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XVI.

Am nächsten Tage saß Hendrik in dem Stübchen, welches bei der Vertheilung des Redaktionslokales ihm zugefallen war. Es war klein, niedrig und weißgetüncht. Ein Balken, dessen Nähe für einen nur einigermaßen hochgetragenen Kopf bedenklich war, theilte der Länge nach die Decke. Ein Pult, ein hoher Schreibstuhl und ein Tisch mit einem klassischen Redaktionsdurcheinander ließen Hendrik noch Platz genug, um an die beiden Fenster zu gehen, durch die man, ungehindert von Vorhängen, zuerst auf ein Glasdach, unter welchem im Hofe die Setzer mit ihrer schwarzen Kunst beschäftigt waren, und darüber hinweg auf den Kalvarienberg sah.

Diese düstere Phantasie von Antwerpen würde minder schauerlich wirken, läge sie mit der Prädikantenkirche, an deren braune Strebepfeiler sie sich andrängt, in einer Einöde von Wald oder Felsen, oder selbst nur an einem öden, einsamen Platze der Stadt. Aber so mitten zwischen bewohnten Häusern, mitten im Betrieb des täglichen Lebens, wie z. B. unter den Fenstern der Redaction eines liberalen Journales, wirkt diese Erscheinung so unheimlich, daß man vor ihr am hellen Tage einen Gespensterschauer empfindet.

Man stelle sich einen künstlichen Berg vor, der, mit Schlacken bedeckt, einen dunklen Standpunkt für weiße Statuen abgibt. Es sind Heilige, Propheten und Märtyrer, welche ohne Rücksicht auf Chronologie hier versammelt worden sind. Daniel liegt in der Löwengrube, Magdalene kniet in der Reue der Sünderin, auch knieend, aber in königlicher Reinheit hält die heilige Helena das Kreuz umfaßt, David spielt die Harfe, womit er seine Psalmen begleitete, Moses hält die Tafeln, auf denen die Gebote geschrieben waren, Jeremias sieht aus, wie eines seiner Klagelieder. Ein Kiesweg, an dessen beiden Seiten keilförmige Steine liegen, führt zu der Grabgrotte. Auf den Steinen knieen oft weinende Männer und Frauen im Kreuzgebete, d. h. mit weit ausgebreiteten Armen, in der Grotte liegt Christus, während von den Wänden aus geschnitten und gemalten Flammen die armen Seelen im Fegefeuer ängstlich hervorblicken, als bäten sie um Messen zu ihrer Erlösung. Ueber dem vergitterten Eingang zur Grotte liegt ein Drache – stürzt er einmal, kommt eine neue Sündflut.

Für einen Menschen mit lebhafter Einbildungskraft wäre es vielleicht nervös aufregend gewesen, immer auf die weißen Gestalten des dunklen Berges herabsehen zu müssen, während eine Trauerweide ihr langes Gezweig im Winde wiegte, und die hohe, düstere Kirche zur Rechten die heitern Engel in ihrem Innern nicht ahnen ließ. Doch in Hendrik's Natur fand das Phantastische keinen Anklang, die Einbildungskraft war seine schwächste Eigenschaft. Erfand er, so waren es nur Geschichten, um Lücken in der Constitution auszufüllen. Hatte gerade das Ministerium einen Beschluß gefaßt, den man hätte loben müssen, wenn man davon gesprochen hätte, von dem man folglich nicht sprechen durfte, hatte sich kein Wallone gegen die vlämische Sache vergangen, hatte Napoleon in Paris Nichts gethan und Danilo in Montenegro Danilo Petrovic-Njegoš (1826-1860) war seit 1851 als Danilo II. Petrovic-Njegoš Fürstbischof von Montenegro. Er gab bereits 1852 das Bischofsamt auf und proklamierte sich zum weltlichen Fürsten Danilo I. von Montenegro. So kam es 1852 zu einem ersten Krieg gegen die Osmanen. Weitere militärische Auseinandersetzungen führten (unter Danilos Nachfolger) schließlich 1878 zur Unabhängigkeit Montenegros. auch nicht, war kein Jüngelchen durch ein Kellergitter getreten, keine Frau geprügelt worden, gab es mit einem Worte keine Anklage gegen irgend Jemand oder Etwas zu erheben, so ließ Hendrik an dem oder jenem Orte – nur durfte es kein zu naheliegender sein, sonst kamen Reklamationen – so und so viel Personen ertrinken oder verbrennen, vergiftet oder todtgeschlagen werden. Kam es hoch, so ließ er einen unglücklichen Ehemann und einen glücklichen Liebhaber mit einander kämpfen, während die schuldige schöne Frau in Thränen gebadet und mit gerungenen Händen auf den Knieen lag. Das war Hendriks Manier, seine Erfindungsgabe zu bethätigen.

