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IV.

Die Constitution erschien und machte in gewissen Schichten von Antwerpen Aufsehen, bald auch in dem liberalen Theil der vlämischen Journalistik. Sie schrie gut und kämpfte den Wahlkampf ungefähr auf die Art, wie Knaben einen Krieg mit Schneebällen führen, wenn es nämlich Schnee giebt. Man kann es dabei nicht immer ganz berechnen, wem gerade ein Ball an den Kopf fliegt, und es kommt auch weiter nicht darauf an. Am Ende, sie that was ihres Amtes war, die Constitution, sie gab ihren Gründern Geschrei für Geld. Am Vorabend der Wahlen wurde sie pathetisch und beschwor die Bürger der geliebten Vaterstadt, sich am nächsten Tage ruhig zu verhalten, möge siegen, welche Partei da wolle. Die liberalen Candidaten kamen mit einer glänzenden Mehrheit durch, Hendrik war auf dem Gipfel des Stolzes und der Freude: kaum zwei Monate Journalist, hatte er schon etwas Großes bewirken helfen – was für Aussichten für später! Er war so erregt, daß Jef ihm mehrmals Artikel streichen mußte. Jef war viel zu schlau und zu kühl, um sich noch ein Mal zu compromittiren. Nicht etwa, daß er schließlich ministeriell geworden wäre, als ein liberales Ministerium zusammentrat. Jef konnte doch nicht so aus seiner Rolle des unabhängigen Bürgers fallen. Es ist wahr, man sah ihn einige Monate später im Vorzimmer vom Minister des Innern, versehen mit einem schwarzen Frack wie kein anderer Mensch in ganz Belgien den Muth gehabt hätte, ihn zu tragen, mit einem übereinstimmenden Hut und mit einer ungeheuren Cravatte von weißem Musselin, die nicht genug gestärkt war und daher die Flügel hängen ließ wie eine geschlachtete Gans. In diesem Aufzuge war Jef sehr ungnädig, daß man ihn nicht augenblicklich vorließ. Umsonst stellte ein Freund, der den Muth so weit trieb, Jef unter diesen Umständen anzuerkennen, ihm mit Vernunftgründen vor, der Minister habe doch unmöglich den englischen Gesandten, der eben bei ihm war, warten lassen können. Jef hörte nie auf Vernunftgründe, es lag das in seinem Unabhängigkeitssystem. »Wenn der Minister glaubt, er könne mich wie einen gewöhnlichen Menschen behandeln, so werde ich dem Minister zeigen, was ich bin,« murrte und knurrte er. »Was wollt Ihr aber eigentlich vom Minister?« fragte der Freund. Jef wollte fünfhundert Franken. Nicht etwa als Subsidien für sein »liberales« Blatt, nein, Jef gehörte nicht zu den Redacteuren, die sich verkaufen, sondern für ein frommpoetisches Buch, welches Jef geschrieben hatte, und welches nicht recht gehen wollte. Es ist das sehr gebräuchlich unter den vlämischen Schriftstellern, daß sie sich an die Regierung wenden, um einen Beitrag zu den Kosten zu erbitten, welche der Druck ihrer Werke veranlaßt, wenn nämlich die Kosten durch die Unterzeichnungen nicht hinreichend gedeckt worden sind. Meistens wird die Regierung einem solchen Ansuchen gerecht, auch Jef erhielt die Zusicherung seiner fünfhundert Franken. Am Abend saß er in einem Café und sagte in einem sehr hohen Tone: »Wenn der Minister etwa denkt, daß ich seiner miserablen fünfhundert Franken wegen zu allen seinen Decreten schweigen werde, so irrt er sich. Ich werde nach wie vor sagen, was ich will, frei von der Leber heruntersprechen, Alles tadeln, was mir nicht gefällt, denn ich bin unabhängig.« Und Jef setzte sich seinen heute ausnahmsweise schwarzen Hut fester und zog würdevoll seine ungeheure Halsbinde in die Höhe.

