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6. Kapitel.

Paris stöhnt, Paris darbt, Paris zittert. Paris hat kein Geld, kein Brot, und sein König ist fern. Paris hat nichts als die Freiheit seines Volkswillens, und diese Freiheit scheint Tag für Tag von hinterlistigen und hochmütigen Feinden aufs Neue bedroht. Von Angst gepackt ruft Paris: »Zu den Waffen!«, lädt Gewehre und Kanonen, und seine Bürger erobern mit stürmender Hand die Zwingburg aller Freiheit, die Bastille. Von Hunger geschüttelt schreit Paris: »Nach Versailles!« und mit einem Weibertroß zieht die neue Nationalgarde nach Versailles und holt einen säumigen König aus volksfremder Abgeschlossenheit in die Mauern seiner Hauptstadt zurück. Nun gleicht Paris einer jungen Bacchantin im Pantherfell, die, blaubereifte Goldtrauben im flatternden Gelock, durch die Wälder stürmt und mit dem rasenden Jauchzen ihres »Evoe!« alle tanzenden Dryaden und hüpfenden Satyrn aufschreckt, Paris gleicht einer Entrückten, die verzückten Blickes die Hände zum Himmel streckt, weil ihr die große Offenbarung zuteilgeworden ist. Paris gleicht einem Sieger, der mit lorbeerumschatteter Stirn das tänzelnde Viergespann der Quadriga über die weißen Steine der Via triumphalis führt. Paris gleicht den staubgeborenen Bräuten holder Götterlegenden, denen sich ein Gott im Flammenkusse vermählt. Und wahrlich, diese Stadt darf trunken und entrückt sein, denn als Siegerin schritt sie ihrem Lande voran, und eine Gottheit ließ sich zu ihr nieder – die Freiheit.

Adalbert von Halmau ging wie traumwandelnd, wie verzaubert durch diese Stadt, von deren Straßen, Plätzen, Gebäuden und Denkmälern er kaum etwas sah, weil er immerfort ihre Menschen schauen und bestaunen mußte, die so ganz anders waren als die Menschen daheim. Wohl unterschieden sie sich schon äußerlich durch die kleineren, schmächtigeren Gestalten, die dunkleren Gesichter und das lebendigere Wesen von den Menschen seiner Heimat, weit mehr aber noch durch ihre ständige unterirdische Erregung, die man in ihnen spürte, auch wenn man kein Wort mit ihnen wechselte, und durch die naive Unbekümmertheit, mit der sich hier jeder gab und seine Gefühle offenbarte. Alle waren immerwährend von irgendetwas fortgerissen, und Adalbert war's, als müßte er ohne Ziel und Ende in dieser bunten Stadt mit ihren von Leben und Leidenschaft sprühenden Menschen umherlaufen. Dann aber fiel ihm ein, daß er ja doch ein Ziel und sogar schon eine Verabredung hatte, wenngleich er erst gestern abends eingetroffen war. Er begab sich also ins Café Foy, das er nach etlichen Fragen und vergeblichen Kreuz- und Quergängen fand, setzte sich an einen der kleinen Tische, die halb unter der Türe, halb auf der Straße standen, bestellte eine Tasse Kaffee und sah dem Gewühl von Bürgern, Müßiggängern, hübschen Frauen und Zeitungsverkäufern zu, das vorüberwogte. Jeder, mochte er auch ein Bettler sein, trug die dreifarbene Kokarde, und fast jede der Frauen, gleichviel ob jung oder alt, hatte baumelnde Ohrgehänge mit seltsamen Steinen, wie Adalbert sie daheim nie gesehen hatte.

Er wartete auf den seltsamen Reisegefährten, den ihm ein Zufall zugeführt, und mit dem er sich für heute morgen ins Café Foy verabredet hatte. Etwa zwei Tagereisen von Paris entfernt hatte Adalberts Kutsche einen schweren Unfall gehabt, der ihn nötigen wollte über vierundzwanzig Stunden auf einer elenden kleinen Poststation liegen zu bleiben. Da trat von dem Tisch, an dem er bisher gesessen, ein anderer, offensichtlich vornehmer Reisender hinzu, dessen Pferde ebenfalls hier gewechselt wurden, und bot Adalbert einen Platz in seinem Wagen an.

