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Kapitel 2.
Ganz de Ole, mit Hut und Snut

Auch noch aus der kleinsten Blüte
läßt sich ein Schmäcklein Honig saugen.

Mein heimatliches Dorf ist ein langgestrecktes Sachsendorf. Weithin zu beiden Seiten einer Wiesenmulde erheben sich die Häuser. Stolz schauen die Giebel der Meierhöfe hinweg über die vorgelagerten kleineren Kötner-, Brink- und Abbauerstellen, auf die ihnen viel beneideten, herrlichen Quäst- und Rieselwiesen, so nicht ihresgleichen haben weitherum im Lande. Gleich hinterm Steinsink beginnt das Dorf, mit dem Bauernende, da, wo der Heiderücken jäh abfällt und aufhört und mit einem hier entspringenden Bach auch zugleich die Wiesen ansetzen. Auch dieser Bach, wie ist er schön! Zwischen üppigen Ufern, mit Schilf bewachsen, Kalmus, Huflattich, auf tiefbraunem Moorgrund, goldschimmernden Sandablagerungen hin, bewegen traumhaft leise sich seine Wellen. Ganz nach eigenem Willen fläzen sich im Bauernende die Häuser. Das dunkle Blättergrün der Hofeichen, und wenn von den moosigen Strohdächern der blaue Rauch sich kräuselt zum blauen Himmel hinauf. Buttervögel, von den Wiesen her, gaukeln überall herum. Kein Mißton stört den Frieden. Jeder Laut tut wohl. Auch das Dengeln, ja, das Dreschen – der besinnliche Zweischlag, der fixlebendige Sechserschlag: »In düt Hus, in dat Hus, in't Lütthus, in't Backhus!« Große grüne Schillebolde tummeln sich aus, Stahlfliegen stehen in der Luft, wie prick hingenagelte, funkelnde Knöpfe, und die Bremsen brummeln und summeln, die Immen, und im tiefen Baß die Hummeln. Immer die gleichen Akkorde, anschwellend, und dann wieder sachte verhallend. Unaufhörlich schlagen die Finken. Dann und wann bellt ein Hund. Die Hühner gackern, die naseweisen jungen Hähne üben sich im Krähen. Gänse wundern sich unversehens und tun ganz fassungslos. Eine Kuh brüllt einmal, ein Pferd wiehert, und die Ackerwagen poltern und knarren auf den Sommerwegen. Zuweilen ist's, als schallte ein zauberstarkes Wort plötzlich herein, weit, weit von draußen her, doch verweht im Winde ohne Sinn, und alles hält den Atem an und lauscht, sogar die unermüdlich herumflitzenden Schwalben, die geschäftigen Sprehen machen eine kurze Rast. Kinderlachen noch, Grußesworte im Vorbeigehen und auch wohl ein kurzer Klöhnschnack. Ist doch immer alles an der Arbeit, fleißig, alt und jung, solange die Sonne vom Himmel den Segen ausgießt voll hin über die Fluren.

Das Bauernende ist das eigentliche Dorf im Dorfe. Seine Bewohner bilden den wahrhaftigen nahrunggebenden Nährstand, und sie sind stolz darauf. Ihnen gehört fast aller Grundbesitz in der Gemarkung. Nur wenige alte Hausnamen gibt's, die durch lange Jahrhunderte sich immer gleichgeblieben sind und auch immer ihre Geltung behalten, trotz allem Wechsel des Besitzes. Was zum Bauernende gehört, hält unter sich zusammen und pflegt sich wenig zu scheren um die Zugezogenen oder gar um die Hungerleider nach ihrer Ansicht: die Beamten. Sitzt man doch Sonntags auf seinen Erbplätzen in der Kirche, welche die stolzesten und besten sind, in nächster Nähe des Altars und der Kanzel.

