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Vierzehntes Kapitel.
Das Tauffest

Noch lag das Dunkel der Nacht auf der winterlichen Gegend, obschon die Glocke auf dem Kirchturm zu St. Colombe bereits die sechste Morgenstunde verkündet. Viktor konnte nicht länger schlafen, sprang von dem Lager auf, das man ihm in einer Dachstube des Meierhofes bereitet hatte, und stieg, sich die Zeit zu verkürzen, mit der Lampe in der Hand in das Erdgeschoß des Hauses hinab. Es regte sich noch keine Seele im Gebäude. Seine Bewohner, müde von den Zubereitungen des verflossenen Abends, genossen noch des festen Schlummers. Viktor schürte das Feuer auf dem Herde an und durchschritt mit neugierigen Blicken den Hausflur und das daranstoßende Gemach: die Wohn- oder besser die Putzstube des Hauses. Er sah sich in eine fremde Welt versetzt. Man schien hier noch in den Zeiten des Mittelalters zu leben. Wie überhaupt die Bretagne noch viele Spuren ihrer früheren keltischen Bewohner trägt, so verleugnete sich auch in diesem Meierhofe der allgemeine Charakter des Landes nicht.

Als Viktor noch auf seiner Runde im Gemach begriffen war, rief ihm Sans-Regrets Stimme einen freundlichen guten Morgen zu und die Hand des Freundes streckte sich ihm aus dem Bettkasten entgegen.

»Sie dürfen schon hereintreten,« sagte der Pächter. »Suzon ist nicht hier; ich bin vorderhand ein Junggeselle, weil mein Weibchen samt dem Kind sich in die Stube der fremden Dame gebettet, damit sich diese nicht fürchte. Doch aber fällt mir ein, daß es sich nicht schicken würde, wenn Sie zu mir kämen. Nur einen Augenblick, ich bin gleich bei Ihnen.«

Bei diesen Worten sprang er behende vom Bett, schlüpfte in seinen Sarreau, in seine Holzschuhe und kam zu Viktor, ihm die Hand schüttelnd und ihn noch einmal willkommen heißend. »Wir haben uns gestern nicht unterhalten können,« sagte er freundlich; »wir wollens heute nachholen. Teilen Sie mein Frühstück; verschmähen Sie die Speise des Landmanns nicht und gedenken Sie jener Zeit, wo Sie das Mittagsmahl des Invaliden nicht verachteten.«

Er langte rasch von dem Brettergestell, das um die ganze Höhe des Gemachs lief, einen großen Laib Schwarzbrot, sorgfältig in ein reinliches Tuch gewickelt. Dann zog er unter einer Bank, die ebenfalls einen Kasten bildete, einen Topf mit gesalzener Butter hervor, sprang gelenk in den wenig tiefen Keller und kam mit einem Krug voll des besten Ciders zurück. Sodann rückte er einen Schemel an den flammenden Herd, setzte auf diesen seine Herrlichkeiten nieder, richtete mit seinem Taschenmesser die Butterschnitten zu und Viktor tat gefällig Bescheid. Es bedurfte nur weniger Augenblicke und schon wußte der Invalide aufs genaueste, wie es mit seinen unverhofften Gästen stand. Er lachte hell auf vor Freude, als ihm Viktor die dreifarbige Kokarde zeigte, die er unter dem Wachstuchumschlag seines Huts verborgen hatte, und rief: »Hat mich doch in meinem Leben nichts so sehr gefreut, als daß ich mich von Ihrem Patriotismus überzeuge. Gestern abend – auf meine Ehre – hielt ich Sie zuerst für ein Gespenst, und dann für einen Mann, der nichts eiligeres im Sinne hat als zu emigrieren. Keine Frage, daß ich Ihnen nicht auch zur Emigration behilflich gewesen wäre. Ich bin ja nur froh, daß Sie leben. Lieber aber ist mirs, daß Sie treu und fest an den Fahnen halten, die unserem Vaterland in so trauriger Zeit Ruhm und Ehre errungen haben.«

Viktor schüttelte sorgsam den Kopf und versetzte: »Du bist noch der alte Schwärmer, Sans-Regret. Deine Phantasien wie die meinigen sahen anders aus als die blutige Wirklichkeit. Solltest du nicht wissen in deiner Abgeschiedenheit, was sich in Frankreich begibt? Sollte sich nicht dann und wann ein Zeitungsblatt hierher verirren, welches euch belehrte, daß des Schreckens furchtbare Regierung ihren Anfang genommen? Daß unbescholtene Generale, tugendhafte Deputierte, die ärmste aller Königinnen und eine Menge von friedlichen Bürgern schon den Tod von Henkershand empfangen?«

Sans-Regret nickte schweigend, zuckte die Achseln und erwiderte: »Das alles weiß ich wohl; der Bruder unseres Pfarrers, der Adjunkt von St. Colombe, hält die Zeitungen und teilt mir sie hin und wieder mit. Was können wir jedoch dazu? Wir sind schwache Menschen, und die Zeit ist gekommen, von der ich Ihnen in Paris so viel gesagt. Frankreich war eine rostige Klinge; es kostet Mühe, den hundertjährigen Schmutz zu tilgen. Doch in der Zukunft strahlt es hell, verlassen Sie sich darauf. Manchmal kommt mir in stillen Nächten, wenn der Vollmond am Himmel steht und ich mich, schlaflos, ungeduldig auf dem Lager wälze, jene Erscheinung wieder zu Sinne, die ich bei Mirabeaus Bankett gehabt. Glauben Sie mir: jenes Gesicht muß sich erfüllen. Ist Mirabeau nicht schon zur Leiche geworden? Hat den Schurken Marat nicht das Los getroffen, das sein Blutdurst verdiente? Und so gut als es an die Girondisten kam, wird es nicht ebenso an alle die Leute kommen, die an jenem Tische saßen und deren blutige Hälse ...«

