtsein tritt mit dem ersten Federstrich ein. Ich möchte solch' ein Kind wie Hendrik Van Loon in Berlin oder in Leipzig sehen. Helene stellte sich ihn manchmal zwischen den Literaten vor, die sie kannte, und dann lächelte sie wie bei einer Szene voll feiner Komik. Sie hatte sich bei den Geistkomödien, welche um sie her gespielt worden waren, immer so passiv verhalten, daß sie Kühle und Zeit zur Beobachtung gehabt hatte. Wie es bei ihrer geistigen Gesundheit nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte sie einen tiefen Widerwillen gegen sämmtliche literarische und geniale Koketterien gefaßt. Hendrik kokettirte nie, oder doch wenigstens wie ein Jüngling, nie wie ein Literat. Er sprach z. B. nie von seinen Nerven, obgleich er welche hatte. »Wahr durch und durch,« zu diesem Schluß gelangte Helene, nachdem sie ihn einige Monate lang still beobachtet und gegrüßt hatte.

»Wahr durch und durch.« Hendrik pflegte, wenn ihm etwas recht gefiel, mit glänzenden Augen auszurufen: »Och, das ist lieb!« Das hätte Helene von ihm sagen mögen, d. h. nur ganz heimlich in ihrer Seele. Gleichsam lispelnd. Sie that es nicht, sie begnügte sich, blos, das von ihm zu denken, was sie allenfalls auch hätte laut sagen können.

Wenn sie es nicht sagte, so war das nur, weil sie ihre Mutter kannte. »O, o Lenchen!« würde die Hofräthin bei einer solchen Aeußerung ausgerufen haben, »was für ein Lobspruch! Nun weiß ich doch, was dazu gehört, um Gnade vor Deinen Augen zu finden. Man muß ein Dichter sein, der nicht deutsch schreibt.« Dergleichen Aeußerungen wollte Helene vermeiden, darum sprach sie immer nur mit sehr sparsamer Anerkennung von Hendrik, und es war einzig und allein, »um mit den Leuten sprechen zu können,« daß sie Vlämisch lernte. Auch als sie es verstand, waren Hendrik's Lieder keinesweges unter den ersten Büchern, welche sie las, obgleich unser junger Dichter, der sein Erstlingswerk noch gern verschenkte, ihr ein sehr schön gebundenes Exemplar überreicht hatte. So bescheiden er war, so ärgerte es ihn doch, wenn sie auf seine neugierigen Fragen, wie das oder jenes Lied ihr gefallen habe, immer antwortete: »Ich fürchte, Gedichte noch nicht verstehen zu können.« Sie hätte das Buch lesen können, ohne es einzugestehen, aber Helene verachtete die Lüge dermaßen, daß sie sich nie freiwillig in die Nothwendigkeit versetzt haben würde, eine sagen zu müssen. Und Hendrik durfte doch um alles in der Welt nicht ahnen, daß sie eigentlich nur um seine Lieder zu lesen Niederdeutsch gelernt hatte.

Er wollte indessen mit aller Gewalt von ihr als Dichter gekannt sein. Seine arme Eitelkeit wurde aufrührerisch. »Sie haben nun schon so viel gelesen, daß Sie ein Lied von mir verstehen müssen,« sagt er ihr eines Abends.

»Poesie noch immer nicht,« antwortete Helene. Sie saß am Fenster, welches offen stand, die Schelde flimmerte in den letzten Sonnenstrahlen des langen Julitages, die lebendige Abendbewegung am Werft rauschte und schallte in das Zimmer, an dessen anderem Ende die Hofräthin vor einer eben entworfenen Skizze saß.

Hendrik sah schmeichelnd und überredend aus, ungefähr wie wenn er Mutter zu etwas bringen wollte, wozu sie nicht recht geneigt war. Als er nach jenem Abendspaziergang mit Rien Mutter beichtete, »daß es nicht blos beim Wandeln geblieben sei,« da hatte er dieses Gesicht gemacht.

