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Kapitel 15.
Im Siehl

Sehr verstimmt, mit einem fürchterlichen Kater war ich nach Hause gekommen.

Am Morgen – schon lange rumoren die Kinder in den Bänken –: ach, so schwer wird mir's, mit dem Schulehalten zu beginnen, solche Kopfschmerzen hab' ich, ich bohre meinen Kopf immer wieder in die Kissen. –

Plötzlich Totenstille in der Schulstube! – Und nun erschallt der Morgenchoral. Das Gebet darauf, sehr mit Salbung gesprochen. Hält da denn der Leibhaftige selber statt meiner Schule?

Ich fahre heraus aus den Federn, heiß und kalt wird mir. Schleunig mache ich mich fertig. Entsetzlich: Hochwürden! –

Als mein mit vollem Recht schwer erzürnter Vorgesetzter wieder gegangen war, ist das erste, was ich tue, ich vernichte meine »Partitur« zum »Reichsgrafen und Schuster«. Danach trete ich ans Klavier und klappe den Deckel zu und mit so grimmer Wucht, alle Saiten zugleich schreien auf, als geschähe ein Mord. Und das Beethovenbild darüber kehre ich um, mit roher Hand, auch das Haydn-, das Mozartbild. Wie ein Bilderstürmer wüte ich. Herrgott, vor jedem Bauer von Hamelsen, Pahlsen und Putersen im Lande Mufrika, der vorübertrottet an meiner Schulkate, möchte ich mich verkriechen! Ich rühre keine Taste wieder an. Ich ziehe mich in mein innerstes Schneckenhaus zurück. Nur wenn ich durchaus in der Kirche mich wieder einmal zeigen muß, christ- und pflichtgemäß, um nicht auch noch in den Geruch des Atheisten zu kommen und Hochwürden damit noch mehr und zu extra wieder zu reizen, gehe ich ins Kirchdorf, ich schleiche mich hin, und wieder fort, ohne ein Gasthaus zu betreten. –

Und in dieser trübseligen Zeit erhielt ich auch noch einen gar traurigen Brief von meiner Schwester. Mit Vaters Agenturen, schreibt sie, wär's letzter Zeit noch schlimmer zurückgegangen. So auch mit seinen anderweitigen, kleineren Nebeneinnahmen. Ein neuer und welfenfeindlicher Landrat wende Vatern vom Amte aus nicht das mindeste mehr zu. Und auch die Hypothekenzinsen hätte Maack erhöht. Sie fertige deshalb jetzt auch noch für ein anderes auswärtiges Geschäft Stickereien an. Damit habe sie sich nun aber überanstrengt. Sie fühle, ihre Kräfte ließen stark nach. Mehr aber wie körperlich litte sie seelisch, sie zermartere sich mit Sorgen, was werden solle, wenn sie bald sterben müsse. Die Erbschaft vom Onkel Tierarzt wäre für uns ja nun einmal dahin. Außer mir hätten aber die Eltern weiter keinen Beistand. Und deshalb solle ich doch endlich ablassen von meinen Schwärmereien und auf meinen Lehrerberuf ernstlich meine ganze Kraft richten.

Sofort antwortete ich ihr, ich wolle stets für die Eltern alles tun, was ich nur irgend vermöchte, wolle mit Freuden gleich alle meine Ersparnisse für sie opfern, und so solle sie sich beruhigen. Wie ich aber über den Schulmeister dachte, darüber schwieg ich mich aus.

Es ging in den Winter, es wurde Weihnachten, und noch einige Wochen verstrichen in banger Sorge: ich wußte, die Schwester hatte sich gelegt. Plötzlich ruft man mich hin. Fußhoch liegt der Schnee, fast wäre ich darin versunken und erfroren, als ich mich zur Bahnstation durchkämpfte.

In meiner Aufregung hatte ich nicht nach dem Poststempel gesehen. Der Landbriefträger hatte nicht durchkommen können, und so kam die Nachricht verspätet in meine Hände.