Sans-Regret verstummte plötzlich, ließ den Kopf in die Hände sinken und sprach lange kein Wort. Endlich ermannte er sich, fuhr wild in die Höhe und faßte krampfhaft Viktors Arm. »Du weißt nicht, junger Freund,« murmelte er, »welch' eine unheilvolle Gabe sich damals in mir entwickelte. Ich bin ein Leichenhuhn geworden, und sehe jedem Menschen, dem mein Blick durchdringend in die Augen schaut, die Art des Todes, der seiner harrt, und oft die Zeit desselben an. Eine beklagenswerte Fähigkeit, die, wenn ich sie nicht in mir zu ersticken suchte, mich nur unter Leichen auf einem weiten Kirchhofe wandeln ließe.«

Er schwieg seufzend; indem er aber in des Freundes Gesicht sah, wurde wieder Friede in seinen eigenen Zügen und er sagte mit gutmütigem Lachen: »Mut, mein Freund! Sie leben ja noch und nun lebe ich wieder doppelt, und alle Gespenster meiner unglücklichen Phantasie müssen vor der Hoffnung weichen, die auch nach der trübsten Nacht ein heiteres Morgenrot verkündet.«

Viktor, zufrieden, die böse Laune seines Wirtes verscheucht zu sehen, benützte den Augenblick, ihn auf ein anderes Thema zu bringen. Er sagte: »Du sprachst vorhin davon, wie wir gestern einander gegenüberstanden und uns für Geister hielten, bis die Macht der Freundschaft uns einander an die Brust geworfen, wo wir uns endlich überzeugten, daß wir noch gesund auf dieser Erde wandeln. Erkläre mir nun auch, wie es gekommen, daß du so schnell verschwandst. Man meldete mir auf meine eifrigsten Nachfragen immer nur deinen Tod.«

»Ging es mir denn besser, was Sie betraf? Sie waren noch keine vollen vier Monate bei der Armee an unseren Grenzen, als mir eines Tags der alte Pierre Huet, der Invalide, sagte: »He, Gevatter! Weißt du schon, daß dein Vicomte in das Gras gebissen hat? Mein Enkelchen, der Fourier, schreibt mir's soeben mit der Post. Ein Granatstück hat den jungen Herrn getötet.«

»Der Narr!« rief Viktor mit einigem Zorn. »Eine leichte Wunde, in einem Vorpostengefecht erhalten. In drei Wochen war ich völlig wieder hergestellt und meldete dir meine Versetzung zur Custineschen Armee.«

