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Kapitel 12.
Der Leichentext

»Er führt die liebe Jugend
Zur Gottesfurcht und Tugend
Den ungeratnen Kindern
Verhaut er auch den ...
Und zieht daraus zur Not
Sein ärmlich Stückchen Brot.«

Meine didaktische und methodische Kunst und Wissenschaft, ja, ach Gott, nun galt's sie anzuwenden!

Ach, lange zog so ein Schultag sich hin. Die Stundenzeit mußte immerhin innegehalten werden, wenn's ja auch nicht allzu genau darauf ankam, denn wenn ich etwas abknappte dann und wann, war's den Kindern schon recht, und den Eltern auch, denn man hatte die größeren Sprößlinge in der Wirtschaft doch immer gern zur Hand.

Wehe, auf der obersten Bank meine Großen! Freilich: »den ungeratnen Kindern verhaut er auch den ...«! Das ließ ich aber lieber bleiben, klugerweise, ich konnte es sonst leicht erleben, daß man sich mir widersetzte. Wie's Herrn Lüdeking widerfahren war. Nachdem ich mich eine Zeitlang mit den großen Lümmeln herumgequält und in meiner Langmut mich erschöpft hatte, riß mir die Geduld. Ei, ihr Böcke, so fahrt zur Hölle! Dagegen machten mir die noch unverdorbenen Lämmlein vielfach Freude. Ich verstand's, mir ihre Herzchen zu gewinnen, und so brachte ich sie auch ganz gut vorwärts, sie lernten mit Eifer die kleinen und großen Buchstaben in der Hahnenfibel. In der Singstunde aber breche ich schon bald sogar den schlimmsten Böcken die Hörner, daß da wenigstens sich Friede herabsenkt auch auf die oberste Bank – den Verbrecherwinkel. Dies Wunder vollbringe ich mit meinem Geigenspiel. Da hat mich der Musikant. Völlig vergesse ich mich manchmal, ganze Sätze geigend, aus Sonaten, Trios, Quartetten, und man starrt mich an wie einen Zauberer.

Es war Spätherbst geworden mittlerweile, die Novemberstürme fegten über die Heide daher mit wildem Geheul, und wenn schon Wind und Regen einmal aussetzten, braute der Fuchs. Meine Kummerbirken standen nun völlig kahl, überhaupt kaum eine Spur mehr von Leben draußen. Selbst für die Galgenvögel ist die Gegend zu power. Wenn einzelne zuweilen in der Abenddämmerung über die Heide fliegen, schräghin, eilig und mit sicherem Kurs, um nur möglichst schnell in eine wirtlichere Gegend zu kommen, da schaue ich immer ihnen nach: ach, daß ich mit könnte!

Exkollege Lüdeking aber saß immer noch fest im Dorfe, mit seinem Siegelring und seiner Panzerkette aus Tombak.

Immer trübseliger die Tage. Kälte fiel ein. Entsetzlich einsam fühlte ich mich. Großmutters Wohnküche suchte ich nun öfter auf. Mit der guten Alten war nicht allzuviel anzufangen, aber ihr stets warmer Kochofen war mir ein guter Tröster. So fleißig sie auch immer ihr Spinnrad schnurren ließ, sie klöhnte schon gern dabei, selbst wenn sie zwei Fäden spann und schärfer aufpassen mußte, und oft erzählte sie mir von ihrem verschollenen einzigen Jungen, der war, lieber Gott, gleich von seiner ersten Fahrt als Schiffsjunge mit einem Holzschiff nach dem fernen Brunsilgen nicht wieder heimgekehrt. Wenn ich ihr lange mit halbem Ohr zugehört hatte und statt mit Worten ihr zuletzt nur noch mit Seufzern antwortete, da tröstete sie mich wohl: »I wat denn, nich dahlkriegen laten, Sei möten sick hier man irst ornlich rinfreten in den Kram. Un man fix ne junge Fru rinn in't Hus, Herr Barkebusch, un in'n Kaben 'ne ornliche Söge. Süh, de veelen hübschen Deerns hier, da sünd Dannemanns öhre twee, Minchen un Gesche, und Ohlmanns öhre, Dortchen, Fiechen un Lieschen un Nettchen, un Puvogels öhre, Stine un Minchen un Hannchen, un Appel-Wätjen öhre veier, un de kriegt – jede – bare sößhunnert Daler mit un ok noch 'n grooten Kistenwagen.«