Das gespenstische Bild des Kalvarienberges hatte also für ihn keine Gefahr, er sah nur zum Fenster hinaus, wenn die Engländerinnen kamen, welche natürlich nicht durch Antwerpen kommen können, ohne die größte Kuriosität der Stadt zu besuchen. Diesen Vormittag indessen war er noch nicht ein Mal an das Fenster gesprungen, obgleich gewiß über ein Dutzend grauer und brauner Rundhüte mit möglichst prächtigen Hahnfederbüschen sich unten gezeigt hatten. Es wären sicherlich noch mehr erschienen, hätten nicht die noch immer glühenden und dampfenden Schutthaufen der Börse heute dem Kalvarienberg einigen Abbruch gethan. Auch Hendrik dachte an die Börse, und war melancholisch. Es ging ihm tief zu Herzen, daß dieses zweitschönste Gebäude von Antwerpen vernichtet sein sollte. Wegen des schönsten, der herrlichen Kathedrale, hatte Jef gleich ein Artikelchen gemacht. Fast alle Besucher, sagte er, rauchten, wenn sie den Thurm Unserer lieben Frauenkirche bestiegen. Das war höchst gefährlich, und Jef verlangte ein Verbot von Seiten der Obrigkeit. Darin hatte er Recht. Jef verstand sich überhaupt auf viele Dinge, und hätte ganz nützlich für die Stadt sein können, hätte er sich nur nicht darauf gesetzt, ein unabhängiger Volksdichter sein zu wollen.

Hendrik korrigirte Jef's Artikelchen. Vorher hatte er das Programm der »Gemeindefeste« korrigirt, d. h. das der großen Kirmeß, welche in Antwerpen immer am Sonntag nach dem 15. August, der Himmelfahrt Mariä, gefeiert wird. Sie fiel daher dieses Mal auf den 23., 24. und 25. August, denn drei Tage dauert sie. Das Programm versprach viel. Erstens sollte am 8. die Kunstausstellung eröffnet werden, dann während der drei Festtage das Museum von zehn Uhr früh bis sechs Uhr Abends offen stehen, und endlich die Handelskammer, deren Fresken durch »die Herren Guffens und Swerts eben vollendet worden waren,« dem Publikum gleichfalls zugänglich sein, und zwar von neun Uhr Morgens bis um fünf Uhr Nachmittags.

Diese letzte Vergünstigung fiel nun fort, denn die Fresken lagen in Asche. Aber was da blieb, war genug. Am Sonntag früh fand ein Preiskampf von Singgesellschaften, ein Preisschießen von den verschiedenen Gilden der Bogenschützen und eine Preisausstellung von Blumen Statt. Alles echt belgische Festlichkeiten. Die Blumen werden nirgends wissenschaftlicher gezogen als in diesem Lande, wo die Natur keine freiwillig gewährt. Singgesellschaften gibt es jetzt fast in jeder Gemeinde, und in großer Zahl kommen sie zu den Wettkämpfen angezogen, die bald hier, bald dort ausgeschrieben werden. Die Preise bestehen in Geld und in goldenen oder silbernen Medaillen; das Geld wird zum allgemeinen Besten verwandt, die Medaillen kommen an die Fahne. Man kann die Triumphe einer Gesellschaft nach den Medaillen zählen, welche an ihrer Fahne hängen, die meistens von Sammt und reich mit Gold oder Silber gestickt sind. Die Gilden der Bogenschützen endlich sind noch von den alten ehrwürdigen Einrichtungen des früheren Bürgerlebens übrig geblieben. Eine jede steht unter dem Schutz eines Heiligen, die meisten unter dem Sankt Sebastian's oder Sankt Georg's; eine jede besitzt ihre Statuten und ihre Geschichte, eine jede auch hat ihr Estaminet und ihren Garten, wo die Mitglieder an den Sommerabenden mit den verschiedenartigen Bogen nach der Scheibe oder der Stange schießen. Es ist das ein gesundes und friedfertiges Vergnügen, aber es gehören die Arme und die Brustsehnen belgischer Bürger dazu.

