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Kapitel 22.
Unterm Regenbogen

Alles Schönste, Reichste im Leben ist immer nur von kurzer Dauer. Immer wie unterm Regenbogen.

Wehe, der Mann mit dem Helm, im Theater! Nachdem aber mehrere Wochen vergangen waren, ohne daß was erfolgte, beruhigte ich mich, im Glauben, die Sache wäre niedergeschlagen. Wie groß aber mein Schreck, eines Tages werde ich vor den Direktor gerufen! Teufel nun doch! Auch alle deine anderen Sünden wird er dir aufmutzen, wirst gar am Ende mit Schimpf geschaßt! Tief schuldbewußt betrete ich das Direktorzimmer. Der regierende junge Herr Direktor sitzt, als ich eintrete, gerade in seinem Direktorialsessel und schreibt. Mein Todesurteil, sicherlich. Als er sich aber nach mir herumdreht, blickt er nicht wie der zürnende und strafende Wotan, vielmehr Hans-Sachs-mäßig wohlwollend mich an, und er zwirbelt sich die paar blonden Borsten unter seiner aufgestülpten und ganz und gar unwagnerischen Nase: »Habe mich für Sie verwendet, es soll von einer polizeilichen oder gerichtlichen Strafe Abstand genommen werden.«

Und weiter, gnädig, huldvoll: »Übrigens, die Affäre gefällt mir. Ich meine Ihr beherztes Eintreten für die Wagnersache. Möchte dafür etwas für Sie tun. Im Vertrauen, ich habe Herrn Schmitzler gekündigt.«

Der war der langweilige Lehrer für Musikgeschichte.

»Er ist mir zu zopfig, zu klassisch. Von Wagner hat er keinen Begriff. Noch weniger von Franz Liszt. So kann ich ihn nicht länger brauchen. Sie wissen, dem musikalischen Fortschritt gilt mein Wirken, dem Fortschritt, dem Fortschritt! Nun, wie wäre es mit Ihnen für diesen Posten, mit Beginn des nächsten Semesters? Zugleich könnten Sie vielleicht die Konservatoriumsbibliothek mit verwalten?«

Ich denke, ich sinke vor freudigem Schreck um.

»Habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Herr Kammermusikus Lerchensporn hat Sie mir warm empfohlen, er hat mir erzählt, Sie wären in der Musikgeschichte gut bewandert. Also?«

Ich nicke nur stumm.

»Gut, verspreche Ihnen die Stelle.«

Ich fliege nach Hause, einen überschwenglichen Brief schreibe ich an meine Mutter und noch einen zweiten an Herrn Justus. Wird das nun auch daheim eine Freude sein! Der Postverwalter aber, ha, der wird die Gelbsucht davon kriegen!

Gleich lieh ich mir musikgeschichtliche Bücher von Herrn Kammermusikus Lerchensporn und studierte und bereitete mich vor, und wenn ich schon einmal aufstand, um mich auszuschnaufen, mit ganz anderen Augen schaute ich jetzt hinaus in die Welt, aus meinem Guckloch.

So vergingen im Glück einige Wochen, und ich hatte mir schon meinen Antrittsvortrag ausgearbeitet, Hohn der Hölle, eines Tages aber steht's in der Zeitung: er hat das Konservatorium plötzlich verkauft – verschachert, der junge Herr Direktor, wie eine Kuh, eine gut melkende. Freilich mit Hofkapellmeister Speckbaum an der Spitze, hatte die gesamte Lehrerschaft sich gegen ihn aufgelehnt und ihm gekündigt, und auch die Stadt, die Regierung hatten mit dahinter gegriffen, mit Aufhebung aller Stipendien und Freistellen drohend.

So enden die Schwarmgeister, enden Reformen im Geschwindschritt.

Der schlaue Käufer aber ist – der Königliche und Großherzogliche und Fürstlich Schaumburg-Lippesche Professor, Hofrat usw. Theobald Seyerich.

Die Auslieferung des Konservatoriums auch just an ihn! Damit ist freilich nun alles für mich da aus und für immer, du lieber Himmel, niemals wird dieser Pedant mich verstehen und gar anstellen an seinem – seinem Konservatorium!

Hier jetzt überhaupt noch weiter studieren? In Verzweiflung an mir selber, an Gott und aller Welt streiche ich herum, rat- und tatlos und scheu wie ein Dieb. –

Eines Tages aber schreibt mir Tante Nörchen, meine Mutter mache sich erneute, schwere Sorgen über mich, weil ich so gar nichts wieder darüber verlauten ließe, ob überhaupt und wann es denn so weit wäre mit meiner Anstellung, warum ich mich darüber ausschweige? Und überhaupt der neu aufgelebte Klatsch über mich. Gertrud Braatfisch habe sehr viel Ungünstiges über mich berichtet. Ich hätte zweimal umgesattelt. Man hielte mich überhaupt für verunglückt mit meinem Studium.

Ich überrechne meine kaum noch nennenswerten Mittel und fasse den Entschluß, den Rest meiner Studienzeit nun doch noch auszunutzen nach aller verzweifelten Möglichkeit, wenigstens das Reifezeugnis mir zu erringen, bescheidentlich auf den Klavierlehrer hin, und zugleich auch schon gleich nach Stunden mich umzusehen. Damit versuche ich meine Mutter zu beruhigen, und um nicht immer nur Worte zu machen, gebe ich vor, ich hätte als Klavierlehrer bereits angefangen, und 60 Mark vom Rest meines Kapitals schicke ich mit hin, die sollen ihr glauben machen, ich hätte sie mir mit Stunden bereits verdient.