»Der Teufel hole die Feldposten! Ich habe keine Zeile erhalten. Ich hielt Sie also für tot in aller Form. Wie dieses mir ans Herz griff, werden Sie sich so leicht nicht denken; doch ist's wahr, daß ich einen Augenblick die Idee hatte, mich zu erschießen. Aber nur einen Augenblick lang. Der alte Fechtmeister haßt das Schießgewehr, und ich dachte, es würde besser sein, sich mitten in die großen Händel des Tags hineinzumachen und eine tüchtige Rauferei abzuwarten, worin sich vielleicht das Leben mit Anstand verlieren ließe. Händel gab es nun dazumal genug, wie Sie wissen. Ich hatte das Invalidenhotel Knall und Fall verlassen und Dienste in dem Bataillon unserer Sektion genommen. Unsere Volontaires gehörten zu den schlimmsten in der guten Stadt Paris. Wo es einen Alarm gab, waren sie dabei, und ich, der alte Amerikaner, fehlte auch selten. Da heißt es eines Tages – wir waren gerade im Sommer 1791 – daß der letzte Tag der Monarchie angebrochen sei. Man traue dem König nicht mehr, weil er schon einmal davongelaufen, und alle guten Bürger seien auf das Marsfeld beschieden, um eine Bittschrift zu unterzeichnen, daß es der Nationalversammlung gefallen möge, den König Ludwig abzusetzen. Hm, denke ich, es ist Zeit, daß das Possenspiel ein Ende nimmt! Die Komödie, die bisher gedauert, muß dem Volk und dem König gleich lästig sein. Es ist ja besser für beide Teile, wenn man Seine Majestät samt Familie über die Grenze schickt, als daß man sie länger noch mit großen Kosten gefangen hält. Ludwig war ja doch nichts als nur ein Gefangener. Somit mach' ich mich auch auf den Weg und finde auf dem Marsfeld eine ungeheure Menge von Bürgern aller Klassen. Auf dem Altar des Vaterlandes, dort wo der König der Konstitution den Eid geschworen, steht Danton aufrecht, glühendrot im Gesicht, und predigt mit seiner Löwenstimme dem Volke Freiheit und Abschaffung der Königswürde. Eine ungeheure Papierrolle liegt neben ihm ausgebreitet, Tinte und Feder sind zur Hand, und alle Bürger, einer nach dem andern, drängen sich hinzu, die Bittschrift zu unterschreiben. Wer nicht schreiben konnte, macht ein Kreuz, und die Weiber schrien indessen aus voller Kehle: ›Es lebe die Nation! Weg mit dem König!‹ Das Ding gefiel mir nicht übel, obschon ich lieber gesehen haben würde, wenn sich das ganze Heer des Landes, wie zu Pharamonds Zeiten, versammelt hätte, um auf seinen Schilden einen neuen Herrn in die Höhe zu heben. An eine Republik dachte man damals noch nicht eigentlich. Ich wäre näher zu dem Altar hingetreten, wenn nicht an meiner Seite ein Mädchen laut aufgeschrien hätte. Ein plumper Landsmann hatte der Dirne den Fuß mörderisch zertreten. Ich werfe einen Blick auf die Kleine, sehe, daß sie trotz ihres ziemlich abgeschmackten Bauernkleides ein recht hübsches Geschöpf ist und fange mit dem Landsmann lebhafte Händel an. Da wir Provenzalen die Zunge am rechten Fleck haben und der Landsmann von damals noch besser als ich, – er schien einer Austernhändlerin Sohn zu sein –, so verlängerte sich der Zank über die Gebühr, und wir bemerkten in der Hitze nicht, daß von der andern Seite des Platzes her Truppen anrückten und plötzliche Gefahr entstand. Mit einemmal hör' ich neben mir schreien: ›Die rote Fahne! Rette sich wer kann!‹ Ich blickte nach der Seite, wo der rote Fetzen flatterte, sehe schon die ganze Menschenmenge in unaufhaltsamem Lauf nach allen Seiten hin zerstieben, höre ein Pelotonfeuer, das sich einigemal erneut, und fühle mich, gerade als mein Landsmann tot vor mir zu Boden stürzt, von einer Kugel in die Schulter getroffen. Ich muß bleich geworden sein wie ein Leintuch, denn meine hübsche Nachbarin, im Begriff auszureißen, schrie ihrem Vater zu: ›Seht den braven Mann, wie er wankt! Gewiß ist er verwundet, und wir müßten uns schämen, ihn hier zurückzulassen, da er sich doch unserer so freundlich angenommen.‹ Ich fühlte mich, gerade als es mir dunkel vor den Augen wurde, an beiden Armen ergriffen, eine gute Strecke fortgezogen, und dann, just als ich zusammensank, schnell hinweggetragen. – Als meine Sinne wiederkamen, befand ich mich in der Stube eines Logeurs, unfern von Luxemburg. Ein unerbittlicher Feldscher wühlte mit der Sonde in meiner Wunde, und nebenan saß das hübsche Mädchen, hatte die bereits heraus gezogene Kugel in der Hand und lamentierte heftig, umringt von einer Menge von Weibern und neugierigen Männern. Der Logeur war ein Freund der Nation und schimpfte wie ein Teufel auf den Maire und Lafayette, die das Blutbad veranstaltet hatten. Ich knirschte mit den Zähnen, sprach allerlei dummes Zeug, wie man mir nachher gesagt, und hielt eine traurige Quarantäne in dem gastlichen Hause. Tagtäglich besuchte mich das Mädchen, denn es wohnte mit seinem Vater in dieser Herberge. Ich wollte mich gern in das Kämmerlein bringen lassen, das ich bewohnt hatte, aber man riet mir's ab, weil man befürchtete, ich möchte als Teilnehmer jener Unruhen auf dem Marsfelde noch obendrein zur Strafe gezogen werden. So ergab ich mich denn in mein Los und durfte mir einbilden, daß es nicht das schlimmste sei, weil meine Wunde glücklich heilte und Suzon meine unermüdliche Pflegerin war. Als es besser mit mir wurde, kam einmal Suzon in Tränen zu mir und sagte, sie werde bald Paris verlassen müssen, um nach ihrer Heimat, der Bretagne, zurückzukehren, und es mache ihr außerordentlich viel Schmerz, sich von mir zu trennen. Sie las in meiner Seele, daß es mir auch nicht besser erging. Die Pflege, der Umgang mit dem niedlichen Dinge waren mir lieb geworden. Ich fragte sie, was denn bisher ihr Geschäft in Paris gewesen, und sie antwortete mir: ›Die heilige Anna von Auray, zu deren Bilde die Bretagner fleißig wallfahrten, habe ihr einen Traum in ihrer Kirche geschenkt und ihr darin gesagt: sie solle nach Paris gehen und den König warnen vor dem Unglück, das ihm bevorstehe, zugleich ihn einladen, nach der Bretagne zu entfliehen; denn von den Ufern der Loire werde ihm Rettung kommen. Nach langem Widerstand habe der Vater endlich eingewilligt, die Tochter nach Paris zu begleiten; aber es sei ihnen unmöglich gewesen, bis zum König zu dringen, obgleich sie sich an alle Minister gewendet, und besonders an den alten Präsidenten von Malesherbes, der jedoch alles für Alfanzerei erklärt und ihnen geboten habe, unverweilt wieder nach Hause zu gehen. Da hab' es sich getroffen, daß Suzons Vater eine alte Muhme aufgefunden, die in der Nähe des Kirchhofs von Clamart wohnte, auf den Tod lag und ihren Vetter dringend bat, bis zu ihrem Ende zu verweilen und für diese Barmherzigkeit ihre kleine Hinterlassenschaft anzunehmen. Nun sei aber die Muhme gestorben, auch bereits begraben und der Vater wolle ein längeres Zögern nicht dulden.‹ – Was soll ich aber auch noch länger zögern? Ich sage Ihnen kurz, daß die junge Suzon mich, den weit ältern Krüppel, liebgewonnen hatte; daß sie mir's gestand; daß ich hoffte, in einer solchen Verbindung noch einen Strahl der Freude in mein Erdenleben blitzen zu sehen; daß der Vater hinter die ganze Geschichte kam und mir die Tochter versprach. Da zog ich mit den Leuten weg, ohne meine Chefs und meine Kameraden wieder zu sehen, wurde von dem würdigen Pfarrer zu Colombe mit Suzon getraut und erlebte vor wenig Wochen die Freude, Vater eines gesunden Knaben zu werden. Ich habe gelernt, meinem wohlhabenden Schwiegervater in seinen Arbeiten zu helfen, und er tut stolz mit mir, weil außer dem Pfarrer im ganzen Dorfe niemand ist, der so viel gelernt und gesehen hat als ich. Die guten Leute, meine neuen Verwandten, zweifeln keineswegs, daß es mir nicht einst noch gelingen würde, den Ehrenplatz des Maire im Dorf einzunehmen. Insofern aber dieses eine politische Würde ist, so geize ich nicht danach, weil einem jeden Beamten zu dieser Frist der Hals erbärmlich jucken muß.