Adalbert zögerte zuerst aus Höflichkeit ein wenig, aber der Fremde rief lebhaft: »Steigen Sie ein, zögern Sie keinen Augenblick länger, denn jede Minute, die man ferne von Paris zubringt, ist eine verlorene.«

Er lachte, nötigte Adalbert mit einer Handbewegung zum Einsteigen, und dieser nahm an, nachdem er noch dem Kurier alle nötigen Weisungen gegeben hatte. Als die Beiden nebeneinander auf holpriger Straße im Wagen dahinrollten, sagte der Fremde:

»Nun ist es Zeit, daß Sie meinen Namen erfahren. So stelle ich Ihnen hiemit den verstorbenen Baron Jean Baptiste Cloots vor!«

Da er Adalberts erstauntes Gesicht sah, wiederholte er mit tiefem Ernst:

»Ich stelle Ihnen den gestern verstorbenen Baron Jean Baptist Cloots vor!«

Adalbert hielt es für alle Fälle richtig, auf diesen Ton einzugehen, lächelte ein wenig und entgegnete:

»Und ich stelle Ihnen den gestern geborenen Baron Adalbert von Halmau vor!«

»Also ein Aristokrat?«

Der Verstorbene flog ihm an den Hals.

»Wie ich, ganz wie ich! Denn als Baron bin ich in Preußen verstorben, als freier Bürger in Frankreich wieder auferstanden.«

Mit einer eitlen Bewegung, wie ein Tänzer, der nach einer besonders gelungenen Pirouette mit affektiertgerundeten Armen Applaus erwartet, sah er Adalbert an, ob dieser nicht ein überraschtes »Ah« ausstoßen oder sonst ein Zeichen der Bewunderung geben würde. Nur eine Sekunde wartete er, dann floß, quirlte, strömte seine Rede wie ein Wasserfall, stellte Fragen, gab sich selber Antwort, band atemlos Banalität und Originalität aneinander, Adalbert war geblendet von diesem Sprühfeuer von Einfällen, und da man dem Baron Cloots nur zuzuhören brauchte, ohne selber ein Wort zu äußern, so betrachtete er den Reisegefährten mit forschender Aufmerksamkeit.

Er dachte:

»Sicherlich ist dieser Mann sehr reich, denn alles an ihm und um ihn ist von unauffälliger Vornehmheit, merkwürdig ist sein Gesicht mit der steil-vorwitzigen Nase. Es ähnelt ein wenig, ein klein wenig Großvaters Idol: dem preußischen Fritz. Ich will das aber meinem Verstorbenen hier lieber nicht sagen, denn er scheint nicht eben ein Preußenfreund zu sein!«

Baron Cloots zögerte nicht, diese Annahme immer neu zu bestätigen. Preuße von Geburt, hatte er doch in seiner Heimat, Cleve, Schauergeschichten von Preußens Prügelregiment vernommen und hatte sie gerne geglaubt, weil seinem quecksilbrigen Wesen jede Art von Disziplin oder gar von Drill zuwiderlief. Er hatte die halbe Welt bereist, war wegen demokratischer Brandreden überall ausgewiesen, oder verhaftet worden und in Spanien nur mit knapper Not der Inquisition entgangen. Nun, da in Frankreich der große Umschwung eingetreten, war er eiligst nach Paris zurückgekehrt. »Frankreich ist das einzige Land, wo man menschenwürdig leben kann. Frankreichs Mutter ist die Sonne und die Erde ist sein Trabant. In Preußen ist alles gewalttätig, selbst der Gruß, den man uns als Zögling der Militär- und Zivilakademie beigebracht hat. Sehen Sie so!« (Er machte die abgehackte Kopfbewegung, die Karl Leopold so viel Bewunderung und Nachahmung eingetragen hatte!) »Hier aber grüßt man mit der Hand, einem wehenden Tuch, mit Gefühl! Nur hier kennt man das große Feuer der Leidenschaft. Leidenschaft ist alles! Ich bete sie an, wie man eine Geliebte anbetet!«

Er schwärmte noch eine Weile über den Genuß der Leidenschaft, sprang dann unvermittelt und hurtig zum Christentum über …

»Dafür habe ich nichts übrig. Übrigens ist das Christentum nur durch die Frauen hochgekommen. Sie hängen ihm an, weil es ihnen den Gefallen tat, das Konkubinat zu verbieten!«

Dann war er schon beim Koran.