Mein letztes bißchen Kapital muß unter allen Umständen in der Bank bleiben, für die letzte, höchste Not, und lieber will ich deshalb gleich alles irgend Entbehrliche von meinen Habseligkeiten verkaufen oder besser zunächst versetzen.

Wird mir bitter schwer, aber was kann's helfen, zuerst muß meine Geige daran glauben, die geliebte. Der Leihhausjude, dem ich sie bringe, eines Tages, in der Abenddämmerung, der will sie natürlich auch hören, und ich muß ihm etwas darauf vorspielen. Ach, es kostet mir viel Überwindung. Seufzend setze ich den Bogen an, und gebrochene Akkorde streiche ich zunächst herunter, durch alle Lagen, auf und ab, abwechselnd schnell und langsam, und oben aber immer sehr viel mit süßem Flageolett, und dabei horcht mein Jude jedesmal auf, und er nickt wohlgefällig. Eigentlich ganz gegen meinen Willen werde ich nach und nach genauer, werde ich warm und fange an zu phantasieren. Zuletzt komme ich sogar in Stimmung und variiere die schwermütige alte Liedweise »Innsbruck, ich muß dich lassen.« Das aber rührt ihn geradezu, bei jeder neuen Wendung spitzt er zuckersüß die dicken Lippen, er nickt schließlich fast bei jedem Ton und spreizt zugleich die Hände, wahrhaftig, und als ich ganz diminuendo, morendo den letzten Ton lang, lang ausziehe und den Bogen endlich absetze, da legt er mir drei Mark mehr aufs Brett, als ich erhofft hatte.

Mir war entgangen bei dem trübseligen Lämpchen, welches den melancholischen Raum nur notdürftig erhellte: es hatte noch jemand dort mit zugehört, einer, der vor mir wohl auch gerade etwas versetzt hatte. Als ich von meiner Geige mit einem langen und traurigen Blick Abschied genommen, mein Geld eingestrichen habe und gehen will, plötzlich macht er sich mir bemerklich. Er steht unter einem staubbedeckten Makartbukett mit hochaufragenden Palmenwedeln und in gleicher Gesichtshöhe neben einer Gipsbüste des Apoll vom Belvedere, auf einer mit künstlichem Efeu umwundenen Säule, und gelehnt an einen alten Vertiko von Nußbaum, vollgekramt mit allen möglichen Gegenständen, mit einer Bowle, einem Vogelkäfig, mit arg verstaubten Vasen, Tellern und Tassen und sonst noch allerhand Metallenem, Gläsernem, Porzellanenem.

Er drückt mir dankend die Hand: »Ich liebe leidenschaftlich Musik! Schumann ist mein Abgott!«

Darauf macht er einen leider erfolglosen, letzten Versuch, noch ein paar Groschen mehr herauszuschlagen aus seinem Havelock, den er hergebracht hatte.

Wir gehen zusammen weg, und den Abend über bleiben wir zusammen, und zwar in seinem Atelier. Er ist Bildhauer, und wir sind Landsleute, sind gleichen Alters, und beide sind wir schlimm in Not geraten.

Er stammte aus der Wilhelm-Raabe-Stadt. Seit kurzem erst von der Akademie herunter, hatte er versucht, selbständig weiterzuarbeiten, auf einen Auftrag hoffend, eine Schumannbüste für einen begüterten Musikfreund, seine Hoffnung aber war zuschanden geworden. Auch ihm war bisher alles fehlgeschlagen. Wir schlossen Freundschaft und zu gegenseitigem Schutz und Trutz. Er nahm, ein viel gereifterer Mensch wie ich, weltkundiger, praktischer, wie ein Bruder sich meiner an. Und so munterte er mich auf durch guten Zuspruch, er gab mir gute Ratschläge, überhaupt er suchte mir aufzuhelfen, wie er nur immer konnte. Ich tröstete ihn dafür mit Schumann. Allabendlich waren wir zusammen in seinem Atelier, einem zugigen und feuchten Loch zu ebener Erde, und da hatte er auch ein altes Klavier stehen, unter seiner verschmähten Schumannbüste, es war fast noch klapperiger wie meins, aber das störte uns nicht in unserer Begeisterung, wenn ich den Karnaval spielte, die Kreisleriana, Fis-Moll-Sonate, die Davidsbündlertänze. Er hieß Hasselbrink, er war eine sensible, echte Künstlernatur. Früh verwaist, hatte er schon sehr bald die himmlischen Mächte kennengelernt und so namentlich auch schwer ringen müssen, um Bildhauer werden zu können, statt daheim das in Pacht gegebene väterliche Geschäft zu übernehmen.

»Um Stunden zu bekommen,« setzte er mir auseinander, »wirst du einrücken lassen müssen, so eklig viel 's auch kostet, geht nicht anders heutzutage.« Und gleich schrieb er mir eine Anzeige auf für die Zeitung:

» Konservatorist ert. bill. gründl. Klavierunterricht

Darunter meine Adresse.

Wehe, die Kosten betrugen noch 25 Pfennige mehr, als wir berechnet hatten. Eine Woche verging, und nichts erfolgte. Wiederum ließ ich einrücken und nun aber gleich sechsmal hintereinander, was den Preis verbilligte. Oh, das Blutgeld, wiederum war's nichts! Trotzdem ich gewillt war, es nicht nur gründlich, sondern auch billig zu tun, billig, sehr billig.