Fürchten Sie indessen nicht, daß ich meine Mitwirkung zur Flucht Ihrer Dame verweigern werde. Um etwas Gutes zu tun, bin ich nie zu furchtsam und gälte es auch den Kopf. Es ist nur verdrießlich, den Kopf um einer elenden Lapperei willen zu verlieren.«

Viktor umarmte ihn und sagte dringend: »O, so hilf schnell. Der brave Grognon hat sich vorgenommen, noch diesen Morgen nach Mans zurückzukehren. Meine Hoffnung beruht auf dir allein. Bevor die Marquise nicht in Dinan ist, hat sie noch nicht das Geringste gewonnen. Die Truppen des Konvents sind spätestens in zweimal vierundzwanzig Stunden in der ganzen Umgegend kantoniert, und vielleicht stößt morgen schon das englische Fahrzeug, das die Unglückliche gerettet hätte, von der Küste.

»Verfluchte Engländer!« schalt Sans-Regret, indem er dem einbrechenden Tag die Fensterladen öffnete und dann einige Male um den Herd rannte. »Schäbiges, plumpes Krämergezücht! Das ist mit ein Unglück unserer Zeit, daß ein ehrlicher Franzose gezwungen ist, sich mit den englischen Hallunken zu verstehen, wenn er andere ehrliche Leute dem Teufel aus den Zähnen reißen will. Verfluchte Engländer, noch einmal! Verfluchte Emigranten, noch obendrein! Wäre der feige Adel nicht davongelaufen, so stünd' es jetzt besser um Frankreich und die honetten Leute dürften ungestört zu Hause bleiben. Aber, fort muß die Marquise. Am hellen Tage geht's zwar nicht. Die guten Bretagner sind sehr neugierig. Wir müssen die Nacht abwarten. Ich werde in der Sakristei mit dem Herrn Pfarrer sprechen. Wir haben hier noch einen Pfarrer. Es geht uns nichts an, daß der Spitzbube Gobel seine Bischofsmütze wegwarf und die anderen Spitzbuben seines Schlags, Bischöfe und subalterne Pfaffen, ihre Kram aufgaben. Unser Pfarrer war von Anbeginn kein Heuchler, kein verlarvter Sünder mit zugekniffenen Augen und Honig sprudelnden Lippen, sondern ein wahrer Knecht des Evangeliums und ein würdiger Berater seiner Gemeinde. Darum braucht er auch jetzt kein Heuchler zu werden und nicht den Gottesleugner zu spielen wie die anderen, denen es jedoch auf dem Totbett heiß genug sein wird. – Ja, wo bleiben wir denn? – Ich weiß schon: mit dem Pfarrer wollt' ich sprechen. Er hat einen leichten Wagen und ein paar frische Gäule, die wie eine Windsbraut in die Welt hineinlaufen. Ich bringe die Marquise in der Nacht zum Pfarrhause und kutschiere sie dann selbst nach Dinan.«

»Wenn du mir darauf dein Wort gibst, bin ich beruhigt. Ich lasse dieses Pfand, mir vom Schicksal anvertraut, in deinen Händen, und darf mich somit wohlgemut mit Grognon auf den Rückweg nach meinem Posten machen.«

»Das wäre schön! Meinen Sie denn, daß nur der Zufall Sie hierher geführt? Zwölf Stunden hin oder her, das macht für Fremde nichts aus; haben Sie vergessen, daß bei mir getauft wird? Meinen Sie, ich würde schlecht genug sein, einen anderen Paten zu wählen als Sie? Der alte Lambert mag zurücktreten. Ihnen gehört der Blumenstrauß von Rechts wegen. Sie werden sehen, wie Sie von unseren Bauern fetiert werden, und meinem Buben wird der Name Viktor besser stehen als der des heiligen Iflam, der Lamberts Patron ist. Sie müssen wissen, daß wir hier in Niederbretagne Heilige haben, von denen man sich in Rom schwerlich etwas träumen läßt, und ein jeder von ihnen hilft gegen ein besonderes Übel. So kuriert der heilige Ilex die vernagelten Pferde, Sankt Columbanus hilft vom Fieber und der heilige Dourlu richtet den Verrückten ihr bißchen Gehirn wieder ein. Ich hätte ihm auch schon eine Wallfahrt gelobt, wenn ich nicht, mitten unter Aristokraten, ein guter Republikaner wäre. Lassen Sie mich doch noch einmal die Kokarde sehen, die dreifarbige, daß ich sie küsse. Jetzt ist sie das Feldzeichen der Nation, seitdem der dicke, lüderliche Orleans daran glauben mußte, dessen Livrée sonst die drei Farben trug. Fühlen Sie sich, Viktor, trotz aller Greuel, die unser Vaterland zerrissen, nicht erhaben und glücklich, ein Sohn der Freiheit zu sein? Auch ich habe Washingtons Schleife noch immer; sie prangt dort, wie Sie sehen, an meinem Karabiner über dem Kamin. An jenem Oktobertag zu Versailles ... aber, wie ist mir denn? Was hat denn der Teufel mit Ihnen vor, daß er Sie immer mit Aristokratinnen zusammenführt? Hat noch keine Republikanerin Ihr Herz gerührt? Muß denn gerade jetzt wieder die Marquise ...«

»Du irrst sehr,« versetzte Viktor errötend, »die Marquise wäre eher meine Feindin als meine Freundin zu nennen. Was Emilien betrifft ...«

»Blitz! Da hab' ich Ihnen etwas mitzuteilen. Etwas recht Artiges, ich stehe Ihnen dafür – Sie werden sich freuen, wenn auch nur schmerzlich. Aber selbst im Schmerz gibt es Freude, wie auch umgekehrt.«

»Laß hören!« rief Viktor mit funkelnden Augen.