Die alte Kirche umgibt ein dreifacher Kranz mächtiger Eichen. Noch viele Dörfer, viele Stunden weit in der Heide verstreut, sind hier eingepfarrt, und somit ist die Kirche ein entsprechender geräumiger Raum, charaktervoll, ehrwürdig, mit fast meterdicken Mauern, aus Füllziegeln und Findlingen, mit Goldocker getüncht ursprünglich, jedoch vor starker Verwitterung nun in allen Farben schillernd. Alles an ihr ist unregelmäßig, eigenwillig. An der Sakristei kann man hineinsehen. Da sieht man die vielfach gestützten hölzernen Priechen, die Orgel und daneben das uralte Kruzifix, arg wurmzerfressen und mit kaum noch erkennbarer Bemalung, noch aus der katholischen Zeit stammend. In Steinrot und Ocker plump hingestrichen, »Deckengemälde« schildern den dermaleinstigen Lohn der Frommen, und daneben, und zwar weit ausführlicher – liebevoller – die unterschiedlichen Höllenstrafen, in grauenerregender Scheußlichkeit. Man muß, wenn's flecken soll, dem Bauer grob kommen in der Kunst und unmißverständlich, dachte wohl der niedersächsische Michelangelo, der's gemacht hat, als er's in Gottes Namen unternahm und die Quaste einmal mit dem Pinsel vertauschte. Aus der Barockzeit stammen diese Bilder. Verschiedene der bereits halb und ganz verklärten Frommen wie auch einzelne Engel tragen Allongeperücken und stecken in Reifröcken, züchtigermaßen, und in tief zugespitzten Miedern. Was für eine Kirche! Ein massiver Turm ragt an ihr auf wie der Buckel eines vierschrötigen Niedersachsen, und darin ihre Lunge erst, die große Glocke – wie voll und feierlich sie klingt und mächtig ins Herz hallend, besonders wenn jemand im Dorfe zur letzten Ruhe gekommen ist und sie dafür ihm nun Frieden nachläutet! Man hat das Gefühl, in so einer Kirche wie dieser ist die Heimat und alles, was man liebt, verankert für alle Ewigkeit.

Am Marktplatz, in nächster Nähe der Kirche, haben wohlweislich die Ackerbürger sich angesiedelt. Mehr der Acker als das Handwerk muß sie ernähren. Vier Wirtshäuser hier, im Norden und Süden, Westen und Osten. Darunter das großmächtige, alte Stammgasthaus, mit seinem riesigen Dache wie eine umgekehrte Krippe. Am anderen Ende, nach dem Amte zu und dem Gerichte, der Domäne und dem Kloster, einem der adligen Frölenklöster der Lüneburger Heide, wohnt die Beamtenschaft, teils zur Miete bei den Ackerbürgern, teils in eigenen Häusern, freundlichen Erkerhäusern mit Gärten. Bis dicht an den Wiethorn heran, jenen prächtigen Grenzwald, der Amt und Kloster in ihrer Ruhe und Vornehmheit abschließt vom Bürger- und Bauerntum, und mit Wohlwollen.

Die Scholle – der eigene Grund und Boden, eine blutwerte Sache, wahrhaftig, und darum und darauf zu leben und zu sterben verlohnt sich! Und mein Vater, der Bauernsohn, mußte hier hausen, in seinen alten Tagen immer noch, im Zwange einer Mietwohnung, am Markt, mit seinem schlechten Pflaster, neben der Post rechts und schrägüber dem unruhigen Stammgasthause. Lärm hier von allen Seiten und Prosa. Ja, wenn nicht der übergroße – Segen in der Familie gewesen wäre. Viele Kinder, viele Sorgen. Obschon sie fast alle bereits zur Erde gebracht waren. Trotz seines von Natur so genußfrohen Herzens mag er wohl manchmal melancholisch genug von seinen abendlichen Spaziergängen heimgekehrt sein, zumal auch ein Hang zum Grübeln in ihm lag. Hatte er's doch mit ansehen müssen, wie im Orte von den Beamten einer nach dem anderen sich angebaut hatte.

Der königliche Amtsrentmeister, Domanialrechnungsführer und Klosterrezeptor Karl Johannes Berkebusch, man kannte ihn: trotz allem war er nicht neidisch, nicht verbittert, und so waren ihm die Jahre vergangen, die »besten«, das Haar war ihm dünn geworden allmählich, und auch sein Rücken fing langsam an, sich zu krümmen.

In jener Mietwohnung habe ich meine erste Kindheit verlebt. Unter den Eichen des Kirchhofes, auf den eingesunkenen Gräbern und am alten Spritzenhause vorn am Rande hab' ich meine ersten Freuden gehabt, hier hab' ich die ersten Blumen gepflückt, die ersten Käfer und Buttervögel gefangen und im Herbst Eicheln gesammelt für das jeweilige Jahresschwein unseres Hauswirtes. Das stets verschlossene, geheimnisvolle Spritzenhaus – einmal stand's offen, und ich sah die alte Gemeindespritze, die ledernen Feuereimer, die Feuerlaternen, das verbeulte Signalhorn und die alte Feuertrommel. Das alles deutete hin auf das Walten unheimlicher Mächte. Von der Bank vorn am linken Pfosten konnte ich, wenn ich mich etwas aufreckte, die Windmühle draußen sehen, mit ihren phantastischen, sausenden Flügeln, hoch oben auf dem Prachelberg, mit der »Grube« dahinter und der »Hellkuhle«, und da gehen sie um, die »bösen Undinger«, hinter den Wacholdern, Zwieselfuhren und Birken, der Pastor ohne Kopf, das Klageweib, der Nachtrabe, Zaunhase, witte Schimmel, die milchweißen Rehe mit kuhlangen Schwänzen, alle, alle.