Wenn die Preisausstellung eröffnet sein würde und das Preissingen und das Preisschießen Statt gehabt hätten, sollte um elf Uhr aus der Hauptkirche die Prozession Unserer lieben Frau ausziehen, von der Florent behauptete, es gäbe ihres Gleichen nicht in der Welt. Für den Abend gab es um sieben Uhr ein Gartenfest in der Harmonie, um neun Uhr in den Variétés das erste Nachtfest, welches die Gesellschaft der »Scheldegalm,« d. h. der Scheldeklang veranstaltete, und um zehn Uhr im großen Saal der Cité ebenfalls ein Nachtfest des » Echo de l'Escaut,« des Scheldeecho's. Dieses Fest war für die Singgesellschaften, das in der Harmonie für die ausstellenden Künstler, das in den Variétés endlich für das Publikum.

Die Festlichkeiten am Montag bestanden in der Austheilung der Preise an die Singgesellschaften, in einem »Festival« von Harmonie- und Fanfarengesellschaften, die ebenso organisirt sind, wie die Singgesellschaften, und in einem vlämischen dramatischen Kampfstreit. Die Vlamingen haben bis jetzt außer dem Nationaltheater in Antwerpen und der Truppe von Kats, welche zu Brüssel im Parktheater spielt, nur noch Liebhabergesellschaften, welche so gut wie die musikalischen sich bei feierlichen Gelegenheiten zu Wettkämpfen vereinen.

Außerdem sollten noch um vier Uhr »Wasserspiele« im großen Dock, und um fünf Uhr auf verschiedenen Plätzen Volksvergnügungen stattfinden. Der Ball in den Variétés wurde von der Gesellschaft »de Dageraed,« die Aurora, gegeben, den verschiedenen Truppen bot die Gesellschaft »Freie Kunst« in ihrem Lokal ein glanzreiches Nachtfest an. Die Fanfarengesellschaften wurden von der Gesellschaft »St. Cäcilia« in den großen Saal der Cité eingeladen, und sollten am Dienstag Morgen auf dem Grünplatz ihre »Dankpfennige« empfangen. Um zwei Uhr zog dann der große Ommegang oder Umgang durch die Stadt, Abends um acht war großer Zapfenstreich bei Fackellicht, um neun Uhr wurde ein prächtiges Feuerwerk, auf Antwerpensch »Feuervogel,« auf der Kastellesplanade abgebrannt, um zehn Uhr endlich begann in den Variétés das zweite Nachtfest des »Scheldegalm.« Man sieht, es stand für die Antwerpner Vergnügen die Fülle in Aussicht, und in seiner gewöhnlichen Stimmung würde Hendrik es schon im Voraus genossen haben. Heute jedoch hatte er nicht die mindeste Fähigkeit dazu. Theils war er körperlich noch ermüdet, theils im Gemüth unruhig und zerstreut. Unaufhörlich schwebte Helene ihm vor, und das Eigenthümliche war, daß er sie mit dem furchtbaren Brande zugleich vor sich sah. So mochte die weiße Taube, in welcher Gestalt das Mittelalter sich die emporfliegende Seele eines unschuldigen Opfers dachte, über dem Scheiterhaufen und der Asche des sterblichen Theiles in die Höhe gestiegen sein. Hendrik empfand ein fast quälendes Bedürfniß, den Eindruck, welchen Helene in der vergangenen Nacht auf ihn gemacht, in ein Lied zu fassen, und doch vermochte er es nicht. Nachdem er zehnmal in allen Winkeln seines Gehirns nach Worten und hauptsächlich nach Reimen gesucht, denn Worte boten sich ihm allenfalls dar, aber sie wollten sich in keine Strophen fügen, nachdem Hendrik wieder und wieder gesucht und immer ohne Erfolg, sagte er endlich trübselig lächelnd: »Ich glaub', ich bin's nicht werth, von ihr zu dichten. Wie sie für mich selbst zu gut wäre, ist sie auch für meine Verse zu gut. Wir wollen's also sein lassen und wieder an's Korrigiren gehen.«

Er hatte sich in der That mit Eifer und Eile wieder an die Korrektur gemacht, auf welche unten bereits gewartet wurde, als es bescheiden an die Thüre klopfte. Auf Hendrik's »kommt herein!« that sie sich langsam, man hätte sagen mögen, höflich zögernd auf, und gebückt, wozu die sehr geringe Höhe der Thür ihn nöthigte, trat ein großer Jüngling mit blühendem Gesicht und blondem Krauskopf in das Zimmerchen. Er trug einen blauen Kittel, in dessen Brusttasche eine kurze kleine Thonpfeife steckte, keine Handschuhe und in der rechten Hand einen ländlichen, am obern Ende gebogenen Stock und eine Mütze.