Helene lächelte. Sie lächelte jetzt oft, wenn sie mit Hendrik sprach. Hendrik fand meistens, daß sie »sehr lieb« sei. Nur bisweilen zog sie sich noch vornehm und abweisend in sich selbst zurück, und dann wurde er unsicher und unruhig. Doch heute bei dem Anblick des Blättchens, welches verschämt und verstohlen aus Hendrik's Westentasche zum Vorschein kam, lächelte sie mit der freundlichsten Nachsicht. »Ich hab' es im vorigen Winter gemacht,« sagte er entschuldigend, indem er das Blättchen entfaltete, »damals fand ich es wunderschön. Ich muß Ihnen ein Bekenntniß ablegen: wenn ich ein Gedicht eben gemacht habe, find' ich es immer wunderschön, und drei Tage später da weiß ich nicht, ob ich es nicht in's Feuer werfen soll.« Hendrik war ganz überzeugt, daß nur ihm allein das begegne.

Helene belehrte ihn eines Bessern. »Allen wirklichen Dichtern geht das so,« sagte sie altklug, als hätte sie wer weiß wie viele wirkliche Dichter kennen gelernt. »Aber wenn Sie über dieses Gedicht besonders ungewiß sind und es durch den Eindruck zu prüfen wünschen, den es auf mich machen. dürfte, so bin ich gern bereit, zuzuhören. Nur tragen Sie es mir nicht nach, wenn ich noch nicht weit genug sein sollte, Alles zu verstehen.«

»Sie haben die Uebersetzung des Faust gelesen!« rief Hendrik.

»Mit dem Original daneben,« bemerkte sie. »Doch wollen Sie nun anfangen?« fragte sie dann rasch, als hätte sie einen plötzlichen Entschluß gefaßt.

Helene war, trotz ihrer seltenen Charakterentwicklung, doch immer nur ein junges Mädchen, und Hendrik gegenüber innerlich weder stark, noch klar. Es wird sie nicht heruntersetzen, wenn ich für sie eingestehe, daß sie in dem Andringen Hendrik's, ihr sein Lied vorlesen zu dürfen, den Wunsch, ihr ein Geständniß in Versen zu thun, nicht geradezu annahm, aber doch halb ahnte. Das arme Kind, es war gut, daß sie, um besser zuhören zu können, die Stirne in die rechte Hand gesenkt hatte, denn bei den ersten Worten schon fühlte sie, daß Hendrik dieses Lied nicht an sie gerichtet haben könnte. Und doch war es ein schönes Lied, welches Hendrik jetzt mit etwas bewegter Stimme hersagte:

Ich kam um Gnade Dich zu fleh'n,
Um Dich zu seh'n – ich sah Dich wieder,
Doch Du, Du schlugst die Augen nieder,
Und bleich und sprachlos blieb ich steh'n.
Kein Blick, kein Roth auf Deinen Wangen,
Kein Wort – Dein Herz blieb kalt und stumm –
Ich bebt' und glühte vor Verlangen,
Du gingst vorbei, sahst nicht Dich um.

Ich lieb' Dich noch, wenn gleich den Eid
Du brachest, den Du mir geschworen;
Hast das Gedächtniß Du verloren,
Bei mir ist's wie zu alter Zeit.
Ich wollte meinerseits Dich lassen,
Und, Dir entflohen, glücklich sein,
Ich wollte Dich vergessen, hassen,
Doch ach, mein Herz, es sagte Nein.

Ja, ohne Frucht hab' ich gestrebt,
Aus meiner Brust Dich zu vertreiben,
Mein Ideal wirst stets Du bleiben,
Auch wenn mir keine Hoffnung lebt.
Und drückten gleich die schönsten Frauen
An Brust und Lippen mich voll Glut,
Ich stände kalt sie anzuschauen,
Und brennte noch so heiß mein Blut.

O nur noch einmal heiße mein,
O nur noch einmal laß' Dich küssen!
Und solltest Du gleich lügen müssen,
Sprich doch: ich werde glücklich sein.
Sag', daß Du Alles willst vergessen,
Und auf den Knieen dank' ich Dir,
Und einst vielleicht – wer kann's ermessen? –
Kommt auch Dein Herz zurück zu mir.

Als Hendrik mit erhöhter Stimme geendigt hatte, erhob Helene sich aus ihrer Stellung, welche die des gesammelten Horchens gewesen war. Die Hand auf ihrer Stirne hatte nicht gezittert, kein Athemzug war lauter geworden als gewöhnlich. Etwas blaß war Helene, doch im Dämmerlicht des Abends sah man das nicht. Als sie sprach, klang ihre Stimme klar und leise wie immer.