Ich winke heftig ab: »Ich heirate nicht!« Jedoch immer an Adelheid Esping denke ich, wenn die Alte vom Heiraten anfängt. Einmal aber vergesse ich mich, und ich stöhne und seufze dermaßen, als bräche mir das Herz auseinander.

Die Alte erschrickt, sie sieht mich besorgt an: »Na, aewerst –? Hm, denn doch 'ne Piepe Tobak, smöken, Herr Barkebusch, is ok 'n Trost, dabi vergaht de dummen Gedanken.«

Sie mag damit schon recht haben.

Alle meine Vorgänger, erzählt sie weiter, hätten die lange Pfeife eigentlich nur während des Schulehaltens ausgehen lassen. Und sie singt, um's recht klug und gut zu machen, zum schnurrenden Spinnrad, zahnlos, piepsig, zitterig:

»Wenn eins geheirat' hat, dann geht's ganz anders,
Da ist gewiß die schönste Zeit vorbei!
Drum sag ich noch einmal,
Schön sein die zwanz'ger Jahr,
Schön ist die Ju-u-gend,
Sie kehrt nicht mehr!«

Am nächsten schulfreien Nachmittag kaufte ich mir im Kirchdorfe eine lange Pfeife von wohlriechendem Weichsel, ferner einen Tabakskasten, Tabaksbeutel und ein großes Paket Pastorentabak. Wirklich, ich hatte noch keinen Schulmeister ohne lange Pfeife gekannt, und darum: die pädagogische Pfeife des Trostes, sie sei gesegnet! Aufrichtige und große Mühe gab ich mir, am Rauchen Geschmack zu finden. Ich übte auch gleich allerhand Künste, in Erinnerung an Küster Stute, Ringelblasen, durch die Nase qualmen und dergleichen mehr, und die Großmutter machte mir Fidibusse. Leider mußte ich dafür büßen, und nun aber kochte Großmutter mir Fliedertee.

So rückte die Zeit weiter und in den Dezember hinein. Mit dem ersten Schneefall, der die ganze Gegend völlig in ein Leichentuch hüllte, gab's auch wirklich eine Leiche im Dorfe. Dem Gerd Barbraake starb die Frau. Hochwürden schrieb, er könne bei dem Schnee unmöglich herauskommen, der neue junge Lehrer – also meine Wenigkeit! – solle am Sarge einige erbauliche Worte sprechen, ich möchte eine von den großen Betrachtungen über Tod, Begräbnis, Gericht, Auferstehung und ewiges Leben aus der angehängten Gebetsammlung im Kirchengesangbuche ablesen.

Herrgott! Aber bloß was »ablesen«? Nein, selber einen Leichentext verfassen, einen richtigen! Ich mache mich an die Arbeit, an Großmutters Ofen, längelang mit den Beinen in der tiefen Kochröhre, und unter den bewundernden Augen der Alten. Draußen heult der Schneesturm, bei Großmutter aber ist's warm und traulich und still. Nur das Kritzeln meiner Feder ist zu hören. Dazwischen ab und zu Großmutters bewundernde Ausrufe: »Nee, wo dat flutscht! So 'n Kopp! 'n Liekentext, is't tau glöwen!«

Tüchtig in Zitaten packe ich aus. Aus alten Kirchenliedern und kühnlich auch aus weltlichen Dichtungen. Die unterschiedlichen Möglichkeiten des Todes schildere ich, in einer unmäßig bilderreichen Sprache, mit so viel Schwung und Erhabenheit, ich ergehe mich ganz unwillkürlich in freien Rhythmen, ja auch in Reimen. Beredt preise ich die christlichen Tugenden der Entschlafenen, obschon ich sie nie gesehen hatte und eigentlich kaum mehr von ihr weiß, als daß sie eine alte Muffel war. Mit einem regelrechten Leichenkarmen, das dermaleinstige Wiedersehen und die himmlischen Freuden schildernd, in vielen Versen, schließe ich ab.