Als er d'rinnen war, richtete er sich auf, was er thun konnte, ohne geradezu an die Decke zu stoßen. Aber das bescheidene, zögernde Wesen, womit er eingetreten war, blieb dasselbe, und er begrüßte Hendrik mit so viel Ehrerbietung, als wäre der zweite Redakteur der Konstitution für ihn eine große Autorität.

Hendrik, der sich bisweilen wohl eine Protektormiene erlaubte, die ihm höchst drollig stand, begrüßte den Jüngling herablassend als »Meinherr Verstraaten.«

Meinherr Verstraaten setzte sich auf Hendrik's Einladung so gut es gehen wollte auf den einzigen Stuhl, welcher in der Redaktion vorhanden, und, im Vertrauen gesagt, nicht ganz sicher auf seinen Beinen war. Als er saß, schlug Meinherr Verstraaten die Augen nieder und spielte mit seinem Stock.

Hendrik fühlte die Verpflichtung, den schüchternen Besucher zu ermuthigen, nur wollte er zuerst seine Korrektur beendigen. Als das geschehen war und der kleine Laufbursche sie empfangen hatte, um sie unter das Glasdach in die Druckerei zu bringen, kam Hendrik von seinem hohen Stuhl herab, lehnte sich dem blonden Jüngling gegenüber an das Pult und fragte: »Wohl, Meinherr Verstraaten, und wie geht es?«

»Dank Euch,« antwortete Meinherr Verstraaten sehr höflich, »es geht mir wohl.«

»Vater, Mutter auch gesund?« fuhr der junge Protektor fort. Zugleich griff er nach einem Päckchen Cigarren und fragte gastfreundlich: »Eine Cigarre – ja?«

»Och, Ihr seid zu gut,« versetzte der junge Gast, nahm jedoch die Cigarre an.

Als Beide erst rauchten, wurden sie vertraulicher. Zuerst sprachen sie natürlich von dem schrecklichen Ereigniß der Nacht, dann brachte der blonde Jüngling ein Gedicht zum Vorschein, welches er Hendrik für die Konstitution versprochen hatte; denn trotz seines blauen Kittels, seiner weißen Thonpfeife und seines ländlichen Rockes war Meinherr Verstraaten so gut ein vlämischer Dichter, wie Meinherr Van Loon, zweiter Redakteur der Konstitution. Hendrik las das Gedicht, lobte es aufrichtig, fragte jedoch bei der oder jener Stelle: ob das nicht so und so besser sein dürfte? Hendrik verstand sich doch schon mehr auf das Handwerkliche der Sprache, wenn auch vielleicht sein junger Besucher ihn an Idealität übertraf. Die Aenderungen waren zweckmäßig, der junge Verfasser des Gedichtes schrieb sie sogleich hinein, das kleine Geschäft war abgemacht, und der blonde Jüngling erhob sich, um zu gehen, als Hendrik ihn fragte: »ob man ihn denn niemals bei einem Antwerpner Fest zu sehen bekommen würde?«

Verstraaten schlug wieder sehr verlegen die Augen zu Boden und antwortete hoch erröthend: »Ich bin noch nie auf einem Fest in der Stadt gewesen.«

»Darum müßt Ihr eben einmal kommen; Ihr könnt doch nicht immer so blos auf dem Dorfe leben, besonders nun Ihr Euch auf die Literatur legt,« sprach Hendrik in überredendem Ton. »Wißt Ihr was, kommt zur Kirmeß herein, dann gehen wir miteinander in die Variétés.«

»Sie sagen, es soll wunderschön da sein?« sprach Verstraaten fragend, indem er Hendrik anzublicken wagte.

»Kommt, dann könnt Ihr urtheilen,« versetzte Hendrik.

»Es ist nur –« sagte der Andere zögernd, »ich fürchte mich so etwas vor dem Tanzen. Wenn ich erst einmal anfange, kann ich nicht mehr aufhören.«

»Desto besser,« rief Hendrik, höchlichst belustigt durch dieses naive Bekenntniß. »Da tanzen wir bis zum Morgen, und wenn es Abend wird, fangen wir wieder an. Was sagt Ihr? Habt Ihr Lust, zu kommen?«

»Lust wohl –« versetzte der Andere lächelnd.