»Der Koran ist das einzige lesenswerte Religionsbuch!«

Und über Leidenschaft, Christentum, Koran und noch über viel anderes hatte er schon Essays geschrieben, die er offenbar immer mit sich führte, denn er suchte eifrig nach ihnen in allen möglichen Taschen, ohne sie indes zu finden. Gleich nach der mündlichen Abhandlung über den Koran erklärte er, daß die Weltgeschichte in sechs Glücksepochen einzuteilen sei, – die glücklichste der Glücksepochen aber sei das Zeitalter Friedrichs des Großen gewesen. Denn Baron Cloots brachte es fertig, zu gleicher Zeit ein glühender Demokrat und ein Anbeter des Preußenkönigs zu sein. Und obschon Adalbert kein Wörtchen gegen Friedrich gesagt hatte, rief der Baron:

»Nein, junger Herr, widersprechen Sie mir nicht! Glauben Sie mir, einem erfahrenen Manne! Nie hat die Welt so viel Glück gesehen wie unter dem preußischen Fritz! Ein aufgeklärter Monarch kann nie und nimmer ein schlechter Regent sein!«

Dann hüpfte das Gespräch hinüber zu Handel und Industrie und zum ewigen Weltfrieden, den kein Krieg mehr stören dürfe. Aber vor dem Weltfrieden müsse erst das Große kommen, dessen erste Keime sich jetzt eben in Frankreich zeigten: die Weltrepublik.

»Aber selbstverständlich muß Frankreich immerfort eine starke Flotte haben, um das verdammte England in Schach zu halten!«

Adalbert riß die Augen auf. Wie sagte doch Cloots? »Das verdammte England?!« Und England galt doch als das freieste aller Länder, als der Musterstaat, dem alle anderen nacheifern sollten!

Cloots lachte.

»Glauben Sie doch nicht an das Ammenmärchen von der englischen Freiheit, mit dem man die Völker Europas seit Jahrhunderten belügt und einschläfert! Glauben Sie überhaupt nie, was seefahrende Nationen von sich oder andern erzählen! Sie lügen im großen, wie die Matrosen im kleinen lügen, und wie der Reiter allmählich seinem Gaul ähnlich wird, so gleichen sie dem Meer, das sie befahren, lauschen ihm seine Tücke und seine Gefräßigkeit ab. Das blöde Volk der Engländer glaubt noch heute, daß es mit der Magna Charta einen Freibrief der Selbständigkeit erhalten habe, und merkt nicht, daß diese herrliche Magna Charta nur ein Freibrief für die Frechheit seines Adels war und ist. Kann ein Volk überhaupt frei sein, wenn es ein Zweikammersystem hat? Nein, die Freiheit wohnt nur in Frankreich!«

Und seine Rede quirlte weiter, warf unablässig die beiden Worte »Freiheit« und »Leidenschaft« umher, und sein Körper zappelte, sein bewegliches Gesicht illustrierte alles, was er sprach, aber Leidenschaft, nein, Leidenschaft war nicht in ihm zu spüren, wohl aber Geist, Widerspruchssinn und Bizarrerie. So war er auf den ersten Blick ein prächtiger Blender, beim zweiten aber wirkte er ein wenig komisch und auch ein wenig armselig, weil er gar so heftig nach etwas schrie, was seinem ganzen Wesen versagt geblieben war.

Im Laufe der Fahrt erfuhr Adalbert auch, was er schon vermutet hatte, daß Paris bereits eine Anzahl deutscher Freiheitsfreunde beherbergte.

»Karl von Hessen ist hier und ein Graf Salm-Kyrburg, den man einen wahrhaft großen Bürger nennen könnte. Als einziger unter allen regierenden Fürsten hat er sein kleines Land in eine Republik verwandelt und sich selber verbannt, allerdings hat er sich einen Verbannungsort gewählt, der ein Paradies, ah, was sage ich da, der das Paradies ist!«

Adalbert unterdrückte ein kleines Lächeln des Stolzes. Er dachte an das wappengesiegelte Schreiben, das im Geheimarchiv seines Schlosses lag, und fühlte sich dem braven Salm-Kyrburg ebenbürtig. In seine Gedanken hinein haspelte Cloots noch andere deutsche Namen, die man zu dem großen Verbrüderungsfest erwartete, das am ersten Jahrestag des Bastillesturms gefeiert werden sollte. Einen Grafen Stolberg erwarte man und auch einen deutschen Dichter, auf dessen Namen der verstorbene Baron Cloots im Augenblick nicht kommen konnte. Wie sollte man sich auch die Namen all der deutschen Dichter merken, die da in kleinen Ländchen an Miniaturhöfen oder in weltvergessenen Winkeln lebten und dichteten! Immerhin aber suchte er in seinem Gedächtnis eifrig nach diesem einen Namen, fand ihn auch endlich und sprach ihn mühselig (er sprach nur französisch) aus.