»So erfahren Sie denn, daß eines Tags, als ich durch die Straße Vievienne ging, plötzlich das Fräulein Sombreuil mir aufstieß. Gott mag wissen, daß sie blaß aussah. Ich rangierte mich zur Seite und grüßte die Tochter meines ehemaligen Gouverneurs, wie es einem höflichen Soldaten zukommt. Da bleibt sie stehen, ruft meinen Namen, dann den ihrigen, und sagt zu mir ...«

Indessen ging die Tür auf und Grognon, mit der Peitsche knallend, trat herein, um Abschied zu nehmen.

»Schon sieben Uhr!« rief er, sich die Augen reibend; »bei euch ist's verzweifelt lang dunkel, ihr wildes Bauernvolk, das noch nicht einmal die Frohnen abgeschafft hat. Indessen habe ich doch bemerkt, Dieudonné, daß Euer Hausknecht meine Pferde wohl versorgte, denn sie stampfen frisch und ungeduldig den Boden und ich will munter von dannen. Noch ein Glas Cider, Freund, und dann, Bürger Leutnant, frisch aufgesessen! Denn ich setze voraus, daß Ihr mit dem ehrlichen Mann da schon alles abgemacht habt, was Eurer Schutzbefohlenen frommt.«

»Fahrt nur allein, wenn Ihr nicht die Taufe abwarten wollt, wozu ich den Offizier nötig habe,« scherzte Sans-Regret. »Der Herr muß unsere schönen Mädchen kennenlernen und findet auch morgen allenfalls noch ein Reitpferd, das ihn ins Hauptquartier zurückbringt.«

Grognon schlürfte sein Glas behaglich aus, machte einen leichten Kratzfuß und versetzte: »Mir ist's recht, Bürger Leutnant. Ihr seid hier nicht im Hause eines Verräters und wahrlich – ich bin auch kein Judas, und verdammt soll das wahre Wort sein, das über meine Zunge geht, wenn man mich zu Mans quästionieren wollte. Mit Euch, Dieudonné, noch ein Wort. Verfahrt säuberlich mit der vornehmen Dame. Bis hierher hat sie's nur mit galanten Leuten zu tun gehabt; es möchte ihr jedoch vor Euer Bauernnatur bange werden, wenn Ihr so ungeschliffen wäret wie gewöhnlich, nun aber erlaubt mir Euch Adieu zu sagen, und Ihr, Herr Offizier, mögt glauben, daß ich Euer nie vergessen werde, obschon ich mich hüten will, Euch jemals ein Kompliment zu machen, wenn Ihr mir auf der Straße begegnen solltet. Was wir wissen, gehört nur für uns. Damit sei alles abgetan.«

Viktor hielt ihn auf und fragte, ob er nicht eine Viertelstunde noch verweilen dürfe, um den letzten Dank der geretteten Dame zu empfangen.

Grognon schüttelte jedoch heftig den Kopf und erwiderte: »Das pressiert nicht. Wir werden uns im Himmel zeitig genug wiedersehen. Gebe nur Gott, daß wir alle samt und sonders in unserem Bett verscheiden! Wie es aber das Schicksal fügt, so bleibt doch der Refrain von allen Dingen: ça ira! ca ira!« Er drückte die Mütze in den Kopf, rannte hinaus zu seinem Wagen und in wenig Augenblicken war er jenseits der Brücke verschwunden.

»Grognon hat recht!« sagte nach kurzem Schweigen Viktor. »Wenn das Schicksal einen Unglücklichen in unsern Schutz gibt, so wird er schnell, sogar aus einem Feind, gewissermaßen ein Freund und Verwandter. Auch ich, offen sei's dir gestanden, Sans-Regret – bin nicht sehr aufgelegt, mit der Marquise ferner in einem Verhältnis zu bleiben. Mir wird es lieb sein, ihr nicht einmal im Augenblick des Scheidens mehr zu begegnen, weil das Mitleid, das ich für sie empfinde, mich weicher machen könnte, als es meiner Stellung ihr gegenüber gerade geziemte.«

Ein schlaues Lächeln überflog Sans-Regrets hageres Gesicht und er antwortete mit dem Schalk im Nacken: »Das macht sich leicht. Die Dame muß ohnedies nicht bei unserem Fest sein, um nicht unnötige Neugier zu erregen. Sie gedulde sich daher den Tag über in ihrem Zimmer, bis ich sie am Abend abhole. Meine Suzon kommt hier gerade zur gelegenen Zeit, daß ich sie mit der Consigne bekannt mache.«

Sans-Regret gab wirklich seine Befehle im obigen Sinn an seine Frau, die mit dem Kind auf dem Arm erschien, frisch und munter, mit Tränen in den Augen, die des Tages Bedeutung erpreßt hatte und einer von Morgentau benetzten Rose ähnlich. Suzon versprach, für die Fremde alle Sorge zu tragen und, im Einverständnis mit ihrem Mann und Viktor, gegen jedermann zu behaupten, daß die Frau, von Verwandten abgeholt, schon in der Nacht den Meierhof verlassen. Indessen nahm Sans-Regret den zur Taufe geschmückten Säugling in seine Arme, tanzte mit ihm durch alle Gemächer auf und nieder und betrug sich so ausgelassen in seiner Freude, daß dem Offizier angst und bang wurde, sein Freund möchte in einen für seine Sinne beunruhigenden Zustand verfallen.