Schon fünf Tage war die letzte Anzeige heraus gewesen, da kamen plötzlich zwei Anfragen zugleich, eine Postkarte und ein Brief. Erstere war gleich genau, ein Bahnschaffner schrieb mir:

»Tüchdger Klaviehrlehrer findt beschäftichung indem das Meine tochter Anfangen sol Klaviehr vor 50 Pfennig die Stunde Wil zahlen.«

Der Brief dagegen, groß, pompös, viereckig im Format, bestellte mich vorerst zu einer Besprechung. Sapperlot, der Aufdruck hinten: »Geheimer Hofrat, Professor Dr. Albrecht Salus!« Das viele schöne Geld war nicht weggeworfen, ich hatte wirklich Glück.

Um mir das Beste für zuletzt aufzusparen, gehe ich zunächst zu dem braven Eisenbahner, und schnell gelingt mir's, hier einig zu werden, um 60 Pfennige für die Stunde und mit einem aschblonden, dünnen und anämischen Mädchenwesen.

Nun aber der Brief. Klopfenden Herzens mache ich mich auf den Weg zur Wohnung des Herrn Geheimen Hofrats, draußen im vornehmen Villenviertel. Von schönen Gärten mit vielen Bäumen und Rasenplätzen sind hier alle Häuser umgeben, kein Lärm hier der Großstadt, nicht Ruß und Staub und Stank. Ich finde das Haus endlich, nach langem Suchen, eine Villa, weißschimmernd, hinter herrlichen Blumen, köstlich blätterfrischen, alten Bäumen. Ein von Kletterrosen hold umwundenes Majolikarelief ziert vorn den Fries. Der Bambino vom Luca della Robbia, ich kenne ihn wohl, und vielleicht soll symbolisch er hindeuten auf einen besonderen reichen Segen im Hause. Voller Schönheit hier alles, Frieden, glückliche Menschen müssen hier hausen.

Ich klingele, und eilends kommt ein sauberes Hausmädchen, in weißer Haube und Schürze, um mir zu öffnen, und als ich eingetreten bin und ihr den Grund meines Kommens angebe, gleich erscheint auch schon von selber der Hausherr, als wenn er mich erwartet hätte, und er nötigt mich hereinzukommen in sein Arbeitszimmer.

Ein ziemlich beleibter Fünfziger, im bequemen Hausflausch, mit stark gewölbter Stirn, mit durchgeistigten, scharfgeschnittenen, energievollen und doch gütigen Gesichtszügen. Ich muß Platz nehmen auf einem Divan. Bücherregale ragen auf ringsum an den Wänden, sie sind vollgepfropft von oben bis unten, und auch auf Stühlen liegen noch Bücher und Zeitschriften herum, auf dem Schreibtisch – überall Gelehrsamkeit, in schweren und schwersten Kalibern.

»Herr Kammermusikus Lerchensporn, Ihr früherer Lehrer, der meine Kinder unterrichtet, der war just hier zugegen, als ich in der Zeitung zufällig Ihre Anzeige sah. Kurz, auf seine Empfehlung hin, will ich Ihnen meinen Jüngsten anvertrauen. Der Junge ist begabt für Musik, und er möchte nun auch gern noch Klavierstunden haben. Wenn Sie Lust haben und es Ihnen recht ist, zahle ich Ihnen für die Stunde drei Mark, bei drei Stunden in der Woche.«

Danach öffnet er die Tür zu einem anstoßenden Zimmer: »Fortunat!«

Ein rotbäckiger Junge kommt sofort hereingesprungen. Ganz die Miniaturausgabe des Vaters. Prächtig stehen ihm zum dunkeln und welligen Haar die hellgraue Wolljacke, die blauen Kniehosen. Mit einer tiefen Verbeugung tritt der prächtige Junge an mich heran und reicht mir seine weiche Hand.

Meine Freude, mein Glück! Alles dreht sich vor meinen Augen, hüpft und tanzt, alle die tausend Bücher in den Regalen.

»Abgemacht!«

Ich kaufe eine große, fette und lieblich duftende Leberwurst und Bier, Brot und frische Butter und hin damit zu Hasselbrink ins Atelier, gefeiert wird der große Tag, und nicht nur, daß wir die Wurst bloß beriechen, vielmehr wir vertilgen sie, ihre beiden Enden bis hin ans Hölzchen. So gut, so reichlich hatten wir armen Schlucker lange nicht geschmaust. Herrgott, mit einem Schlage verdiene ich ja jetzt fast noch mehr in der Woche, wie ich zum Leben brauche!

Am anderen Tage suchte ich Kammermusikus Lerchensporn auf. Er versprach mir auch fernerhin seinen Beistand. Und eine Klavierschule gab er mir mit.

»Wird, wie ich Sie kenne, Ihnen besser zusagen als – na! Können sich schon daran halten. Arbeiten Sie sich nur ordentlich da hinein. Mut, mein Lieber.«

So rappelte ich mich empor. Ich hatte Freude an den Stunden. Fortunat kam vorwärts. Ich gewann schnell seine Zuneigung.

Im Konservatorium überwand ich meinen Widerwillen, ich studierte nun mit frisch erneutem Eifer, in allen Fächern, um bis zu meinem Abgang mit Schluß des Semesters das Reifezeugnis mir auch wirklich noch zu erringen, trotz alledem. Auf eigene Hand übte ich allerdings jetzt Klaviertechnik, und zwar in Herrn Lerchensporns Schule, die enthielt zahlreiche und gut zusammengestellte technische Übungen. So kam ich wirklich vorwärts. Und das aber schrieb sich mein dicker Klavierlehrer zu, er floß in jeder Stunde nur so über von Lob.