Ich komme hin zu Schwester Wieschens Begräbnis, es soll gerade beginnen. Schon viel Gefolge, sehe ich, hat an unserem Gartenzaun, unter der alten Kastanie sich versammelt. Die große Glocke fängt an zu läuten. Zugleich öffnet sich unsere Haustür, und die vier Träger – benachbarte und mir wohlbekannte Tagelöhner und Abbauer – erscheinen mit dem Sarg. Man stellt ihn auf die Bahre. Ganz nach der Ordnung. Ich lasse den Sarg noch einmal wieder hineintragen und öffnen, und man zündet auch die Kerzen wieder an, damit in Feierlichkeit ich Abschied nehmen kann, ach, von Wieschen, der Schwester, die die wahre, eigentliche Schöpferin, Pflegerin, Erhalterin war unseres Hauses und alles, alles Guten, und die man nun begraben will. Meine Tränen strömen auf ihre ineinander gefalteten, schmalen, wächsernen, ach, immer so fleißigen Hände. Friedlich ist ihr Antlitz. Auch an ihrer Oberlippe der herbe Zug hat sich verglättet. Ganz klar ist ihre sonst immer so umwölkte Stirn, und wie Sternenschein liegt's darauf, ach, ach, dahinter wohnen nun keine Sorgen mehr. Tiefe Stille ringsum. Nur unser alter Moor winselt irgendwo, man hatte ihn wohl eingesperrt, damit er nicht störe.

Der Sarg wird endgültig geschlossen, draußen auf die mit einem Laken überdeckte Bahre gesetzt, mit der Bahre sodann emporgehoben auf die Schultern der Träger. Das Gefolge tritt zusammen, und der Zug bewegt sich durchs Dorf, an jeder Straßenbiegung noch sich vergrößernd, trotz des schlechten Wetters, denn es ist Tauwetter eingetreten, und die Wege sind grundlos.

Die große Glocke, in langsamen, gleichmäßigen, vollen Schlägen und so tief feierlich klingt und singt sie, weicher wie sonst, wegen des schalldämpfenden Schnees, so wie ich sie nie gehört hatte. Ton um Ton, aus den Schallöchern quillt Ton um Ton, das regenfeuchte Geäst der Kirchhofseichen durchhallend und die nebelgraue Luft. Ton um Ton, Ton um Ton: gilt jedem genossenen Lebenstag ein Ton.

Als man ins Bauernende jetzt einbiegt, ist's, als weinten alle die ernsten Eichen an den Hofstellen mit uns um die Entschlafene, die, ach, ach, eine reine Jungfrau, dahin mußte in der Blüte ihrer Jahre. Und überall aus den kleinen Fenstern der Katen schaut man ihr nach. Rentmeisters Wieschen trägt man hinaus, man hatte sie doch so gut gekannt, von klein auf, Rentmeisters Wieschen, überhaupt, man spricht jetzt von ihr überall, wo man auch die Glocke hört, trauert man um sie.

Auf dem hochgelegenen Teile des Friedhofes, am Rande der Heide, neben einer Gruppe immergrüner Wacholder, senkt man sie nun ins Grab, und die Schaufeln beginnen ihr Werk. Über das schreckliche Geräusch hin der fallenden Schollen klingt immer und immer noch und immer gleich tief und voll und feierlich die große Glocke, Ton um Ton – Ton um Ton, man läutet heute mit besonderem Fleiß. Auch noch in die Klänge des Sterbechorals: »Jesus, meine Zuversicht«.

Verhallt mit dem Gesang endlich auch das Geläute. Man wendet sich zum Gehen. Einen Blick noch auf das frisch zusammengeschaufelte Grab. Da, horch, lautes Winseln, und es scharrt am Grabe, kratzt. Es ist unser alter Moor, und entkommen mußte er sein. Der Hund ist nicht zu bewegen, mit uns zu gehen. Erst spät am Abend kam er heim, und in seinen Augen lag's wie eine dumpfe, traurige Frage.

Es waren trübselige Stunden dann noch zu Hause. Der ganze Ort bewies seine Teilnahme, man wurde nicht müde, die Tote zu preisen, in ihren großen Tugenden. Vielfach geschah's auch, ich merkte es wohl, mit Seitenblicken auf mich. Ich schwitzte manchmal Blut.

Nach meiner Rückkehr nahm ich's allerdings mit meinem Schuldienst ernster. Mein Eifer wuchs, je näher Ostern heranrückte, und zugleich auch meine Angst, denn es hieß, Hochwürden käme vielleicht zur österlichen Schulprüfung. Wehe, alle meine Sünden! Die heillose Theatergeschichte und die schreckliche Schulinspektion: es hatte einen scharfen Verweis gesetzt!