Einen schroffen Gegensatz zu dem possierlichen Übermut des Provençalen bildete die stille Emsigkeit, womit Suzon die Sonntagskleider ihres Mannes herbeitrug und ordnete; nicht minder die phlegmatische Behaglichkeit der herbeigekommenen Schwiegereltern.

Nach einer Viertelstunde hatte Sans-Regret seinen noch immer militärisch zugestutzten Putz angelegt, ein mit Bändern gezierter Karren stand vor der Tür, um den Täufling und seine Verwandten zum Gotteshaus zu führen, und von dem Kirchturm zu St. Colombe schallte die Glocke friedlich durch den grauen Wintermorgen. Suzon befestigte in Viktors Knopfloch einen Strauß von Blumen, die im Kloster zu Dinan verfertigt und in der Kirche der heiligen Anna von Auray geweiht worden waren. Sie sprach dann in dem Dialekt des Landes einen inbrünstigen Segen über das in eine dichte Wildschur gewickelte Kind und begleitete dasselbe, alle Dienstboten im Gefolge, bis zur Schwelle des Hauses, die sie nach dem Landesbrauch nicht verlassen durfte, bevor nicht der Pfarrer die Wöchnerin ausgesegnet.

Viktors Gedanken, obgleich zerstreut durch die Erscheinung der verwichenen Tage, flossen während der Fahrt nach St. Colombe in eine Beschauung zusammen: in die Betrachtung der Vaterliebe, die auf Sans-Regrets Stirne thronte, womit er lächelnd auf den kleinen Jungen sah, der in seinem Schoße lag.

Der Invalide wendete sich zu Viktor und sagte ihm, überspannt wie gewöhnlich: »Sie wollen heute diesem Burschen Ihren Namen geben und dafür gebe ich Ihnen den ganzen Burschen selbst. Er wäre nicht mein Blut, wenn er nicht einst Soldat würde, und meine größte Freude bestünde darin, den Jungen als Tambour bei der letzten Kompagnie der Division zu sehen, die Sie einst als General kommandieren werden. Versprechen Sie mir alsdann, dem kleinen Kerl zum Avancement behilflich zu sein. Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn er es nicht etwa zum Sergeantmajor bringen sollte; also immer noch um ein paar Staffeln weiter als sein Vater.«

Der ernsthafte Viktor mußte wider Willen lächeln und versetzte: »Guter Freund! In unseren Zeiten darf keiner für die nächsten acht Tage schwören. Lassen wir den Himmel walten.«

»Den Himmel?« rief Sans-Regret spöttisch, »sie haben ihn ja im Konvent abgesetzt. Ich glaube, daß nur wir in der Niederbretagne noch einen Herrgott haben.«

Sie standen am Eingang des Dorfes. Ein paar tüchtige Flintensalven, von den Freunden und Bekannten des Pächters abgefeuert, empfingen die Taufleute. Der Täufling schaute mit hellen Augen und schmunzelnd aus seinem Pelz nach der Gegend, wo die Schüsse donnerten, und sein Vater pries den Mut, der sich schon in dem Buben verriet.

Ein langer, blatternarbiger Bauer im höchsten Feststaat, mit einem riesigen Bukett an der Brust, trat an den Wagen und schwenkte den Hut. Sans-Regret rief ihm zu: »Links um, mein Alter! Mein Bube wird nicht Iflam heißen, sondern Viktor, und mein ehemaliger Kapitän« – er warf einen lächelnden Seitenblick auf den Offizier – ist gerade zu rechter Zeit gekommen, um dir abgesetzten, übelberüchtigten Zollwächter das Patenamt abzunehmen.«

Lambert sah den Ersatzmann verwundert an und schien nicht sehr erbaut von diesem Eingriff in seine Rechte. Sein scharfes Auge bemerkte jedoch auf Viktors Uniformknöpfen das Wappen der Republik, und die Sansculotten hatten sich in jenen royalistischen Gegenden bereits so fürchterlich berühmt gemacht, daß der Bauer nicht wagte, einem von ihnen gegenüber etwas anderes zu wollen als dieser. Lambert schwieg also und suchte seine ganze altmilitärische Haltung zusammen, um dem Offizier die Honneurs zu machen, was dem ehemaligen Küstensoldaten übel gelang. Weitere Erörterungen schnitt das Geläut der Kirchenglocke ab, welches die Gläubigen zur heiligen Handlung berief.

Unter dem Zuruf der ganzen Gemeinde des Dorfs wurde die Taufe vollzogen, und Viktor kehrte, den Säugling im Arm und von dessen Großeltern begleitet, zum Meierhof zurück, während Sans-Regret noch mit dem Pfarrer in der Sakristei verkehrte.

Die zum Kindtauffest geladenen Weiber und Männer folgten mit Neugierde und Verwunderung dem fremden Offizier. Ihm, dem fremden Gast, mit den Sitten des Landes unbekannt, bot sich ein wunderliches Schauspiel dar, als er in das Innere des Gebäudes trat und Küche und Flur, sogar die anstoßende Dreschtenne geräumt sah, um die Menge der Geladenen zu fassen und ihnen Platz zum ungebundensten Vergnügen zu verschaffen. Küche und Flur waren mit Tannenzweigen geschmückt und die Glut des Herdes verbreitete, trotz der Kälte von außen, eine angenehme Wärme in diesen zum Tanzsaal verwandelten Räumen.