»Wohl, woran fehlt es da noch?« fragte Hendrik. »Permissie werdet Ihr doch wohl kriegen?«

»Ach, darum ist es nicht –«

»Wohl, so entschließt Euch. Kommt Ihr?«

»Ich werde kommen.«

Meinherr Verstraaten ging langsam und mit einem höchst bescheidenen Ansehen durch die Straßen, welche zwischen Hendrik's Redaktion und Florent's Bureau lagen. Wer den jungen Kittelträger gesehen hätte, denn die blaue Blouse heißt auf Vlämisch Kittel, wer ihn gesehen hätte, der hätte zu dem Glauben kommen müssen, der junge Mensch vom Lande fühle sich eigentlich der hohen Ehre gar nicht werth, durch die Straßen einer so großen Stadt wie Antwerpen zu gehen.

Florent empfing »Meinherr Verstraaten« nicht minder herablassend, als Hendrik es gethan hatte. Meinherr Verstraaten war bei Florent ebenso jugendlich ehrerbietig, wie er bei Hendrik gewesen war, nur etwas weniger schüchtern und verlegen, denn er kannte Florent länger, als Hendrik. Florent war ebenfalls Redakteur einer Zeitschrift, Meinherr Verstraaten übergab ihm ebenfalls ein Gedicht, welches er Florent versprochen hatte. Florent ließ, ganz wie Hendrik, dem Gedicht seine huldvolle Billigung angedeihen, schlug jedoch, auch ganz wie Hendrik, einige kleine Veränderungen und Verbesserungen vor, welche der junge Dichter ebenso dankbar und bereitwillig annahm, wie in der Redaktion. Dann ging der junge Mann mit derselben bescheidenen Haltung auf's Neue durch die Straßen der großen Stadt, ging auf die Eisenbahn und fuhr nach seinem Dorfe zurück.

Denn er wohnte auf dem Dorfe. Auf einem Dorfe in der Nähe von Lier. Lier ist ein hübsches Städtchen von zwölf- oder fünfzehntausend Einwohnern, durch welches man in die Kempen kommt, deren Grenzort es bildet. Die Kempen sind große Heidestriche, welche theils in Brabant, theils in Limburg liegen. Conscience und nach ihm eine Schaar Wiederholer haben sie poetisch bekannt gemacht, neuerdings hat man angefangen, sie urbar zu machen. Der König selbst ist Grundeigenthümer dort.

Lier ist, wie schon gesagt, hübsch und freundlich, und dabei alt und merkwürdig. Seine Entstehung schreibt man den Ansiedlungen frommer Leute bei der Kapelle des heiligen Gommar zu. Nie hat ein Heiliger seiner Stadt erblicher und eigenthümlicher angehört, als St. Gommar Lier. Er ist in der Umgegend von Lier geboren, er hat auf seinem väterlichen Landgute die Prüfung ausgehalten, welche die Ehe mit einer schönen und unzähmbaren Frau ihm auferlegte. Wo er jetzt in der von ihm gebauten Kapelle begraben liegt, da wohnte er, als ihm gegen und für seine Frau nur noch das Gebet übrig blieb, in einer kleinen Klause auf einem Inselchen in der Nethe. Und jetzt ist er der Patron von Lier, hat neben der alten Kapelle eine prächtige Kollegialkirche, und giebt einer Menge Knaben, unter denen sich auch »Meinherr Verstraaten« befand, den Namen Gommar, vlämisch Gommarüs, abgekürzt Marüs.

Wenn Lier in Bezug auf Legende und Geschichte merkwürdig ist, wenn es außer von den Wundern St. Gommar's auch noch von der »Furie« erzählen kann, mit welcher es am 14. Oktober 1595 durch Karl von Heraugière, einen wallonischen Edelmann im Dienste der Generalstaaten, überfallen wurde, wenn es mit einem Wort ganz altstädtisch an dem Zusammenfluß der beiden Nethen thront, so ist seine ländliche Umgegend nicht minder überlieferungsreich. Nicht nur, daß Dreikönigentag, St. Martin, St. Thomas, Unschuldige Kindleintag, Greef von Halbfasten ganz auf Antwerpner Weise gefeiert werden, eine Menge anderer Tage werden durch eigene Gebräuche bezeichnet, von denen viele aus dem Glauben an das Geheimnißvolle entsprungen sind.

Die geweihten Kerzen z. B., welche an Lichtmeß beim Küster gekauft werden, müssen brennen, wenn Unwetter oder großer Sturm ist, wenn eine Frau niederkommen oder eine Kuh kalben soll. Dem Sterbenden werden sie in die Hand gegeben, damit sie ihm auf dem dunklen Weg in das ewige Leben leuchten, und einige Tropfen Wachs von ihnen läßt man nicht nur auf das Vieh, auf die Fenster und Thüren, Karren und Wagen fallen, sondern selbst in die Hüte und Mützen der Männer und Knaben.