Dabei ging seine Zeitung. Sie war so eine Art alte Frau Base, wußte allen großen und kleinen Klatsch in der ganzen Stadt. Kein Junge durfte durch ein Kellerloch treten und sich sein Bein brechen – arm Schäfchen! warum gab es Kellerlöcher? – das zeugte von keiner Sorgfalt der Regierung für's »Volk« – also, kein Junge durfte durch ein Kellerloch treten oder eine Flasche mit Oel zerbrechen oder auch nur das Geringste mausen, kein Mann durfte seine Frau und keine Frau ihren Mann prügeln, kein Paar unglücklicher Matrosen durfte sich die Festlanderholung einer kleinen Keilerei gestatten, ohne daß Gevatterin Constitution ihren Finger ausstreckte und aus heller Kehle rief: »seht den Jungen, seht die Jungen, seht den Mann, seht die Frau, seht die Matrosen!« Sämmtlichen Theaterscandal, sowohl vor wie hinter den Coulissen, schnüffelte sie gleichfalls aus, und alle ihre Gegner, politische wie literarische, konnten sich nicht über Vernachlässigung beschweren – sie bekamen ihr Theil und bekamen es gut und reichlich. Wenn der Scandal an und für sich schon anzieht, so trug Jef's Erzählungsweise noch dazu bei, ihn unterhaltend zu machen. Er hatte eine eigene Phraseologie, ein ganzes Wörterbuch voll Benennungen für Straßenjungen, Diebe und andere ehrenwerthe Subjekte dieser Sorte. Und das Gute war, man verstand die Ausdrücke, auch wenn man sie noch nie gehört hatte. Sie paßten auf die Gegenstände, welche sie bezeichneten, sie saßen mit ihnen unter ein und derselben Haut. Und da diese Gaunersprache, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit dem grobkörnigen Salz und Pfeffer eines echt niederländischen Humors freigebig gewürzt war, so konnte es Niemand befremden, daß die Konstitution in den Tempeln des Gersten einen erfreulichen Erfolg hatte.

Hendrik machte für die Zeitung die Uebersetzungen aus den Sprachen, welche Jef nicht verstand, nämlich aus dem Englischen, Deutschen und Italienischen, welches Letztere er jetzt auch gelernt hatte. Außerdem schrieb er Verse in die Konstitution, denn er hatte ein allerliebstes Liedertalent, frisch und unmittelbar aus seiner Natur hervorgesprungen. Anfangs hatte er es zu Gesängen in Jef's Manier angewandt und konnte sich daher gleich diesem an schönen Abenden von trunknen oder doch wenigstens sehr lauten Stimmen durch die Straßen schmettern hören. Allmählig begann er sich dieser Art von Berühmtheit zu schämen, und ein Bändchen, welches er kürzlich herausgegeben hatte, zeigte ihn von einer ganz neuen Seite, wie er es ausdrückte: von einer deutschen. Seine früheren »Kunstfreunde«, eine niederdeutsche Bezeichnung für die, welche bei dem Babelschen Thurmbau der Literatur an einem Strange ziehen, warfen ihm diese deutsche Richtung vor, sagten ihm, er sei zu »nordisch«, nicht länger vlämisch. Hendrik behauptete dagegen, daß »Vlämisch sein« nicht blos darin bestehe, daß man lose Lieder für Arbeiter und Matrosen mache, und der Erfolg gab ihm Recht. Sein kleines Buch wurde mit allgemeinem Beifall aufgenommen, nicht nur von seiner eigenen Partei, auch von den Katholiken. Anderswo als in Belgien wäre es konfiszirt worden, denn es enthielt einige allerliebst gereimte Unverschämtheiten unter der Adresse der Regierung. Aber in Belgien läßt die Regierung ihre lieben Unterthanen schreien, so viel sie wollen, wenigstens so viel wie sie es auszuhalten vermag, ohne geradezu taub zu werden; und sie hat Recht, denn dürften sie es nicht, sie stürben sammt und sonders an versetztem Geschrei. Sie sind wie Kinder in der Wiege: sollen sie sich gesund und naturgemäß entwickeln, müssen sie ihre Lungen üben können.


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