In das »Wohltemperierte« versenke ich mich zu Hause wieder, ganz so wieder wie damals beim Oberförster. Daneben aber auch und mit gleicher Begeisterung in die nicht minder gotterfüllten Sonaten Beethovens, hauptsächlich in die fünf letzten jetzt. Brennen Bach und Beethoven so nach und nach den Schwefel wieder aus mir heraus. Ich erwache aus der mir in meiner persönlichen Mischung doch eigentlich ganz naturwidrigen Wagnerischen Verzauberung. Das Aufdringliche, Übertriebene, Überschwengliche, Pathetische, Theatralische, Laute und Dröhnende, Lodernde, Brünstige, überreizt Erotische – alles eigentliche Wagnerische also: »Los wieder davon,« sage ich mir, und »dahin wieder zurück, wo du hingehörst!« In den Klassikern verankere ich wieder und für immer meinen Geschmack, meinen Glauben, mein musikalisches Leben, d. h. im Gesunden und Nährenden, Unaufdringlichen, Einfachen, Schlicht-Großen, Schlicht-Gütigen, Tiefinnerlichen und Keuschen, als damit auch dem wahrhaft Deutschen, wie's in den Werken der Klassiker lebt und blüht und Früchte trägt in saecula saeculorum. Mit Einschluß natürlich derjenigen späteren Meister, Brahms zu oberst, die zielsicher aus den Klassikern sich entwickelten, bei allem selbstverständlichen Tribut an ihre Zeit hier fest ihre Wurzeln behielten, im schärfsten, bewußten Gegensatz zu den Programmkomponisten. Hat unsere weltbeherrschende, herrliche deutsche Musik mit der Übernahme und Weiterentwicklung der Programmusik von den Franzosen – von Berlioz und dem von französischer Kultur durchtränkten Liszt – doch ihr Eigentliches, Innerstes, Bestes dahingegeben, das, was ihre wahrhaftige Größe ausmachte: ihre Innerlichkeit, ihr Deutschtum. Es ist, wenn man diese verhängnisvolle Entwicklung überblickt, als wären ein Bach, Haydn, Beethoven gar nicht dagewesen. Immer und immer kommt – auch in der Kunst – dem Deutschen alles schlimmste Unheil aus dem Auslande! Johannes Brahms ist der große Wiederbringer und Tröster. Erst spätere Geschlechter werden den ausgleichenden Segen Brahmsscher Musik voll ermessen können. Wenn auf dem Schlachtfelde der Programmusik neben Berlioz, dem bereits völlig vermoderten, und neben Liszt auch der die lärmerfüllte Gegenwart beherrschende, großmächtige Richard Strauß als die dritte Große Leiche einmal daliegen wird. Denn, wahrhaftig, einzig nur die Liebe lebt ewig, auch in der Kunst.

Oh, Schicksal, aber wiederum erkrankte ich durch die Fingerdressur, die fürchterlichsten Sehnenentzündungen zog ich mir zu, und schwer litten zugleich meine Nerven, bis zur völligen Zerrüttung. Durch Einnehmen von Brom und anderen Giften verschlimmerten sich nur meine Leiden. Also immer zunächst aussetzen – aufhören, schonen immer wieder! Durch Behandlung mit Jod und Massage bessert sich zwischendurch zwar die Hand, und ich fange wieder an, aber nicht lange, und es ist immer und immer wieder das alte Elend, stets neue Sehnenscheidenentzündungen und an anderen Stellen, auf dem Handrücken, der Handwurzel, am Handgelenk, am Unterarm, wo die Sehnen sich kreuzen, und gar zuletzt an beiden Händen und Armen zugleich, fürchterlich ist's! Wie soll dieser entsetzliche Kampf einmal enden? In diesem Zustande mein Studium richtig zu beenden, mit dem ehrlich errungenen Reifezeugnis, auch schon um damit mich zu rechtfertigen vor Gott und der Welt: ja ganz unmöglich ist's!

Mein neuer Freund, der Bildhauer, spendete mir immerhin Trost durch seine Teilnahme. Und noch ein mitfühlendes Wesen tat's, unbewußterweise. Mein junger Schüler Fortunat merkte bald in der Stunde, so sehr ich mich auch zu beherrschen suchte, daß ein schwerer Kummer mich bedrückte. Eines Tages macht er Miene, zu fragen. Ich aber schiebe ihn schnell beiseite und setze mich an den Flügel, und das in tiefster Resignation ausklingende Largo e mesto aus der Beethovenschen D-Dur-Sonate, Opus 10, spiele ich.

Ich konnte es schon wagen, Stücke zu spielen. Ja nur das anhaltende, rein technische Üben tat mir Schaden.

Mein ganzes verzweifeltes Herz presse ich hinein, namentlich in die so unsäglich schmerzerfüllten Schlußtakte. Diese Töne, wahrhaftig, müssen mehr ihm sagen als Worte. So ist's schon eine Aussprache. Als ich zu Ende bin und mich schließlich nach ihm umsehe, stehen hinter mir, an der Stuhllehne, außer Fortunat auch noch seine beiden Brüder, die hatten sachte sich hereingeschlichen. Immer nur flüchtig hatte ich sie dann und wann gesehen, wenn ich ins Haus zur Stunde kam. Ihre Schwestern waren mir überhaupt noch nicht zu Gesicht gekommen.

