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XV.

» Die Börse von Antwerpen,« sagt in seiner »Geschichte der Architektur in Belgien« der gründliche und tüchtige Gelehrte Schayes Antoine-Guillaume-Bernard Schayes (1808-1859) : Histoire de l'architecture en Belgique. 1850., der viel zu früh starb, »die Börse von Antwerpen besteht in einem viereckigen Hofe, um welchen ein Portikus mit gedrückten Wölbungen läuft, der von achtunddreißig Säulen aus blauem Stein getragen wird. Diese Säulen von sehr geringem Durchmesser, deren Fuß achteckig und deren Schaft mit erhabener Arbeit geziert ist, tragen achtunddreißig dreibogige Arkaden. Ueber dem Portikus erhebt sich ein sehr einfaches Stockwerk, welches im vorigen Jahrhundert mit einer Reihe viereckiger Fenster versehen wurde, und inwendig eine Gallerie und daranstoßende Läden enthielt, die ihr Licht von oben empfingen. Man gelangt in diesen Hof durch vier Eingänge, die sich in der Mitte der vier Seiten befinden, und aus zwei Bogen gleich denen des Portikus bestehen. Außerhalb des Gebäudes erheben sich an den entgegengesetzten Enden zwei Thürme, einer rund, der andere achteckig.«

Das war jedoch die Börse von Antwerpen nur, so lange noch der blaue, oder in Belgien recht oft graue Himmel ihr Dach war. Als sie erst ihre prächtige Ueberwölbung von Eisenwerk und Glas hatte, als die Fenster des obern Stockwerks mit dem Bogenstyl des Ganzen in Einklang gebracht worden waren, da hat es nicht bald ein so lichtes, so phantastisches und zugleich so harmonisches Gebäude gegeben, wie die dreihundertjährige Börse von Antwerpen.

Den ersten Januar 1854 versammelten die Handelsherren, welche drei Monate lang im Lokal der Cité zusammengekommen waren, sich zum ersten Male unter dem neuen durchsichtigen Dach. Der Architekt und Gießer Marcellis in Lüttich hatte das kühne und geniale Werk vollendet. Am zweiten August 1858 um Mitternacht stürzte die prachtvolle Kuppel ein, welche das Dach krönte. Die Börse brannte.

Wie das Feuer entstanden war, hat nicht ausgemittelt werden können. Genug, daß es sich durch die Gasröhren mit furchtbarer Schnelligkeit verbreitete.

Als man entdeckte, daß die Feuersbrunst ihre Rauchfahne über dem gezeichneten Gebäude aushänge, da zuckte in elektrischen Schlägen der Schrecken durch die Stadt. Sie schlief noch nicht, selbst in kalten unfreundlichen Winternächten gehen die belgischen Städte nie vor Mitternacht ganz zur Ruhe, um wie viel weniger denn in einer solchen heißen Sommernacht, wie die vom zweiten zum dritten August. Aufgestört von den Plätzen, wo es saß und trank, stürzte Antwerpen herbei, um seine Börse zu retten. Aber so schnell es war, das Feuer war noch schneller.

Es gab nur vier Zugänge: in diesen vier engen Straßen mußte der Beistand sich zusammendrängen. Kaum daß er Platz hatte, sich zu bewegen, geschweige denn erfolgreich zu wirken. Und die Börse lag mitten in die Stadt hineingesenkt, also überall Dächer, welche geschützt werden mußten, damit sie nicht auch vom glühenden Fieber des Brandes ergriffen würden.

Wie es überall Freiwillige gibt, welche die Gefahr nicht blos nicht fliehen, sondern ihr entgegeneilen, so war es auch hier. Lange bevor die Spritzen, die Polizei, die Behörden auf dem Platze waren, selbst sein konnten, hatten einzelne muthige Bürger die Thüren eingeschlagen, und retteten was sie vermochten von den wichtigen Papieren, welche in der Börse aufbewahrt wurden. Hendrik war nicht unter diesen Ersten, er war, als die Nachricht ihn getroffen, zu weit entfernt gewesen, aber er kam noch vor Mitternacht. Eine einzige Spritze war da, Hendrik warf einen raschen Blick der Verwunderung und des Entsetzens auf das Dach, welches in glühender Wildheit in die Nacht hinausflammte, und dann drängte er sich in die Kette und fing an, zu arbeiten.

Plötzlich ging ein leises Zittern – war's durch die Luft, war's durch den Boden – Jeder fühlte es. Ein Augenblick der Athemlosigkeit unterbrach die kräftige Arbeit des Löschens. Dann klirrte es, das brechende Glas stürzte herab, ein Krachen, ein donnerndes Getöse, und die herrliche Kuppel brach zusammen.

»An's Werk!« rief Hendrik, der sich zuerst wieder gefaßt hatte.

»An's Werk!« rief ein Zimmermann, der mit einigen Andern eine Leiter herbeischleppte.

»Was wollt Ihr?« fragte Hendrik, während er Eimer auf Eimer nahm und weiterreichte.