Suzons Bruder, ein herkulischer Mensch, angetan mit der landesüblichen blauen Jacke, dem breiten Ledergürtel mit der blanken Schnalle und den Gamaschen von Scharlach mit versilberten Knöpfen trat feierlich vor, um Viktor mit wenigen Worten für seinen Patendienst zu danken und hielt alsdann eine lange Rede, wovon der Offizier nichts verstand, die aber rührend gewesen sein muß, weil die Mutter, die Gevatterinnen und alle Gäste insgesamt um die Wette schluchzten. Kaum hatte indessen der Redner geendet, als schon aus einem Winkel des improvisierten Tanzsaals der gellende Ton der Bignous und der schnarrende Brummbaß der Bombarden laut wurde und zum Tanz aufforderte.

Während Suzons Bruder, der Zeremonienmeister und Koch des Festes, in die Dreschtenne lief, in den Kesseln nachzusehen, die Braten zu wenden, die Ciderfässer anzustechen und den Branntwein zu spenden, sammelte sich das junge Volk, um den in der Bretagne heimischen Nationalreigen aufzuführen, der, einen geschickten Führer an der Spitze, alle Windungen einer Schlange nachmacht und die seltsamsten Figuren darstellt. Viktor sah nicht ohne Interesse diesen Verschlingungen zu, worin die rote Farbe der Gamaschen neben den schwarzen Röcken der Weiber, wie der Goldgrund der langen Hauben der letzteren neben den dunkeln Jacken der Männer eine gute Wirkung hervorbrachten.

Während die Jungen tanzten, schmausten die Alten behaglich; ließen sich, um ihre Eßlust zu schärfen, geröstete Fleischschnitten aus der Pfanne fischen, leckern Käse auf die Brotschnitten breiten, und empfingen endlich, aufstehend und mit einem Lebehoch, den Kindtaufvater, der mit zufriedenem Antlitz unter ihnen erschien. Nun wurde eiligst die Tafel für die Notabilitäten des Dorfes gerüstet. Man setzte sich nach dem Grade der Verwandtschaft auf die Bänke, die fast von gleicher Höhe waren wie der Tisch, so daß man halb auf der Tafel, halb auf den Knien speiste. Viktor saß obenan zwischen Sans-Regret und Suzon, die keinen Bissen des Gastmahls anrühren durfte.

Als der fleißige Koch die zweite Tracht der Speisen geordnet hatte und dieselben unter dem Klang der Instrumente aufgetragen wurde, flüsterte Sans-Regret Viktor in die Ohren: »Alles in Richtigkeit. Der Tagesbefehl schon gegeben. Mit keiner Silbe etwas von Ihnen verraten. Alles auf mich genommen; der Pfarrer eingewilligt. Zwischen fünf und sechs, wenn hier alles betrunken sein wird, führe ich die schöne Emigrantin davon. Beharren Sie darauf, sie nicht mehr zu sehen? Meine Suzon sagt mir, sie weine schon den ganzen Tag vor sich hin.«

»Sie weint um ihr verlorenes Glück,« versetzte Viktor achselzuckend, »ich will der leidige Tröster nicht sein. Laß mich zufrieden.«

In diesem Augenblick trat der Zeremonienmeister, von Rauch geschwärzt wie ein Zyklop, an das untere Ende des Tisches und brachte einen Trinkspruch für den Offizier aus. Viktor ergriff hierauf das altertümliche Trinkgefäß, das vor ihm stand, trank dankend und gab den Becher an Suzon. Diese reichte ihn wieder einem Mann, jener wieder einem Weib, und so ging das Gefäß in bunter Reihe die Gesellschaft durch, um von diesem Moment an nie mehr aus der Hand gelassen zu werden.

Die Gehilfen des Kochs hatten alle Hände voll zu tun, um Cider und Branntwein zu schenken, und, als ziemlich spät die Tafel aufgehoben und der Ball wieder begonnen wurde, äußerten sich bald an Männern und Weibern die Wirkungen der berauschenden Getränke. Es ging bunt durcheinander in allen Gemächern des Meierhofes, wo gegen dreihundert Gäste versammelt waren. Hier Tanzmusik und Lustgeschrei, dort ausbrechender Streit; dann wieder Gesang, dann in irgendeinem Winkel Karten- und Würfelspiel; überall jedoch Leben und Übermut, nebst gänzlichem Vergessen alles desjenigen, was außerhalb der Grenze des Hauses vorgehen mochte. Lustiger und grotesker gestalteten sich alle Bilder dieses Festes, als die Fackeln angezündet wurden, weil draußen die Nacht herniedersank.

Sans-Regret hatte sich aus dem Getümmel entfernt und kam zu Viktor zurück, der sinnend an einem Pfeiler im Hausflur lehnte.

»Es ist Zeit,« sagte er kurz und ernst, »mein Mantel und mein Karabiner hängen vor der Tür und ein scharf geschliffenes Messer trage ich in der Tasche. Ich habe eben von meiner Frau Abschied genommen, die oben das schlafende Kind hütet. Die Leute hier haben sich alle vollgetrunken und bemerken gewiß meine Entfernung nicht. Ich gehe also, wohin mich meine Pflicht und mein Versprechen rufen. Bis morgen abend denke ich zurück zu sein. Werde ich Sie dann noch finden?«

Viktor verneinte und entschuldigte sich, mit der Notwendigkeit zurückzukehren.

»Wohlan,« fuhr Sans-Regret fort, indem er sich schnell über die Augen strich, »wenn's nicht sein kann, nun denn in Gottesnamen. Rechnen Sie auf mich, und vergessen Sie nicht, daß ich in der Nähe von St. Colombe wohne und ein Brief mich wohl findet. Gewähren Sie mir dagegen eine Bitte: die arme Frau will nicht eher scheiden, als bis sie ihren Retter noch einmal gesehen. Schütteln sie nicht so hart den Kopf. Das unglückliche Weib steht draußen in einem Winkel und erwartet, vor Frost zitternd, Ihre Entscheidung.«

»Ich müßte kein Franzose sein, wenn ich hier noch zauderte!« rief Viktor beschämt und folgte dem Wirt in den Hof, wo sich Gabriele zu seinen Füßen stürzte.