Schon früh bin ich dem Tod zum ersten Male begegnet. Von klein auf strich ich viel in Moor und Heide herum. So auch einmal an einem strahlenden Juninachmittag, als der Brahm am Moorrande noch blühte und etwas weiter hinein in den feuchten Niederungen die weißen Flöckchen des Wollgrases wehten und nickten. Ich hatte mir einen prächtigen Buttervogel gefangen. Wie ich ans Dorf komme, sehe ich gleich am ersten Hofe Gruppen schwarzgekleideter Menschen. Die kinderfreundliche Großmutter vom Hause, die »Grone« – oft hatte sie mir eine Handvoll Kirschen übern Zaun zugesteckt –: auf der Diele liegt sie, tot, im Sarge, und sie soll nun begraben werden. Als ich meine Hände falten und beten will, entwischt mir der Buttervogel, er setzt sich der Grone prick auf die Nase, da putzt er sich die Flügel.

Ich war ein schlimm verzogenes und verpäppeltes Kind, ich hab' meinen Eltern das Leben schwer gemacht, das muß ich zu meiner Schande bekennen. Auch meinen Lehrern! Wenn ich später überhaupt einmal ernsthaft nachdachte und meinen Verstand anstrengte, handelte sich's meist darum, wie ich mit immer neuen Kniffen wohl die Schule schwänzen könnte. Überhaupt vor der Schule hatte ich eine schier unüberwindliche Abneigung. In der ersten Zeit mußte mich Dortchen, unser Mädchen, manchmal in einer Kiepe, in welcher ich festgebunden wurde, hintragen. Bis ich mich dessen denn doch schämte und nun wenigstens hinging. Lesen lernte ich schnell und leicht, da mich's interessierte. Jedoch mit dem Rechnen stand ich auf dem allerbitterbösesten Kriegsfuß. Auch später noch. Lebenslang. Daß ich somit auf dem besten Wege war, zu mißraten, war klar. Denn Buße und Ausgleich muß sein, zuletzt will man in allem doch immer die Moral von der Geschichte sehen.

Ging derweil das Leben im Orte seinen gleichen Schritt und Tritt, auch in meinem Elternhause, nach Turmuhr und Betglocke gemessen in seinen Pflichten und Genüssen. Rentmeister Berkebusch verwaltete die Amtskasse. So wachte er darüber, daß immerdar richtig ad cassam gezahlet wurde. Und wer ex cassa bar zu empfangen hatte, kam und holte sich's von ihm. Tagein, tagaus saß er über seinen Manualen und Registern, trug abwechselnd ein und löschte, kalkulierte und rechnete, buchte die Holzgelder, die Zehnten, den Heringsschatz und die Rauchhühner und sonstigen Gefälle und Abgaben naturaliter. Unermüdlich ließ er die Feder laufen, griff nach der Sandbüchse zwischendurch, nach der Papierschere, dem Lineal, Wachsstock, Siegellack und Stempel. So arbeitete und sorgte er pflichtmäßig sich ab fürs Domanium, für den Fiskus, der ewig fressen will und keine Barmherzigkeit kennt. Er saß weit vornübergebeugt in seinem tief ausgesessenen, alten Schreibstuhl. Der hatte im Leder Risse und Löcher: ich habe mir trotz strengen Verbotes aus dem roßhaarenen Eingeweide manches krause Zöpfchen heimlich herausgezupft. Der alte braune Bursche war ein Genie, er hatte seine Mucken und wollte verstanden sein, es war für den Uneingeweihten eine Kunst, sich in ihn mit dem Hinterteil richtig hineinzupassen. Jede Feder im Polster federte ganz nach ihrem eigenen Willen, und sämtliche Federn im Chor ließen bei jeder Bewegung, die man machte, richtige, volle Akkorde erklingen, ausgesprochen in Moll.