Ihre Begeisterung nun über mein Spiel! Der Älteste studierte bereits, und der Zweite, der Cellospieler, stand vorm Maturum. Mein Fortunat spielte außer Violine auch Bratsche. Bei ihrer großen musikalischen Begabung wollten alle drei durchaus Musiker werden. Der Vater aber war dagegen. Das hatte mir Herr Kammermusikus Lerchensporn alles erzählt, mit vielem Bedauern, denn besonders der Älteste, hob er hervor, könne bei seinem großen Talent es jetzt schon aufnehmen mit manchem Kammermusikus der Hofkapelle.

Eine große Aussprache gleich zwischen uns über Musik. Auch hier lebt und atmet man in der gefühlsmächtigen Musik der Klassiker, Mozart besonders und Schubert sind die Hausgötter. Der Älteste erwähnt auch Brahms und mit Verehrung.

Folgen den Worten jetzund Taten, gemeinsame. Schnell haben alle drei ihre Instrumente geholt und gestimmt, und riesige Notenhaufen schleppt man heran. Lauter edelste Kammermusik. Ja, das kann mir passen!

»Los! Trios, Quartette, Quintette – alles ist vorhanden, alle Meister!«

Blind greife ich zu, und Mozarts G-Moll-Quartett halte ich in der Hand. Just das G-Moll-Quartett, Teufel, kenn' ich's doch nur zu gut!

Fix hat jeder seine Stimme auf dem Pult. Die Bogen nun angesetzt! Halt, am Cello unten der Stachel will noch nicht fassen! Immer der verfl... Stachel! So, so, jetzt alles in Ordnung!

»Eins! Zwei! Drei! Vier!« – und wuchtvoll erklingt das lapidare Hauptthema, unisono in eins gegriffen wie gestrichen. Und danach auf dem Klavier der zarte Nachsatz. Unisono wieder losgefegt das Hauptthema, und diesmal klingt's wie fragend, und folgt auf dem Klavier, schmerzlich gesteigert durch die kleine None, wiederum die Antwort. Und darauf in seiner stillen Lieblichkeit das zweite Thema. Einer hört auf den anderen, sich einpassend, echt kammermäßig, ausgezeichnet verstehen wir uns. In den Pausen der Streicher höre ich: man flüstert sich Lobeserhebungen zu über mich.

Große Begeisterung nach dem ersten Satz. Und als auch verklungen sind das Andante, das Schlußrondo, da ist des Jubelns kein Ende. Obschon mir die Hand dennoch ein wenig schmerzt und ich sie eigentlich etwas mehr schonen sollte: fortgespielt wird!

»Beethoven jetzt!«

Stürmisch bitten die Brüder um das Klavierquartett in Es, nach dem Bläserquintett, Opus 16.

Gleich unter den einleitenden Akkorden, erdröhnend im schärfsten Stakkato, wie geblasen: leise öffnet sich hinter uns die Tür, und der Herr Geheimrat erscheint. Das sehe ich im Spiegel gegenüber. Eine Weile steht er still und lauscht. Sein Gesicht verklärt sich. Sachte verschwindet er wieder. Das alles beobachte ich. Plötzlich aber ist er wieder da und mit Frau und Töchtern.

Ich nehme mich zusammen. Es gilt! Und bin ich doch auch geladen, wahrhaftig, zum Platzen, denn heute zum ersten Male seit dem Oberförster ist mir Gelegenheit geboten, Kammermusik wieder einmal mitzuspielen!

Ich beobachte die heimliche Zuhörerschaft verstohlen im Spiegel. Man nickt sich zu, verständnisinnig, auf mich deutend: der versteht's. Die ganze, große, kinderreiche Familie ist hinter uns versammelt. Meine Ahnung mit dem symbolischen Bambino draußen hat mich nicht betrogen.

Wir Musikanten aber, im Feuer der Ausübung, lassen uns nicht stören und deshalb attacca subito das Andante. Hat das Klavier das innige Thema zunächst allein zu singen.

Ich verliere mich völlig in die Musik. Zufällig aber, ziemlich am Schlusse werfe ich wieder einen Blick in den bewußten Spiegel mir gegenüber. Ein Mädchenantlitz schaut daraus mich an. Das dunkelgewellte Haar durchschlingt ein blauseidenes Haarband. Schon aus diesem frühlingsblauen Band spricht noch die ganze süße Unschuld der Kindheit. Meinem Fortunat ist sie sehr ähnlich.

Schwierige Akkorde jetzt: aufpassen! –

Nun aber schiele ich wieder hin. Prächtig steht ihr auch das hellblaue Wollkleid.

Ihre Schönheit, Lieblichkeit, Holdseligkeit, wie sie beschreiben!

Ihr lichtbraunes Braunellenauge: das tiefste Adagio! Ihr Näschen etwas Stumpfnäschen, immerhin –: das heiterste Scherzo! Ihre Stirn: Harmonie! Ihr Mund: Melodie!

In ihrem blauen Haarband verstricken sich meine Augen. Ich komme aus dem Takt. Ich vergreife mich und in der gröblichsten Weise, greife in B-Dur h statt b, zweimal hintereinander, und alles fährt herum, meine Mitspieler wie auch die Zuhörer. –

Ich schwimme – finde mich nicht wieder zurecht. Auseinander rettungslos! Schmachvoll, wir müssen abbrechen! Durch meine Schuld!

»Sind 'raus!« ruft der Älteste und klopft mit dem Fiedelbogen.

»Schändlich,« zischt der Cellist. Cellisten sind ja immer hitzig.

Ich hätte vor Scham in die Erde sinken mögen!

Nun aber nehme ich mich zusammen, und wird der durch mich so gröblich entweihte Satz ohne weiteren Unfall zu Ende gebracht.

