Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XX.

» 'Ne zalige, zulle!« das ist der Gruß, mit welchem man sich zu Antwerpen und auch anderswo in Vlämisch-Belgien zu den hohen Festen, d. h. Ostern, Pfingsten, Allerheiligen und Weihnachten, hauptsächlich aber zu Neujahr begrüßt. Ne zalige heißt »ein seliges«, Fest darunter verstanden, zulle – ja, was heißt zulle, auszusprechen Sülle oder Selle? Die Vlamingen, die ich befragt habe, wußten es nicht; sollte ich es später noch in Erfahrung bringen, werde ich die Entdeckung bekannt machen. Gewiß ist es, daß es am Ende fast jeder Phrase so unvermeidlich ist, wie das n'est-ce-pas im belgischen Französisch, nur daß es weniger aufstachelnd auf die Nerven wirkt. Kann einen das n'est-ce-pas, wenn man es ungefähr dreißig Mal in einer Viertelstunde vernimmt, bis zur Verzweiflung bringen, so hört man dagegen das zulle, als hörte man es nicht, vielleicht, weil es gar keine Bedeutung hat. Es den Reden meiner Vlamingen anzuhängen, habe ich für unnöthig erachtet, man möge ein für alle Mal annehmen, daß es bei der Beendigung von acht Sätzen unter zehn unwillkürlich ihren Lippen entgleitet.

Außer daß man sich 'ne zalige, zulle, wünscht, besucht man auch im Laufe des Neujahrstages die Häuser seiner Verwandten, Freunde, Gönner und Bekannten, küßt alle Welt, alt wie jung, weiblich wie männlich, und trinkt in jedem Hause ein Glas Wein auf das Wohl der Bewohner. Wer mit verwandten und befreundeten Häusern sehr reich gesegnet ist, läuft Gefahr, den ersten Abend im neuen Jahr mit etwas unklaren Blicken anzusehen.

Hendrik, der ein geselliger Mensch war, hatte viel Neujahrsbesuche abzustatten. Den letzten wollte er bei den Herrmann's machen, den vorletzten bei Frau Veydt. Am Ende, die Frau konnte doch nicht dafür, daß ihre Nichte ihm so ungebührlicher Weise einen Korb gegeben hatte. Zu den Herrmann's wollte er darum zuletzt, weil er, nachdem er Helene geküßt – das zu thun hatte Hendrik sich entschlossen gelobt – kein anderes Mädchen mehr küssen wolle.

War es denn also, seitdem er nicht mehr an Cesarine gebunden war, anders zwischen ihm und Helenen geworden? Nein, sie hatten sich kaum gesehen, noch weniger gesprochen, und auch dann noch stets mit Zurückhaltung von Helenens, mit Verlegenheit von Hendrik's Seite. Aber in Hendrik war viel anders geworden.

Es dunkelte bereits stark, als er zu Frau Veydt kam. Sie war mit Cesarinen allein, die Besucher waren alle schon dagewesen. Hendrik empfand nicht die mindeste Befangenheit, als er zum ersten Male seit jenem merkwürdigen Sonntagsmorgen wieder in das bekannte Zimmer eintrat. Mit Herzlichkeit umarmte er Frau Veydt, dann näherte er sich Cesarinen, und küßte sie mit ruhiger Höflichkeit auf die Stirn. Sie antwortete Nichts auf seinen Neujahrsgruß, sie lief hinaus in die Küche.

Hendrik setzte sich, ohne ihre Entfernung weiter zu bemerken, zu der Tante und schwatzte ihr lustig vor. Sie waren Beide in lustigem Lachen begriffen, als Edward hereinkam, der bis jetzt auf Besuchen aus gewesen war. Hendrik und er hatten sich bereits gesehen, also bedurfte es zwischen ihnen keines: 'ne zalige, zulle. Edward setzte sich auch, und das Gespräch ging munter fort, als Cesarine wieder hereinkam. Sie sagte auch jetzt kein Wort, sondern blieb seitwärts am Tische stehen. Die Tante hieß sie Hendrik ein Glas Wein anbieten, sie goß eines voll und brachte es dem jungen Mann auf einem Teller. Das Glas klirrte gegen den Teller, als zitterte die Hand, welche diesen hielt. Die Tante sagte ziemlich scharf: »Wirf nur das Glas nicht hin.« Als Cesarine glücklich bis zu Hendrik gelangt war und ihm den Teller hinhielt, blickte er, indem er das Glas nahm, natürlicher Weise zu ihr auf und sah, daß ihre Augen ganz verweint waren. Ohne jedoch zu thun, als bemerke er irgend etwas Besonderes an ihr, dankte er ihr sehr höflich, trank auf ihre Gesundheit und sprang dann auf, um das Glas wieder auf den Tisch zu stellen. Einmal auf den Füßen, wollte er sich nicht wieder setzen, sondern empfahl sich. Edward begleitete ihn hinaus und hielt ihn an der Treppe auf. »Habt Ihr's gemerkt?« fragte er.