Legte Rentmeister Berkebusch die Feder einmal weg, so machte er sich ans Geldzählen, und zuletzt tat er das jeweilig Eingegangene und Abgezählte in nach Vorschrift versiegelten Rollen und gut übersichtlich in die Amtskasse, die war untergebracht in einem graugestrichenen und eisenbeschlagenen, hammelhohen Geldkasten.

Rentmeister Berkebusch verrichtete seine Arbeit im Zwange des Dienstes mit Seufzen, ohne Freude daran. Um etwas Ablenkung und Trost zu haben, hat er eine Menge Bilder und Naturgegenstände an den Wänden und in den Aktenregalen, eine Haselmaus, einen Lemming, Grünspecht, Seidenschwanz, selbstpräparierte Frosch-, Fisch- und Mäuseskelette und noch allerhand in Spiritus. Vom Kachelofen lugt eine geschiente Trappe herunter. Die Bilder sind zumeist Kupferstiche, alt und vergilbt, aber auch einzelne goldumrahmte heben sich ab in leuchtenden Farben, voll idealen Schwunges, Berglandschaften mit überschwenglichen Sonnenauf- und Untergängen, Szenen aus Schillers Dramen: der liebeschwörende Mortimer, der sterbende Talbot.

Mit der Geburt des Sohnes hatte für Rentmeister Berkebusch ein neues Leben begonnen. War doch der ersehnte Sohn ihm ähnlich an Leib und Seele. Und als in des Kindes Entwicklung eine Knospe nach der anderen sich als vaterähnlich auftat, war sein Glück groß. Bald machte man denn auch diese seine neueste und besondere Schwäche sich zunutze. Besonders wer mit dem Holzgeld im Rückstand war oder sonstwie eine Gefälligkeit von ihm wollte, brauchte einleitenderweise nur zu sagen, auf den Jungen deutend: »Ganz de Ole, mit Hut und Snut!«

Jawohl, »ganz de Ole, mit Hut und Snut«, wenn »Rentmeisters Karlchen« an der Hand seines Vaters und mit seiner grünen Botanisierbüchse durchs Dorf schlendert! Völlig dieselbe Haltung, nachlässig und mit schiefem Kopfe, wie horchend oder die Flöte blasend, derselbe Tritt, knickig und leise auftretend, unsicher, wankend wie im Traume, sogar das Lahmen des Vaters unwillkürlich nachahmend. Durch einen Sturz lahmte der Vater.

Besonders auch in seiner Tierliebe ist der Junge der Sohn seines Vaters. Da läßt kein Buttervogel, kein Schillebold sich sehen am Brombeerstrauch, keine Hummel überm Rasen, kein noch so winziger Käfer, keine Grille am Feldrain: man ist beglückt davon. Eine Igelfamilie irgendwo ist mit Küchenabfällen, verschiedene Kreuzspinnen sind mit Fliegen immer zu versorgen. Hirschkäfer und Maikäfer, Raupen zum Verpuppen, ferner Laubfrösche werden gehalten, in großen Einmachehäfen, Molche, Eidechsen, Blindschleichen, Stichlinge und Steinbeißer. Es war ein großer Betrieb immer den ganzen Sommer durch, und auch der Vater war immer mit Leib und Seele dabei. Nur das Töten im Interesse der »Wissenschaft« litt er nicht, es konnte ihn sehr empören, wenn er erfuhr, dieser oder jener Spielkamerad seines Sohnes habe einen vierschrötigen Holzbock mit langen Fühlern, einen grüngoldenen Rosenkäfer oder gar einen kapitalen Hirschkäfer, ein Pfauenauge, einen Admiral oder Trauermantel, einen Linden- oder Ligusterschwärmer aufgespießt, wie man den mit Pfeilen gespickten heiligen Sebastian sieht auf alten Bildern. Und gar sein Zorn, wenn er hörte, was dabei öfter vorkam, gottleider, daß so ein armer Geselle nur betäubt gewesen war vom Spiritus und an der Nadel schließlich leise wieder angefangen hätte zu krabbeln!

Natürlich auch die heimatlichen Blumen, Kräuter, Bäume zeigte und erklärte der Vater dem Sohne, und so gewann jedes Fleckchen Natur seine besondere Bedeutung, sprach alles – alles draußen zu des Kindes Seele, Wunder wirkend, Wunder über Wunder. Der Vater aber genoß damit eine zweite, eine ewige Jugend, wie er denn im Herzen völlig ein Kind geblieben war.


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