Die am Palmsonntag geweihten Buchsbaumzweige müssen Felder und Ställe hüten, das an Johanni abgeschnittene Johanniskraut, in einem Strauß auf dem Boden aufgehangen, gereicht dem ganzen Hause zum Segen. Schneidet man es an diesem Tage nicht ab, vertrocknet es.

Ostern kommt, wie überall, mit Eiern. Der »Glockenläuter« sammelt in der Woche vorher Eier für den Küster, die Chorknaben wollen auch einen großen Korb damit gefüllt und außerdem noch etwas Geld haben, die Dorfschule geht ebenfalls »Eier singen,« und prügelt sich dabei mit einer andern Dorfschule, mit welcher sie durch Zufall auf einem Feldwege zusammenstößt. Am Sonnabend Morgen bringen die Glocken für die Kinder bunte Eier aus Rom, und mit dem Glockenschlag zwölf in der Nacht machen die Dienstboten Thür und Fenster weit auf, schlagen mit dem Besen hinein und rufen: »Ostern herein und Fasten hinaus!« Wer das zuerst thut, hat am nächsten Morgen Anrecht auf zwei oder vier Eier mehr, als die übrigen Dienstboten.

Aber auch seinen Aberglauben hat Ostern. In der Osterkerze, welche dazu dient, die andern Lichter in der Kirche wieder anzuzünden, stecken kreuzförmig Nägel aus Wachs und Weihrauch gemacht, und »Osternägel« genannt. Diese werden sehr gesucht, und theils in das Wasser gethan, womit vor dem Säen der Weizen gewaschen wird, damit keine schwarzen Körner darunter kommen mögen, theils bei Viehseuchen unter das Futter gemengt, endlich zum Schutz gegen böse Hunde unter die Schwellen der Viehställe gelegt. Um die bösen Hunde abzuwehren, macht man auch oft weiße Kreuze an die Stallthüren. Ein Kreuz vor der Thür eines Hauses, möge es nun blos aus Strohseilen gelegt oder ein wirkliches Kruzifix sein, zeigt an, daß in dem Hause eine Leiche liegt. Das Bettstroh, auf welchem der Todte gestorben, wird an einem Wege verbrannt, das, auf welchem die Leiche gelegen, in Büschel gebunden kreuzweis auf Kreuzwege und unter Bäume gelegt, an denen Muttergottesbilder hängen. Der Wagen, auf welchem man die Leiche zur Kirche führt, darf nie auf demselben Weg zurückkehren, den er hinwärts gefahren ist, sonst giebt es in der Nachbarschaft bald einen neuen Todesfall. Einige Wochen später findet ein feierlicher Gottesdienst Statt, dem ein Mahl in der Herberge folgt. Oft nehmen über hundert Eingeladene an einem solchen »Ausfahrtsdienste« Theil. Das Mahl besteht aus Weizenbrod und holländischem Käse, das Getränk liefern einige Tonnen »Seef,« so heißt das plebejische Bier in dieser Gegend sowohl, wie in Antwerpen. Bei einer Taufe findet auch eine Bewirthung Statt; die Nachbarfrauen kommen »Zuipen« essen, eine Suppe aus Bier, Eiern, Weißbrod und Zucker. Weiter giebt es die »Kribbekenfeste,« welche nach einem Schweineschlachten die Blutsverwandten und genauen Freunde eines Pachthofes vereinigen, dann die »Foi,« das Mahl von Schinken, Fleisch und viel Getränk, welches die Schmiede ihren Kunden vorsetzen, wenn dieselben sie am ersten December, an St. Eloi, bezahlen kommen, endlich das Kartoffelfest, welches die Ernte dieser Frucht beschließt. Das macht viel Lärm, denn sobald die letzte Kartoffelpflanze ausgestochen ist, nehmen sämmtliche »Ausstecher« und »Aufleser« ihre Holzschuhe und schlagen sie so lange gegeneinander, bis einige Gewehrschüsse gelöst worden sind. Am Abend giebt es Stockfisch mit Erdäpfeln, süße Milch mit eingebrocktem Weizenbrod, Reisbrei, viel Bier und einige ziemlich gewagte Spiele.