»Madame! Was machen Sie?« stammelte er verlegen, während heiße Tränen auf seine Hände fielen, und hob Gabriele auf, sie unbewußt mit seinem Arm umschlingend.

»Ist es denn Wahrheit?« schluchzte die Weinende, »daß ich an Ihrer Brust liege, daß Sie mir vergeben? O! es hätte mir das Herz gebrochen, wenn ich hätte fortgehen müssen, ohne Sie noch einmal zu sehen und zu bitten ...«

»Lassen Sie die Vergangenheit, Madame,« versetzte Viktor gerührt. »Das Glück begleite Sie.«

»Das Glück? wenn Sie mich verlassen? O, wenn Sie wüßten ...«

»Sie folgen hier einem braven Mann; ihm haben Sie fortan alles zu danken; sagen Sie Adelen meinen Gruß; sagen Sie ihr, daß ich getan, wie sie gewollt und vergessen Sie mich dann.«

Die glühende Hand der Marquise, die Viktors Rechte krampfhaft umfaßt hielt, erstarrte plötzlich wie zu Eis. Gabrielens Tränen versiegten und gewaltsam riß sie sich von Viktor los, um dem Invaliden die Hand zu reichen.

Obschon betroffen von dieser blitzschnellen Veränderung, flüsterte Viktor doch schnell den beiden zu: »Macht nun, daß ihr fortkommt! Es muß ein Streit im Haus ausgebrochen sein, der sich hierher zu wälzen droht. Fürchtet die Entdeckung, flieht!«

Ohne eine Silbe zu entgegnen, warf Sans-Regret seinen Mantel um Gabrielens Schulter, den Karabiner auf den Rücken und verschwand mit der Dame durch die zufallende Hintertür des Hofes.

Viktor wendete sich rasch nach dem Innern des Hauses, aber wie versteinert stand er auf der Schwelle desselben, als sich die Pforte öffnete, Lichterglanz und wilder Stimmen Ruf hindurchdrang, und Gewehre nebst dreifarbigen Schärpen unter dem Getümmel der herbeiströmenden Bauern zu sehen waren.

Ein Antlitz, ganz geeignet, eine furchtbare Ahnung in Viktors Herzen zu erregen, ward von den Fackeln beleuchtet: es war Minets, des Agenten Gesicht.

Neben ihm stand Lambert, mit Schadenfreude auf den Offizier deutend: »Ist das nicht der Leutnant, den Ihr sucht?«

Und Minet erwiderte trotzig und befehlend: »Im Namen des Gesetzes! Ich verhafte dich, Dammartin, als den Mitschuldigen des verräterischen Marceau.

Viktors Mund, zum Reden geöffnet, verstummte, und eine Schar von sogenannten Epaulletiers der Revolutionsarmee umgab mit gespannten Gewehren den Gefangenen. Mit vieler Mühe stammelte er endlich: »Was hab' ich verbrochen?«

»Das wird man dir vor dem Revolutionstribunal sagen,« erwiderte höhnisch lachend der Agent. »Glaubtest du unserer Wachsamkeit zu entgehen? Marceau ist verhaftet und wir folgen wie ein Gewitter deiner Spur. Dein Mitschuldiger, Grognon, ist schon auf dem Weg zum Schaffot und du folgst ihm, aristokratischer Cidevant. Mußtest du eine Rebellin befreien? Doch sei getrost: hättest du auch dieses nicht getan, dennoch müßte dein Kopf unter dem Beil fallen. Denk' an die weißen Kokarden des dritten Oktober!«

Diese Erinnerung schnitt wie ein Dolch in Viktors Brust, und im Augenblick erkannte er in dem Agenten jenen Posamentiergesellen, der damals nur mit Zittern in das Geheimnis eingeweiht worden war. »Ich bin verloren!« sagte er zu sich selbst, »Mut also!«

Er schritt beherzt durch die Reihen der dumpf vor sich hinstarrenden Bauern und schenkte nun der weinenden Suzon, die jedoch in ihrem Schmerz kein Wort über die Lippen brachte, einen Blick des Mitleids.

Soldaten kamen aus den oberen Gemächern des Hauses herunter und meldeten dem Agenten, daß sie nirgends das Weib gefunden.

Triumphierend lächelte Viktor, doch kam das Erbleichen bald an ihn, als eine Patrouille hereinstürzte, und frohlockend verkündete, daß man das Weib, mit einem männlichen Begleiter fliehend, in einem Ackerfeld aufgegriffen und es zurückschleppe.

Minet jubelte und rief mit gräßlicher Stimme: »Werft diesen hier auf den Karren und schafft ihn fort. Für seine Mitschuldigen requiriere man das Fuhrwerk im Dorf und bringe sie so schnell als möglich nach. Ich werde selbst dafür Sorge tragen. Ihr aber, dumme, abergläubische Landleute, danket dem Himmel, daß man nicht in diesem Haus die Verbrecher ertappte! Nehmt euch ein Beispiel und gehorcht der Republik!«

»Unglückliche Gabriele! Armer hingeopferter Freund!« seufzte der gefangene Viktor, ließ sich, vom Schmerz übermannt, ohne Widerstand binden und auf den Karren werfen, welcher ihn schnell dem Schauplatz einer Szene entführte, deren Zusammenhang er noch nicht zu begreifen vermochte.


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