Der Herr Geheimrat macht mich bekannt mit den Seinen. Alles reicht mir gleich zutraulich die Hand. Auch sie, Susanne – so heißt sie.

So viel Freundlichkeit, so viel Güte, mich umgibt der volle Zauber eines von feinster Bildung verklärten Familienlebens. Ich verlassener und unsteter Mensch, wie lange schon hatte ich überhaupt in keiner Familie mehr geweilt!

Man ladet mich ein zum Dableiben. Zwischen den Eltern muß ich bei Tische sitzen. Obschon Leckerbissen – traumhafte! – mich anlachen, richtig und appetitfreudig zuzulangen getraue ich mir nicht. Gleich beim ersten Griff lasse ich ein Stück Braten fallen in den Schoß der Gnädigen, und in meiner Verzweiflung hierüber entgleitet mir ebendahin auch noch die Gabel und mit den Zinken nach unten. Fast nach jedem Bissen wische ich mir den Angstschweiß ab, einmal in meiner Verwirrung sogar mit der Serviette. Man sucht meine Verstöße möglichst zu vertuschen. Die Gnädige legt extra mir auf. Wie komme ich mir vor, man feiert mich geradezu, ich bin die Hauptperson nun auch noch an der Familientafel. Wehe aber, der Heideschulmeister, der mir noch in den Gliedern steckt, meine Unbeholfenheit wird immer größer!

Die sehr gütige Dame des Hauses ist unablässig bemüht, durch freundlichen Zuspruch mich aufzumuntern, abzulenken.

Ich erzähle ihr nun, um überhaupt auch einmal etwas zu sagen, daß ich aus der Lüneburger Heide stamme.

»Schau, die Lüneburger Heide,« schmunzelt darob der Herr Geheimrat, »wie man sieht, außer Bienen und Schnucken wachsen da auch gute Musikanten.«

Der Kaffee. Susanne bringt mir eine Tasse. Mein Herz pocht im Sechsachteltakt. Sie plaudert gleich ganz zutraulich mit mir.

Am Kamin gruppiert man sich danach. Auf Musik im allgemeinen lenkt der Herr Geheimrat das Gespräch und sehr autoritätisch. Er forscht nach meinem Standpunkt, meinen Ansichten.

Der Herr Geheimrat ist äußerst konservativer Gesinnung. Er redet in einer breit flutenden, professoralen Beredtsamkeit, wie vom Katheder herunter. Ist wohl so seine Art und Gewohnheit. Alles hört ihm respektvoll zu. über Wert und Nutzen der Tradition im allgemeinen verbreitet er sich, und tief schürfende Untersuchungen stellt er an. Immer wieder betont er und ganz gereizt geradezu, die Hauptsache wäre, gesund müsse die Kunst sein, insonderheit die Musik. Eine innerlich ungesunde Musik aber müsse man bekämpfen, schonungslos. Seit die Musik abgewichen von der hehren Tradition der Klassiker, wäre sie ungesund geworden durch und durch und zu Gift für die Seele. Wagner ist ihm verhaßt. Noch mehr Liszt: der habe mit seinem doch begriffsmäßigen Programm die Tradition verspottet geradezu, auf Sand bauend, statt auf den Granit der großen Vorgänger, während Wagner doch bei aller Freiheit seiner Gestaltung immerhin das verbindende und erklärende Wort habe, welches vor einem allzu weiten Abirren ihn bewahre.

Mozart ist ihm schlechthin das Ideal. Ein abgöttischer Mozartkult deshalb in der Familie.

Ich weise in aller Bescheidenheit nun hin auf Bach, als dem für mich Höchsten.

Darüber ist man zunächst ganz erschrocken. Die mütterlich gütige Frau Geheimrätin aber bricht für mich eine Lanze, voller Begeisterung erzählt sie von einer schönen Aufführung der Matthäus-Passion, die sie vor Jahren erlebt hat.

Ich bin erstaunt, in diesem so tiefmusikalischen Hause hätte man wirklich kein Verständnis für Bach? Unbegreiflich!

»Ich weiß nicht,« bemerkt etwas kleinlaut endlich der Geheimrat: »Bach – ehrlich gestanden, Bach ist uns noch nicht so recht erschlossen. Ein wunder Punkt, geb's schon zu, beschämend für uns, freilich. Man bedenke aber, ich hab' im südlichen Österreich meine Jugend verlebt, da gab's keinen Bach, da schwelgte man in Mozart, Schubert. Und so ist's geblieben, Mozart wie überhaupt alle die großen Wiener Meister, sie haben mich und uns alle bislang immer förmlich wie in einem Zauberbann festgehalten.«

Das aber ist für mich ein Funke auf die Pulverpfanne, das löst mir die Zunge, und ich rede über Bach wie ein Pfingstapostel.

Danach der Geheimrat: »Ihre begeisterten Worte reißen uns mit fort und hin zu Bach. Führen Sie, leiten Sie uns, lassen Sie uns und zumal meinen wißbegierigen Kindern – sehen Sie nur ihre Augen! – Ihre offenbar gründliche Kenntnis Bachischer Musik zugute kommen.«

»Ja, bitte,« fallen die dem Vater ins Wort. Auch Susannes Stimme höre ich heraus.

»Vielleicht spielen Sie uns gleich einmal etwas vor von Bach, zum Appetitmachen?«

Mit der majestätischen Fuge in Es-Dur, im zweiten Teil des wohltemperierten Klaviers, erringe ich sofort einen großen und entscheidenden Sieg. Noch verschiedene andere Fugen und Präludien lasse ich erklingen. Man überschüttet mich mit Lob. So, wie ich es tue, müsse Bach aber auch gespielt werden. Nicht trocken.