Ein Gebrauch, der auch keck genug ist, erlaubt am Fastenabend dem Bauernknecht, der das Glück hat, ein Mädchen sein zu nennen, eine lange Unterredung mit dem Gegenstand seiner Liebe. Das heißt »sein Liebchen in's Salz legen.« Zu Halbfasten wiederholte Unterredung, welche bedeutet: »sein Liebchen im Salz umwenden.« Zu Ostern endlich wird eine dritte Zusammenkunft mit den Worten bezeichnet: »sein Liebchen aus dem Salz holen.«

Am festlichsten wird der Mai empfangen und begangen. Noch immer wird, sei's auf einem Platz im Dorf, sei's auf einem Kreuzweg, vor dem Muttergottesbilde die mit Fähnchen, Kränzen und Rauschgold verzierte Tanne gepflanzt, welche der »Maibaum« heißt. Die Bursche und jungen Mädchen jauchzen und tanzen rund um sie her, Gewehrschüsse knallen, dann wird es still im Dorfe, die Serenaden, welche in den Dörfern, die sich einer »Harmonie« erfreuen, den Behörden und sonst ausgezeichneten Personen gebracht werden, sind verklungen, da schleicht der Liebhaber herbei und steckt seinen besondern Maibaum vor das Fenster des geliebten Mädchens, welches allem Vermuthen nach aus einem Lauschwinkel hervorspäht. Wo ein Mädchen wohnt, welches keinen Freier gut genug findet, folglich öfter als einmal schon die zartfühlende Eigenliebe des starken Geschlechtes verletzt hat, da paradirt am ersten Maimorgen im höchsten Baume ein »Voddenvent,« ein Lumpenkerl, d. h. ein grotesk angeputzter Strohmann. Junge Männer, die ihrerseits sehr schwierig im Wählen sind, bekommen ein »Voddenwyf,« d. h. ein Lumpenweib vor das Fenster.

Aus diesem halb mystischen, halb burlesken Landleben nun glaubte man in Antwerpen Gommar oder Marüs zum Dichter aufgewachsen. Man nahm ihn mit einem Wort als einen jungen Bauern an, und konnte ihn auch für nichts Anderes nehmen. Wie er sich darstellte, habe ich geschildert, seine Reden stimmten mit seinem Auftreten überein. Er sprach von seiner Erziehung auf dem Dorfe, von seinen Freunden auf dem Dorfe, von seinem Leben auf dem Dorfe. Wenn er seiner Eltern erwähnte, so geschah es als »guter, einfacher Leute,« die seine literarischen Beschäftigungen mit Mißtrauen ansähen, weil es ihnen unmöglich sei, dieselben zu begreifen. Auch seine Schwestern wurden in seinen Erzählungen zu schlichten Landmädchen, denen er, der Bruder, etwas Französisch beizubringen versuche. Marüs schien es natürlich zu finden, wenn man ihn liebreich ermunterte, doch im Kittel zu kommen, er schien es anzuerkennen, daß er in den Kittel und nicht in den Rock gehöre. Seine Dichtungen endlich trugen alle denselben idyllisch-elegischen Stempel, und schilderten lauter ländliche Bilder. Marüs kniete in der »niedrigen Dorfkirche,« wo »Meinherr Pastor« bei der Beichte und im Katechismus ihn und seine Spielgefährten mit Pfeffernüssen beschenkt hatte. Er besuchte den »einsamen Dorfkirchhof,« wo jedes Grab anders verziert war, nämlich das eines Kindes mit drei Krönchen von buntem Papier, das eines Mädchens mit weißen Kronen und Fähnchen, das eines Jünglings mit drei Kreuzen von weißem Papier, das eines Greises mit ebenso vielen aus buntem. Marüs sah ein junges Mädchen, welches »seine Schwester nicht war, aber ihn Bruder nannte,« auf den Schultern der Jünglinge zu Grabe getragen werden. Er hörte in der Mitte der Christnacht die Bienen singen und sah sie »wenig Tage darauf sterben«, weil man vergessen, ihnen »das Verreisen ihres Meisters« anzuzeigen, bei dessen Leiche er, Marüs, am Abend gemeinschaftlich mit den Nachbarn den Rosenkranz »gelesen« hatte. Genug, er war in seinen Gedichten, die, nebenbei, ein großes keimendes Talent verriethen, so gut wie in seiner Person ganz und gar naivsentimentales Landkind, und wurde als solches in Antwerpen beschützt, bewundert und als Vorbild einer höchst verdienstlichen Selbstentwicklung hingestellt.