»Ja,« antwortete Hendrik. »Was ist es denn mit ihr?«

»Wohl, es ist, daß Meinherr Verstraaten nicht mehr kommt.«

»Nicht?« fragte Hendrik aufrichtig erstaunt. »Da ist's ihm also wie mir gegangen. Aber auf wen wartet denn Rien, daß sie immer Einen nach dem Andern fortschickt?«

»Dieses Mal ist sie unschuldig,« antwortete Edward. »Sie hat, glaub ich, von Tag zu Tag gewartet, daß ihr der Junge einen Heirathsantrag machen sollte. Aber er – der Herr Verstraaten ist ein schlauer Bursche – er machte nur Gedichte an sie. In denen sprach er immer von seinen ›bleichen Wangen,‹ obgleich sein Gesicht rosenroth war wie ein Apfel.«

»Ja, darauf hält er, blaß zu sein,« sagte Hendrik lachend. »Er muß es durchaus für poetisch halten.«

»Und,« fuhr Edward fort, »nachdem er das so bis etwa Anfang vorigen Monats getrieben hatte, nahm er sich eines Tages seine Prinzessin von Craon mit, und kam nicht wieder. Seitdem hab' ich mit Einigen gesprochen, die ihn und seine Familie gut kennen – sie sagen, daran wäre gar nicht zu denken, daß seine Eltern ihn jetzt schon heirathen ließen, und selbst später würde er nur ein reiches Mädchen nehmen dürfen. Nun sitzt Rien, und würde, glaub' ich, sehr zufrieden sein, wenn sie Euch wieder kommen sähe.«

Edward blickte bei dem Schluß seiner Rede Hendrik prüfend in's Gesicht, Hendrik lächelte und fragte: »Würdet Ihr an meiner Stelle wiederkommen?«

»Nein, sicher nicht,« antwortete Edward, die Achseln zuckend und die Hände in die Tasche steckend.

»Wofür würdet Ihr mich halten, wenn ich es thäte?«

»Für einen Dummkopf.«

»Das mein' ich auch. Gute Nacht denn.«

Hendrik ging jetzt mit starken Schritten. Das Herz klopfte ihm, das Blut brannte ihm im Kopf und in den Händen. »Jetzt werde ich sie küssen,« sagte er mehrmals vor sich hin, und sammelte sich mit einer solchen Entschlossenheit, als gält' es, die Citadelle von Antwerpen zu erstürmen.

Das Atelier, welches, wie wir wissen, zugleich den Salon vorstellte, war diesen Abend ungewöhnlich hell erleuchtet. Die Lichter am Piano brannten, auf dem Kaminsims standen ebenfalls zwei, und eins auf einem besonders hohen Leuchter erhellte auf dem runden Tisch in der Mitte einen schönen Blumenstrauß, nicht einen, der wie ein Gemüse in einer weißen Papierschüssel angerichtet war, sondern einen wirklichen mit Stengeln.

An dem Tische stand Helene, die allein und ungewöhnlich geputzt war. Sie trug ein lichtblaues Seidenkleid mit herabfallenden offenen Aermeln, aus denen ihre weißen feinen Arme sich zwischen vollen durchsichtigen Manschetten hervorstahlen. In ihr Haar hatte sie kunstlos eine weiße Rose gesteckt. Das Zimmer und das Mädchen bildeten zusammen eine festliche Erscheinung. Hendrik glaubte, zu einer Gesellschaft gekommen zu sein, und sagte verlegen: »Ich komme nur auf einen Augenblick.« – »Warum?« fragte Helene, die ihm einige Schritte entgegen gethan hatte. – – »Sie erwarten Gäste,« antwortete er.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, es ist nur eine Grille von mir, daß Sie Alles so aufgeputzt finden. Da wir den ersten Abend im Jahre zum ersten Male so ganz allein in der Fremde zubringen, so wollte ich es wenigstens schön haben und selbst schön sein. Kommen wird Niemand, die Bekannten, die wir erwarten konnten, sind alle schon hier gewesen – Sie sind der letzte.«