Mit meiner Ausgießung Bachschen Geistes – kann's schon so nennen! – entzünde ich gleich im geheimrätlichen Hause eine allgemeine, große Begeisterung für meinen Heros.

Schleunig will man durch mich tiefer eindringen. Große Pläne werden geschmiedet. Vorerst nur Bach will man üben, auf Bach sich einspielen, nachholenderweise.

Auch den beiden Ältesten muß ich jetzt Stunden geben und Bach mit ihnen üben.

Ich schwimme im Glück. Einen Tag um den anderen gehe ich in die weißschimmernde Villa mit dem Bambino und gebe Stunden, immer gleich zwei hintereinander, und ich habe mit drei Mark für die Stunde einen glänzenden Verdienst. Meine Einnahme reicht jetzt nicht nur völlig zu für meinen Unterhalt, auch meiner Mutter kann ich davon schicken. Ich löse mir natürlich meine Geige wieder ein. Und zu meinem Rotkehlchen hänge ich mir nun auch noch ein Schwarzplättchen und eine Heidelerche.

Die Stunden sind so gelegt, auf den Spätnachmittag, daß ich danach immer dableibe. Bin bald gehalten wie Kind im Hause. Musiziert wird nach dem Essen immer noch bis tief in die Nacht hinein und fast nur Bach, war ich dann früher beim Oberförster der Empfangende, so bin ich hier nun der Spendende.

Kühner werden unsere Unternehmungen. Sogar an die großen Kammerkonzerte, die Brandenburgischen, wagen wir uns alsbald heran. Greift selbst der Herr Geheimrat wieder zur Fiedel, die er schon lange fast ganz hatte ruhen lassen, aus Zeitmangel, Bequemlichkeit, und weil die Kinder ja genügend für Hausmusik sorgten. Auch Susanne geigt mit. Sie hat auch Stunden bei Herrn Kammermusikus Lerchensporn. Wie ein Engel von Fra Angelico sieht sie aus mit ihrer Geige. Noch verschiedene Schulkameraden der Söhne, Violine spielend, Viola, Cello und darauf bereits genügend »habil«, werden herangezogen, schnell kommt ein richtiges Hausorchester zusammen, das auf die aus Streichorchester bestehenden Begleitungen zu den Violin- und Klavierkonzerten sich tapfer einspielt.

* * *

Nun hatte die feine, die sanfte und gütige, die liebenswürdige Frau Geheimrat einen romantischen und merkwürdigen Bruder, das war der Onkel Staatsrat. Viel wurde immer von ihm gesprochen. Ein Universalgenie wäre er. In Rußland, in der Türkei, Kleinasien, Persien habe er Brücken gebaut und sich ein großes Vermögen erworben damit. Draußen auf dem Lande – dort, jenseits des Flusses, habe er sich jetzt ein einsam gelegenes, altes Winzerhaus gekauft und es selber sich um- und ausgebaut, höchst eigenartig, mit einem sonderbaren, wahren Zauberturm. Ein stacheliger Sonderling und Hagestolz, wäre er äußerst – äußerst schwierig, der Onkel Staatsrat. Mit chemischen und physikalischen Versuchen sich beschäftigend, habe er dafür in seinem Zauberturm eine Menge Instrumente stehen, Retorten, Tellurien, Elektrisiermaschinen, und auch ein großmächtiges Fernrohr gucke immer oben aus einem schießschartenartigen Fensterchen heraus, drohend wie eine Kanone. Mit seinem Schwager, dem Geheimrat, verstand er sich nicht. Nur aus der Familie die Kinder besuchten ihn öfter, Sonntags, er sah sonst überhaupt keinen Menschen bei sich.

Ohne weiteres nimmt man mich an einem Sonntagnachmittag mit hin. Man wolle den wilden Onkel durch mich wenigstens wieder musikalisch machen, weil er nämlich Flöte – just Flöte! – blase, so könne man ihn jetzt ja auch gut mit brauchen, im Hausorchester, und mit meinem Bachspiel solle ich ihn deshalb herumkriegen.

Ich sehe den Onkel Staatsrat, rote Stiefel von Juchtenleder hat er an und einen wollenen, grünen Kaftan. Er knurrt zwar erst über den ungebetenen Gast und macht Miene, mich gleich wieder hinauszusetzen. Susanne aber, sein Patenkind, besänftigt ihn. Ein prachtvoller Bechstein steht im hallenartigen Hauptraum – in der »Mazeppahalle«, so genannt nach einem vom Onkel selber gemalten Freskobild überm Kamin, den Mazeppa darstellend, in seinem Todesritt, und der Onkel ist der Mazeppa. Überaus reich ist hier die Einrichtung. Den Boden bedecken berauschend farbenprächtige, alte Perser, vom Onkel Staatsrat selber im Orient gesammelt und mitgebracht. Auch die Decke, die Wände hat er selber ausgemalt und unbeschreiblich phantastisch. Eine Wendeltreppe führt in den Zauberturm hinauf. Alle übrigen Räume dagegen sind äußerst dürftige Bauernstuben, weißgetüncht, ausgestaltet mit roh zusammengezimmerten Wandbänken, Schemeln, Tischen, es ist – er hatte sicherlich viel auf dem Gewissen –, als kasteie der Onkel sich darin.

Wie staune und staune ich immer wieder über das alles!