Nun war aber Niemand weniger ein junger Bauer, als Marüs, trotz seines Kittels, seiner Pfeife, seines Stocks und seiner idyllischen Elegien. Er war, um der gewöhnlichen Art nach zu reden, aus viel besserer Familie als Hendrik, und ganz aus ebenso guter wie Florent, welche er beide als ihm gesellschaftlich überlegen behandelte. Sein Vater, früher Offizier, hatte jetzt eine große Tabakfabrik und handelte nebenbei mit Getreide. Die Mutter las die Romane von Conscience und Snieders Jan Renier Snieders (1812-1888) oder sein Bruder August Snieders (1825-1904), beide belgische Schriftsteller. August wurde 1845 Herausgeber der Zeitung Het Handelsblad, deren Chefredakteur er von 1849 bis 1899 war. Unter seiner Leitung wurde Het Handelsblad zur wichtigsten flämischen Zeitung und er selbst zum maßgeblichsten flämischen Journalisten des 19. Jahrhunderts. Er war ein solider Befürworter der katholischen und flämischen Ideale in Belgien. und war nervös. Das waren die »guten, einfachen Leute« von Eltern, welche durchaus nichts von den literarischen Bestrebungen ihres Sohnes verstanden. Die Schwestern waren keinesweges schlechter erzogen, als die Töchter aus dem mittleren Bürgerstande, sondern wußten genau ebenso viel und ebenso wenig, wie alle jungen Mädchen ihrer Klasse. Das ganze Familienleben war ein städtisch-ländliches, das will sagen das poesieloseste, das es geben kann. Nur die allerallgemeinsten Gebräuche wurden beobachtet und auch nur mit einer gewissen Nachlässigkeit. Viel Besuch kam in's Haus, den ganzen Nachmittag saßen Nachbarinnen und Freundinnen mit Frau Verstraaten schwatzen. Marüs ging im Umkreise mehrerer Meilen auf die Dörfer, um Geschäfte zu machen, oder besuchte die Getreidemärkte in der Nähe. Wenn man erst hinter diese prosaische Wirklichkeit kam, so konnte man sich des Lächelns über den naiven Instinkt nicht erwehren, mit welchem Marüs das Rechte getroffen hatte, um sich gerade in der neuvlämischen Literatur interessant zu machen. Ihr höchstes Ideal ist noch immer das »blonde, blühende Mädchen vom Dorfe,« Marüs hätte gar nichts Besseres wählen können, als den »jungen Bauern.« Dabei war durchaus keine Berechnung im Spiel, nur der Takt der männlichen Koketterie.

Wie er nun einmal war, idyllisch auf dem Papier und industriell in der Wirklichkeit, kam Marüs, getreu seinem Versprechen, am Sonntag der Kirmeß nach Antwerpen. Die Eltern sahen diesen ersten Ausflug in die Welt nicht gerade gern, waren aber doch zu vernünftig, um den Sohn halten und binden zu wollen. So brachte denn Marüs die nächsten Tage und Nächte im vollsten Kirmeßtaumel zu. Auf die Variétésbälle, auf diese berühmtesten und buntesten Bälle in dem ballreichen Antwerpen, ging er mit Hendrik und Edward, welche beide Rien begleiteten. Rien, die unaufhörlich über ihre schlechte Gesundheit wehklagte, würde doch um keinen Preis einen Ball in den Variétés versäumt, und es sich und ihren Begleitern ebenso wenig verziehen haben, wenn sie, pünktlich um Zehn gekommen, vor Vier hätte weggehen müssen.

In dem Tumult, der bei solchen Gelegenheiten den berühmten Saal, »sondergleichen im Land,« die ganze Nacht durch erfüllte, befand die kräftige, begehrliche Natur Cesarinens sich in ihrem Elemente. Das blonde, starke Mädchen wurde dann etwas wild, glühte mit den zweitausend Gasflammen um die Wette, und machte mit den Armen Bewegungen, die nicht immer ganz ohne Gefahr für die Nächsten blieben. Doch trotz dem Allem, vielleicht gerade wegen dieses Allen, erregte sie vielfache und lebhafte Bewunderung, welche sich auf dem zweiten Balle so thatsächlich äußerte, daß Hendrik mit Faustschlägen das Monopol seines Glücks zu vertheidigen hatte. Edward steckte bei diesem Kampf um die Schönheit lachend die Hände in die Taschen, Marüs dagegen stand Hendrik tapfer bei. Eine wunderliche Art für zwei junge Dichter, die Ritter eines Mädchens zu spielen, indessen es war an der Kirmeß und in den Varietés.


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