»Auf's Dach steigen,« antwortete der kühne Handwerker, dessen Name Kerckx war. In der That klimmte er mit einem Beil bewaffnet hinan, ein Glasergeselle folgte ihm mit einem schweren Hammer, beide Männer begannen das Dach einzuschlagen, um das Feuer abzuschneiden.

Aber es trotzte ihnen, es zuckte näher und näher, leckte gieriger und gieriger nach einem Opfer »kommt herab! Ihr verbrennt!« schrie Hendrik gellend auf, und der Knäuel der Rettenden wiederholte den Angstruf.

Die Männer fühlten das sichere Verderben unter sich, das Glas glühte, das Eisen gab nach, sie entsagten dem ohnedies nutzlosen Versuch und kamen herab, doch kaum wieder auf der Erde angelangt, fragte Kerckx dringend: »Können wir denn Nichts Anderes thun?«

»Vielleicht versuchen, Papiere zu retten,« erwiederte Hendrik. »Aus der Syndikalen Kammer –«

Inmitten des Getöses der Flammen und des Lärms der Löschversuche konnten nur kurze Reden gewechselt werden, zu langen reichte die Kraft der Stimmen nicht aus.

Kerckx eilte bereits der Seitentreppe zu, welche nach der Syndikalen Kammer führte. Hendrik brach durch das Gedränge und folgte ihm. Mehrere Männer noch stürzten Hendrik nach.

Die Thüre der Kammer war verschlossen. Kerckx schlug mit seinem Beile dagegen. Sie gab nach, doch erst nach mehreren Minuten. Während die Rettenden sich eines Schrankes bemächtigten, welcher Papiere enthielt, ihn bis an die Treppe schleppten und dort hinunter stürzten, folgten ihnen die Flammen, welche sie bereits im Zimmer gefunden hatten. Als Kerckx und Hendrik sich umwandten, um zurückzustürzen und auch die Rettung eines zweiten Schrankes zu versuchen, der weiter drinnen im Zimmer stand, schlug der Brand ihnen schon durch die Thüre entgegen. Sie mußten zurück und hinunter, nicht ohne versengte Stellen an ihren Kleidern.

Was da fehlte, war das Wasser. Die Trockenheit in Belgien war gerade damals auf ihren Höhepunkt gestiegen. Allmälig jedoch konnten die Spritzen besser arbeiten. Alle nahe liegenden Häuser thaten sich auf, um ihre Brunnen und Plumpen zur Verfügung der Schöpfenden zu stellen. Ein Brauer, Grambeeren, kam mit zwölf Tonnen Gerstenbier angefahren, die er zum Löschen hingab.

Die Börse selbst zu retten, dazu war keine Hoffnung mehr, sämmtliche Anstrengungen des endlich geregelten Löschdienstes mußten einzig darauf gerichtet werden, das Feuer in dem aufgegebenen Gebäude einzuschließen.

Etwas vor zwei Uhr stand Hendrik einen Augenblick am Eingang des Telegraphenbureaus, dessen Archive zu retten ihm gemeinschaftlich mit Kerckx und einigen Beamten des Bureaus gelungen war. Die Krone des Uhrthurms stand in vollen Flammen. Dabei ging die Uhr noch und schlug Viertelstunde auf Viertelstunde; es war, als wollte sie den Todeskampf der Börse messen. Sie konnte es nicht bis zum Ende, bald nach Zwei ließ der Thurm seine Feuerkrone mit donnernder Gewalt in die Zwölfmondenstraße fallen, aber sie hatte bis zum letzten Augenblick ihre Pflicht erfüllt, die arme Uhr der schönen, gewesenen Börse.

Es war Hendrik, als habe der Herzschlag des unglücklichen Gebäudes aufgehört. Was jetzt noch brannte, waren nur noch Reste. Ein uneigennütziger Schmerz ergriff den jungen Mann. Er streifte sich hastig eine Thräne von der Wimper. »Es ist Schade – sie war so schön«, murmelte er.

Dann sammelte er von Neuem seine Kraft und wandte sie an das, was noch zu thun blieb. Bis um vier Uhr arbeitete er noch, da jedoch fühlte er sich gänzlich erschöpft.

»Ich kann nicht mehr«, sagte er zu Edward, der später gekommen und daher noch frischer war, »die Beine schwanken mir unter dem Leibe, und ich sehe die Flammen nur noch wie durch einen Nebel.«

Edward fand eben nur Zeit zu der kurzen und vernünftigen Antwort: »Geht nach Haus und zu Bett.«

Hendrik entfernte sich zögernd und widerwillig. Er hatte sich selbst noch nicht genug gethan. Doch wie er gesagt, es war ihm körperlich unmöglich, noch länger zu arbeiten. Während er sich die Börsenstraße hinab durch das Getümmel drängte, murmelte er: »Wie wird sie nur diese schreckliche Nacht zugebracht haben?«

»Sie« war nicht Cesarine.

»Herr Van Loon!« rief eine Frauenstimme auf deutsch. Hendrik schrak zusammen, seine Nerven waren zu gespannt, um eine Ueberraschung nicht unangenehm zu empfinden. »Sie hier?« sagte er, indem er sich neben der Hofräthin an die Mauer des Hauses lehnte, gegen welches sie sich gedrückt hielt. Es war an der Ecke der Börsenstraße und der langen Neuen Straße.