Als nun der unruhige Onkel wieder mal in seinem Raptus verschwindet – alle Augenblicke klettert er eiligst hinauf in seinen Zauberturm: schnell muß ich da Bach spielen.

Wütend kommt er heruntergepoltert. Susanne und Fortunat aber fassen zu und halten ihn an seinem grünen Kaftan hinten fest, und so mag er wollen oder nicht, er muß mir zuhören.

Siehe und der Überfall gelingt, mein Bachspiel fesselt, besänftigt, ja wahrhaftig: zähmt ihn. Sichtlich wächst sein Interesse daran, mit jedem neuen Präludium, jeder neuen Fuge. Zuletzt schmeichelt Susanne ihm die Erlaubnis ab, mich gleich nächsten Sonntag wieder mitbringen zu dürfen, zur Aufführung zunächst des Bachschen D-Moll-Konzertes, das er in meiner Auffassung – meiner, Susanne ist's, die das so betont! – hören müsse.

So geschehen, und der Onkel Staatsrat, er ist gebannt, und gleich macht er auch mit, auf seiner Flöte. Wahrhaftige Bachfeste nun bei ihm, in der Mazeppahalle, und die hat eine vorzügliche Akustik. Kammermusiker der Hofkapelle werden herangezogen, Kontrabaß – Herrgott, als der große braune Bär zum ersten Male dasteht! – ferner Fagott und Oboe, Oboe d'amore, Trompete. Fürstlich ist immer die Bewirtung. Seine edeln Weinsorten, und der Onkel Staatsrat weiß feinsinnig immer jede Marke dem Charakter der gerade gespielten Komposition anzupassen. Zum D-Moll-Konzert kredenzt er einen funkelnden Burgunder und zum Konzert für zwei Violinen – fast jedesmal müssen wir's ihm vorspielen, so sehr liebt er's – dazu eine Moselsorte, die duftet durchs ganze Haus und bis hinauf in den Zauberturm.

Sehr spät wird immer aufgebrochen, und zuletzt der gemeinsame nächtliche Nachhauseweg – nicht lange währt's, so ist er für mich das Schönste, Köstlichste, Beste überhaupt vom Ganzen, trotz Bach und aller seiner Herrlichkeit. Nämlich von wegen Susannen! Einmal ungestört und richtig mit ihr zusammensein zu können, hatte seine großen Schwierigkeiten. Denn stets sind die Brüder um uns, und die fragen auf mich ein unaufhörlich, über Bach, Händel, Haydn, Mozart, Schubert, Beethoven usw. Immer nur bei dieser einen Gelegenheit aber läßt sich so eine kleine, heimliche, süße Fermate an ihrer Seite ermöglichen. Bei der nächtlichen Überfahrt über den breiten Strom. Hier haben im engen und schwankenden Boot die anderen alle auf ihre Instrumente scharf achtzugeben, ich jedoch – pah, der Klavierspieler nimmt nur seine Finger mit. Schleunig setze ich mich immer neben Susannen, und wenn sie sich nun ausspricht so hold naiv über das Gehörte, über mein Spiel und gar lobend –: »Schweig stille, mein Herz!« Manchmal bei überfülltem Boot sitzen ganz dicht wir aneinandergepreßt, und ihr Atem streift meine Wange. Oft ist's im schmalen Boot geradezu lebensgefährlich, bei Nebel, Sturm und Treibeis. Oh, da erst meine Gefühle an ihrer Seite! Im eisigen Wind ihr Pelzjäckchen von Zobel – ein Geschenk des Onkels, und sie sieht entzückend darin aus –: es wärmt durch meinen fadenscheinigen Überzieher mich mit. Ich schwärme ihr vor unermüdlich über Bach. Manchmal habe ich den gottlosen Hintergedanken: wenn doch ein Unglück passierte, da sie erretten und damit erringen! Oder sterben mit ihr vereint den seligsten Liebestod!

Ja auch gar zu empfänglich war mein Herz, mochte mir's gut oder schlecht gehen, stets trug ich meine Minne. Adelheid Espings holdes Bild war nachgerade in mir verblaßt. Von Meta, von Gertrud Braatfisch will ich schweigen. Die Brahmssängerin im Konservatorium darauf: – meine verschiedenen Versuche, mich ihr zu nähern, hatten bislang keinen Erfolg gehabt. Und nun Susanne! Ich kann mir nicht helfen, mein Herz rollt hin ihr vor die Füße, wiederum und mit Vehemenz erliege ich! Susanne, sie ist mir Sonne, Leben, Atem! Ich schwärme, ich härme, sehne mich ab, ich zähle die Stunden, die Minuten von einem Wiedersehen zum anderen. Ihre Stirn: Harmonie, ihr Mund: Melodie, und mag sie auch sprechen über die allergleichgültigsten Dinge!

Wie ein Regenbogen, überirdisch schön, steht die Liebe zu Susannen ob meinem wolkengrauen, ungewissen Leben. Doch auch der schönste Regenbogen muß immerdar schnell hinschwinden. Alles Schönste im Leben ist ja immer nur von kurzer Dauer. Eine Jugendliebe. Der Schlag der Nachtigall. Ein sonnenbeschienenes Blumenleben, getaucht in Farb' und Duft. Ein Schmetterlingsleben, einen Sommer lang. Ein Schubert-, ein Mozartleben. Immer wie unterm Regenbogen. –

Ziemlich regelmäßig musizierten wir Sonntags beim Onkel Staatsrat, wurde aber abgesagt – es kam vor –: da war ich allemal unglücklich zum Sterben!


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