»Ein schönes Gedicht,« sagte sie. »Schade nur, daß es nicht ohne den Refrain ist, der es schwächt.«

In der That war der Refrain matt gegen das Lied:

Willst Du, Kind, mir wiedergeben,
Was ich unverdient verlor,
Nimm zum Tausch mein ganzes Leben,
Nur sei hold mir wie zuvor.

Helene wiederholte ihn in ihrer noch immer zögernden und unsichern Aussprache des Vlämischen, dann fragte sie: »Hören Sie nicht selbst, wie er gegen das eigentliche Lied abfällt?«

»Es ist wahr,« antwortete Hendrik, immer bereit, jeden gutgemeinten Tadel anzunehmen, »das Lied wäre besser ohne Refrain. Aber ich hab' es nach einer Melodie gemacht und da –«

»Gesungen wird der Refrain weniger stören,« sagte Helene.

»Aber – im Ganzen sind Sie nicht unzufrieden?« forschte Hendrik.

»Ich habe es Ihnen ja bereits gesagt,« antwortete Helene, welche zu den wenigen Frauen gehörte, die Wiederholungen unnütz finden. »Und verstanden habe ich es auch ganz gut,« setzte sie hinzu; »nun kann ich Ihnen versprechen, daß ich morgen Ihre Lieder lesen will.«

Von Cesarine kein Wort. Und doch hatte Helene augenblicklich errathen, an wen das Lied gedichtet war. Hendrik hatte es in der Zeit gemacht, wo er sich, der Poesie halber, überredet hatte, daß Rien ihm »nie wieder ihr Herz schenken werde.« Seitdem war das Lied an seine Adresse gelangt und von Rien sehr gnädig aufgenommen worden. Nicht dankbar, o nein, nur herablassend. Rien ließ sich zu Hendrik herab, und wie eine Person fast immer zu dem Preise angenommen wird, den sie auf sich selbst setzt, wohlverstanden, wenn der Preis ein unverschämt hoher ist, so nahm Hendrik es auch wirklich als eine Ehre an, daß es ihm gestattet sei, Rien wieder zu lieben.

Helene konnte natürlich Rien nicht nach Hendrik's Schätzung annehmen. Rien gehörte zu den Mädchen, welche ihrem eigenen Geschlecht auf's Aeußerste mißfallen, während sie für die Männer im Allgemeinen einen gewissen realen Werth haben. Zu einem Vorwurf der Poesie war sie bisher nur von Hendrik gewählt worden. Er stattete sie mit dem aus, was ihr mangelte, und sah anstatt der Wirklichkeit in ihr nur sein Geschöpf. Vielleicht ist es eben, um verschwenderisch geben zu können, daß die Dichter sich meistens sehr untergeordnete Geschöpfe zu Geliebten wählen. Helene hatte wohl schon öfter gelesen, daß man nie wünschen solle, die Geliebte eines Dichters anders kennen zu lernen, als in seinen Liedern; die Erfahrung davon hatte sie noch nicht gemacht. Da sie persönlich dabei betheiligt war, litt sie durch das Erfahren, obgleich sie erst allmälig fühlen sollte, wie herb. In diesem Augenblicke nahm sie noch alle ihre Kraft zusammen, um sich gegen das demüthigende Gefühl zu stemmen, wie sehr sie sich getäuscht, als sie in Hendrik's Versen eine Erklärung für sich erwartet hatte. Und nicht während des Kampfes, erst wenn er aufgehört hat, fühlt der Streiter, wie seine Wunden brennen.

Auch in der Nacht, wo sie, während die Mutter schlief, Hendrik's Lieder las, weinte Helene noch nicht. Eine unerwiederte Neigung brauchte bei ihr längere Zeit, um sie mürbe zu machen und zu beugen. Es waren schöne Springfedern des Widerstandes in Helenens Natur. Sie las aufmerksam, und, wenn gleich einigermaßen gespannt, so doch mit Ruhe. Von einem Liede dachte sie sich, daß es ebenfalls an Cesarine sein möge; es war das, in welchem Hendrik die neue lebendige Liebe abwehrte, um der armen Todten treu zu bleiben. Melanie war hierin Maria genannt, Helene hatte noch nichts von diesem Jugendschicksal Hendrik's gehört: von wem sollte sie erforschen, wer Maria sei? Sie sann nach; plötzlich nickte sie leicht mit dem Kopfe. »Ich will Herreyns fragen,« dachte sie.


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