»Ich mußte her, ich hielt es bei der allgemeinen Aufregung zu Hause nicht aus,« antwortete die Hofräthin. »Und ich freue mich, daß ich dieses Schauspiel gehabt habe. Wie furchtbar und wie herrlich! Dergleichen sieht man nur ein Mal.«

Die Künstlerin sprach, aber dem Antwerpner klangen ihre Worte verletzend, und er antwortete mit Ironie: »Ja, die Börse von Antwerpen brennt nicht alle Tage.«

Er hörte weinen; es war Helene, die sich hinter der Mutter verbarg.

»Ach!« sprach er, indem er sich ihr lebhaft näherte und unwillkürlich ihre Hand ergriff, »Sie fühlen, was wir verlieren!«

Hendrik hatte Helene noch nie weinen sehen. Das Mädchen war zu stark, um dieses Ausdrucks ihrer Gefühle häufig zu bedürfen. Aber die gewaltsame Zerstörung dieser großen architektonischen Schönheit hatte sie bis in die Seele hinein erschüttert, und als sie Hendrik sah, wie er, bleich und erschöpft, aus der Anstrengung und der Gefahr kam, da brachen die Thränen hervor.

Hendrik hielt noch immer ihre Hand, und blickte sie mit einer Empfindung an, welche aus Mitleid und Anbetung gemischt war. Blaß, wortlos, weinend, kam sie ihm mitten in dem wilden Tumult umher wie ein Engel vor, aber wie ein leidender.

»Sie hätten nicht hierher kommen sollen«, sprach er mit zärtlichem Vorwurf.

»Mama wollte –« schluchzte sie.

»Das heißt, Mama wollte allein her, und das wollte Töchterchen nicht«, fiel die Hofräthin ein. Ihr Gewissen war unruhig, sie fürchtete, über die Künstlerin ein wenig zu sehr die Mutter vergessen zu haben.

»Lassen Sie mich wenigstens jetzt Sie nach Hause führen«, fuhr Hendrik fort. Dann sich zur Hofräthin wendend, setzte er hinzu: »es gibt jetzt nichts mehr zu suchen, das Werk der Zerstörung wird nun einförmig fortgehen.« Er zog Helenens Arm durch den seinigen. Sie widerstrebte ihm und flüsterte schüchtern: »Aber Sie müssen schrecklich müde sein.«

»Nicht so, daß ich Ihnen nicht noch als Stütze dienen könnte«, antwortete er lächelnd. Zum ersten Male hatte er das Gefühl, als könne er sie, die ihm bisher immer so überlegen gewesen war, schützen und leiten, und dieses Empfinden machte den beweglichen und leichten Jüngling, welcher durch die Begebenheiten dieser Nacht bereits in den Ernst hineingedrängt worden war, auf kurze Zeit zum Manne.

Er hatte mit Helenen am Arm den Platz noch nicht verlassen, als abermals der Boden erbebte, und mit neuem flirrenden Gekrache das übrige Dach zusammenbrach und in seinem Sturz die Eisensäulen zerknickte, welche es bisher mit so viel Kraft und so viel Leichtigkeit zugleich getragen hatten. Diese neue Erschütterung war zu viel für Helene. Sie schwankte, und ohne Hendrik würde sie in die Kniee gesunken sein. Er faßte hastig mit der linken Hand die ihre, und indem er so den rechten Arm frei bekam, legte er ihn um ihren schlanken Wuchs und hielt sie so lange aufrecht, bis er ihre Stärke zurückkehren fühlte. Dann gab er ihr augenblicklich nach, als sie eine leise Bewegung machte, um sich aus seinem Arm loszuwinden. Als die Hofräthin sich von dem Brande, dem sie sich bei dem Einstürzen des Daches hastig zugekehrt hatte, wieder ab und zu dem jungen Paare zurückwandte, da stand es, auf sie wartend, wie es vorhin gestanden hatte, Helene an Hendrik's Arm, die Augen gesenkt, nur noch leise zitternd. Auch Hendrik hielt jetzt seine Augen auf den Boden gerichtet, und so, ohne Blick und ohne Wort, führte er, vor der Mutter herschreitend, das junge Mädchen bis an die Thüre ihrer Wohnung. Dort fragte er fast schüchtern, ob er an diesem Tage noch kommen und nachfragen dürfe – er war seit dem Annentage nicht mehr bei den Herrmanns gewesen. Die Hofräthin antwortete eifrig: »Gewiß, lieber Herr Van Loon – Sie werden uns dann Näheres mittheilen können, und müssen uns auch noch erzählen, was Sie gethan haben, denn Sie haben viel gethan, dessen bin ich sicher.« – »Einiges, aber Nichts, was der Mühe werth ist«, antwortete er und suchte Helenens Auge. Sie erhob es eben zu ihm, der Schatten eines Lächelns spielte um ihre blassen Lippen. – »Tag!« lispelte sie auf vlämisch, und verschwand in dem noch dunkeln Hause.


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