Mein Leichentext machte tiefe Wirkung am anderen Tage bei der Feier. Ich stand in meinem Gottestischrock am Kopfende des Sarges, und ich sprach frei, mit sehr viel Betonung, sehr vielen Gesten. Sofort wirkten meine Worte, gleich wurde herzbrechend viel geschluchzt von den Frauen. Auf der düsteren und verräucherten Scheundiele war die Leiche aufgebahrt. Etliche übel qualmende und stinkende Kerzen, in Bierflaschen, warfen gespenstische Schatten. Auch die Kühe, zu beiden Seiten der Diele, hörten mir andächtig mit zu. Leider aber quiekten und rumorten zuletzt ziemlich arg die Schweine in den Kobern, sie hatten wohl Hunger bekommen, just als ich mich über die Wiederkunft Christi verbreitete. Und als ich überleite von den Schrecken des Jüngsten Gerichtes auf die himmlischen Freuden, plötzlich legt in nächster Nähe eine einfältige Henne ihr gerade fälliges Ei, mit steinerweichendem »Gagagagagagagei«! Ich muß stoppen. Ein beherztes Knechtlein aber steht auf, greift zu und steckt das rücksichtslose Vieh hinaus. Draußen geht's aber noch eine gute Weile fort: »Gagagagagagagei, Gagagagagagagagei!«

Als ich endlich mit Herzhaftigkeit »A-m-e-n« gesagt habe, ist des Wunderwerkens kein Ende. Und ich höre, man raunt sich zu: »Nee, ok so 'n schönen Liekentext! All de veelen schönen Liederverse da in!« Und was ihnen am meisten Hochachtung abnötigte: ich hatte frei gesprochen. »Allens slank unner de Mütze weg.«

»Nee, dat könn Lüdeking nich!«

Man vergleicht mich mit Herrn Lüdeking, gibt mir den Vorzug!

»Kinners,« geht das Geschwöge immer noch weiter, »hei hat't in sick, ja un hei is süß ok 'n ganzen vegelanten Minschen, hei is ganz anners as Lüdeking seggt. Och leiwer Gott, man blot so dünndarwig!«

Ich war damals sehr dürr und hochaufgeschossen.

»Wie möten'n uns nu ornlich rutfuddern!« –

Die Leiche wurde endlich auf dem Schlitten nach dem Kirchhof gebracht. Zuvörderst aber wurde natürlich gehörig gefrühstückt und Köhm getrunken, nach alter Gewohnheit. Ich mußte neben dem trauernden Witwer sitzen. Er bat mich, ihm doch mein großes Leichenkarmen abzuschreiben. Von nun ab solle ich's gut haben, keiner solle mir an den Wagen fahren, denn man wisse doch mit mir nun wie und wo.

Kaum hatte er die Abschrift, gleich erhielt ich zur Belohnung und Anerkennung und um mit dem Herausfuttern einen guten Anfang zu machen: einen großen Preßkopf, vier fettblanke Mettwürste, Grütz- und Blutwürste, einen tüchtigen Klumpen Butter, ein Stück Scheibenhonig und einen Fladen Kümmelkäse.

Und Exkollege Lüdeking nun – er nahm in seinem Ärger polnischen Abschied, er gab sich einen Ruck und stellte sich und blieb dabei und »kapitulierte«, und so wird er jedenfalls aufgerückt sein nach und nach bis zum Feldwebel und einem wahren Prachtexemplar von einem solchen, breit und stattlich und lungenstark und trinkfest.


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