Wie's nun einmal mit mir stand – ich beschloß nach aller Möglichkeit politisch zu Werke zu gehen, und meinen ganzen Schulbetrieb richtete ich mir deshalb schleunig ein als ganz ausgesprochene Vorbereitung auf die Prüfung. Ich bläute den Kindern zuvörderst alles in Betracht Kommende aus dem Katissen ein, in gesinnungsfester Betonung des geistlichen Schwergewichtes. Religion muß der Mensch haben! Entschieden gleich ein gutes Bestehen damit, das würde Hochwürden schon milder stimmen, gute Nachwirkung haben, besonders auch noch aufs Kopfrechnen später, das verfluchte. Und so drillte ich meine Kinder auf die Prüfung wie ein Unteroffizier seine Rekruten auf die Besichtigung.

Wirklich, er kam! Kaum hatte er Platz genommen hinter mir, am Schulpult, gleich schob er sich gereizt die Brille hinauf bis fast ans vorgekämmte Grauhaar, und er krauste die Stirn, rieb sich die Nase. Lauter Sturmzeichen. Auch die Eltern der Kinder waren mit zugegen und die Schulvorsteher. Wehe aber, Hochwürden kam schnell mir hinter die Schliche, er stellte verfängliche und mich bloßstellende Zwischenfragen, wahre Torpedos waren's, Explosionen bewirkend, ganze wissenschaftliche Hauseinstürze. Beim Kopfrechnen war ich selber so verbistert, ich fand mich schon im vierten Einmaleins selber kaum mehr zurecht. Ganz zuletzt gottlob eine Wendung zum Guten. In der Naturbeschreibung wußten die Kinder eine Menge Säugetiere, Vögel, Schmetterlinge, Käfer zu nennen, alle anwesenden Eltern wunderten sich. Nur Hochwürden nicht, hörte er doch überhaupt schon lange nicht mehr zu, die Lehrstoffverteilung, die Versäumnisliste waren ihm in die Hände gefallen. Wehe, die Unordnung in den verfl... Heften!

»Wollen Sie schließen, Herr...re!«

Die Kinder mitsamt ihren Eltern entfernten sich, und mir aber brach frisch von neuem der kalte Schweiß aus, denn, wehe, was ich zu hören bekam, wehe, war keine angenehme Musik! –

So geknickt ich auch war, anstandshalber begleitete ich Seine Hochwürden schließlich noch ein gutes Stück durch die noch ganz winterschwarze Heide, bis an die bequeme Landstraße. Beim Abschied ermahnte er mich nochmals: nicht ablenken solle ich mich lassen durch brotlose Künste von dem, was nottue. Er wisse wohl, womit ich meine Zeit vertrödele. Das aber müsse nun anders werden, ich müsse mit Gottes Hilfe mich ändern, sonst –.

In sehr gedrückter Stimmung aß ich danach im Krug zu Mittag. Kohlsuppe – puh! – gab's, und als ich einen Teller davon heruntergewürgt hatte, nahm ich das Kreisblättchen zur Hand. Politisieren will ich, ha, und staatsfeindlich, umstürzlerisch!

Gleich mein erster Blick aber bleibt haften am fetten Druck einer Konzertanzeige, aus der reichlich vier Stunden entfernten, nächsten großen Stadt. Zwei Worte sind's, die versetzen mir elektrische Schläge. Beethovenabend – Bülow! Der große Kapellmeister Hans von Bülow, Beethoven führt er auf, mit seiner Meininger Hofkapelle, die »Eroica«, das herrliche Klavierkonzert in Es-Dur, und das wird er zugleich selber spielen. Ich breche in Schluchzen aus, zitterte an allen Knochen, siehe und meine unnatürlich unterdrückte, alte Leidenschaft – sie reißt sich von der Kette, sie packt, sie schüttelt mich! Hin muß ich! Vergessen ist der erzürnte Vorgesetzte, die Schulprüfung, alles!

Ich erlebe Beethoven. Die Eroica, herrlich aufgeführt, reißt mich in den höchsten Himmel hinauf, erschüttert bin ich, hingerissen! Allerdings danach von Bülows Klavierspiel bin ich zunächst ganz vernichtet. In bitterer Erkenntnis meiner Unzulänglichkeit. Doch auf dem Heimweg, bei Gewitter, Sturm und Regen erst und hernach im Kiekebusch, dem einzigen Fetzen Wald mit auch einigen Laubbäumen – hier, im sonnenfrohen Erwachen der Natur, kämpfe ich mich durch. Heraus endlich aus dem Siehl des mir aufgezwungenen Berufes und hin in die große Kunststadt, aufs Konservatorium, auf den Olymp der Kunst! Das Stipendium, das sie mir verschaffen wird, Gertrud Braatfisch, das Stipendium, und so handelte sich's da eigentlich doch nur noch um mein lumpiges bißchen Unterhalt!


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