»Lassen Sie mich Ihnen denn den letzten Glückwunsch bringen,« sagte Hendrik, legte seinen Hut auf den Stuhl und kam dem jungen Mädchen näher. Helene trat ihm auch noch mehr entgegen, sie standen vor einander, Hendrik wurde bleich, das Zimmer schien vor seinen Augen zu schwimmen, » ne zalige, zulle,« sagte er mit beklemmter Stimme und hielt Helenen die Hand hin. Sie legte die ihre hinein und antwortete herzlich, wenn gleich etwas wehmüthig: »Glück zum neuen Jahr!« Hendrik zitterte, es war unmöglich, kühn zu sein und sie zu küssen, er führte nur ehrfurchtsvoll ihre Hand an seine bebenden Lippen und blieb dann wie vernichtet vor ihr stehen.

Helene bat ihn, sich zu setzen – er that es, auf einen Stuhl an den Tisch in der Mitte, wo der Blumenstrauß stand. Er nahm diesen und bewunderte ihn. Helene, die ihm gegenüber saß, nahm sein Lob als ihr gebührend an, »denn,« sagte sie, »ich hab' ihn Mama geschenkt.«

»Am Weihnachtsabend haben Sie einen Baum gehabt,« sprach Hendrik nach einer kurzen Pause. »Herreyns hat mir davon erzählt. Es soll allerliebst gewesen sein.«

»Ja, einige von unsern Kunstfreunden,« sagte Helene, den vlämischen Ausdruck scherzend betonend, »haben uns am Weihnachtsabend eine Stunde geschenkt, um ihn uns auf vaterländische Weise begehen zu helfen, damit wir uns doch nicht gar zu sehr in der Fremde fühlen möchten,« setzte sie mit einem leisen Zittern in der Stimme hinzu. Helene war heute offenbar ungewöhnlich weich gestimmt, deßhalb sprach sie mit Hendrik wieder einmal wie früher.

Er sagte sanft: »Ich hatte gehofft, daß Sie sich in Antwerpen schon mehr daheim fühlten.«

»Für gewöhnlich ja, an solchen Tagen nicht,« entgegnete sie. Ich hab' es öfter sagen hören: es soll immer so sein, wenn man im fremden Lande ist.« Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: »Mama wollte auch Sie zum Weihnachtsbaume einladen, aber ich hielt sie davon ab, ich sagte ihr: Sie wären völlig in Anspruch genommen.«

»Das ist jetzt nicht mehr der Fall,« sprach er zögernd, indem er wiederum die Blumen betrachtete.

»Ah!« hauchte Helene unwillkürlich.

»Nein,« sagte er, »ich – ich bin frei.«

Helene hatte sich rasch gefaßt, und fragte ruhig theilnehmend: »Wie ist denn das gekommen?«

»Ich habe einen Korb bekommen,« antwortete er lächelnd und rothwerdend. »O, ich habe ihn recht gern genommen,« setzte er rasch hinzu, als er Helene eine mitleidige Miene annehmen sah.

Sie konnte sich nicht enthalten zu fragen: »Warum haben Sie ihn sich da erst geholt?«

»Ich hatte mein Wort gegeben,« erwiederte er ernsthaft. »Aber man hat es mir zurückgegeben,« setzte er vergnügt hinzu.

»Ohne daß Sie darum ›Weide! Weide!‹ singen?«

»Weide, Weide?« wiederholte er verwundert.

»Wissen Sie nicht– das Desdemonalied in Othello?« fragte Helene, ihrerseits verwundert.

Hendrik wußte Nichts davon; daß die Weide in England der Baum der Verlassenen sei, hatte auch Othello noch nicht gelesen. Helene hatte von der Mutter zu Weihnachten die Tauchnitz'sche Ausgabe von Shakespeare bekommen, und ging »Othello« holen. Die beiden jungen Leute waren in die »Auskleideszene« vertieft, als die Hofräthin eintrat. Hendrik sprang auf. Was er bei der Tochter nicht gewagt, dazu hatte er bei der Mutter völlig den Muth. Er küßte sie herzlich und sprach sein » ne zalige, zulle!« mit dem echten vlämischen Vollton. Die Hofräthin gab dem jungen Manne seine beiden Küsse mit guter Laune wieder. Helene lachte und wurde roth dabei, denn sie dachte daran, daß Hendrik auch sie hätte küssen können. Dann fragte die Hofräthin, ob Hendrik den Abend bei ihnen zubringen könne? »Deßwegen bin ich ja hier,« antwortete er mit seiner unbezahlbaren Naivetät.


 << zurück weiter >>