»Klopstock«, jawohl, »Klopstock!« Er lachte: »Ich hätte es mir eigentlich daran merken können, daß bei einem Deutschen immer, auch wenn er ein Dichter ist, der Stock in der Nähe sein muß. Also, Stolberg und Klopstock haben sich angesagt. Klopstock ist ja ein großer Verehrer Frankreichs und hat schon vor Jahren eine wundervolle Ode an die Freiheit gedichtet, die von Frankreich ausgehen wird.«

Adalbert hatte diese Ode nie gelesen, hatte überhaupt von Klopstock kaum gehört, denn sein ganzes Lesebedürfnis hatte sich an Rousseau und Rousseaus Geistesgenossen Sättigung geholt. Er fragte jetzt, ob der verstorbene Baron Cloots vielleicht auch einen gewissen Melchior Thurnes kennengelernt habe. Cloots dachte nach:

»Thurnes? (Er sprach den Namen französisch »Thurnes«.) Melchior Thurnes?« Ich entsinne mich nicht!«

Nach wenigen Augenblicken aber ging ihm ein Erinnern auf.

»Doch, doch, wie konnte ich es nur vergessen? Wir haben einen Thurnes im Klub, einen wackeren Bürger, der auch zu den Eroberern der Bastille gehört. Aber, ob er Melchior heißt (was für ein drolliger Name) kann ich nicht beschwören. Mir ists, als hätte ich einen anderen gehört. Es wird aber ein Leichtes sein, seinen genauen Namen und seine Adresse im Klub zu erfahren. Wenn es Ihnen recht ist, bringe ich sie Ihnen morgen früh ins »Café Foy« –.«

Todmüde von der langen Reise und von dem letzten, so überaus geschwätzigen Teil der Fahrt, stieg Adalbert in dem Gasthof ab, den Cloots ihm empfohlen hatte. Und nun saß er im Café, und während er auf den Reisegefährten wartete, flogen seine Gedanken zurück zu der Heimat, die er vor wenigen Wochen verlassen hatte. Waren es wirklich erst wenige Wochen? Ihm schienen Jahre zwischen heute und dem Tag seiner Abreise vergangen zu sein. Ganz ferne, schon nicht mehr ganz deutlich, sah er die Gestalten der Heimat. Seine Mutter, seine Frau, den Abbé … ach, wie beseligend weit lag das alles hinter ihm, und wie seltsam war es, daß all diese Menschen vermocht hatten, seinen Weg zu kreuzen, sein Herz zu kränken, seinen Stolz zu beleidigen. Nun wurde sein Blick doch dunkel. Beleidigter Stolz überwindet schwerer als alles andere. Und daheim hatte Eine seinen Stolz beleidigt, von der weder er noch sonst jemand es vermutet hätte, seine Frau. Er trank hastig seine Tasse leer. Fort, nicht mehr daran denken! Das alles war heute abgetan, sollte morgen für immer vergessen sein! Es war ja töricht, schon heute, da man kaum den Fuß in diese Stadt gesetzt hatte, Zukunftspläne zu machen, aber unklar schwebte ihm vor, daß er nicht mehr heimkehren, sondern hier Wurzel schlagen würde. Dies waren ja auch ungefähr seine Gedanken gewesen, als er das wappengesiegelte Schreiben in das Geheimarchiv legen ließ. –

Der verstorbene Baron Cloots ließ lange auf sich warten und kam dann überhaupt nicht. Statt seiner erschien ein Lakai, der sich suchend im Café umblickte, dann, nachdem er Adalbert ins Auge gefaßt hatte, auf ihn zutrat und mit unterwürfigen Redensarten fragte, ob das Billet seines Gebieters wohl für den gnädigsten Herrn bestimmt sei. Adalbert nahm das Billet, dessen blaßblaues Siegel die Worte » I'y pense toujours« trug, entfaltete es und las: »Der Sklave der Freiheit ist heute durch den Dienst einer Göttin verhindert, ins Café zu kommen, sendet Ihnen aber anbei die gewünschte Adresse des Bürgers und Eroberers der Bastille Thurnès.«

Adalbert machte sich also auf den Weg, um seinen früheren Erzieher aufzusuchen. Er mußte lange gehen und viel umherfragen, denn Thurnes wohnte in einer abgelegenen Straße mit alten, winkligen Häusern, und obschon er ein Eroberer der Bastille war, schien er doch im weiteren Umkreise seiner Behausung wenig bekannt zu sein. Adalbert mußte eine hohe, dunkle und sehr schmutzige Treppe hinaufsteigen und mehrmals an eine grämlich und schmierig aussehende Türe klopfen, die endlich vorsichtig nur zu einem Spalt aufgetan wurde. Eine junge Frauensperson wurde sichtbar, die, wenn sie freundlich und sauber angezogen gewesen wäre, wohl einen guten Eindruck gemacht hätte, sie war aber weder freundlich noch sauber angezogen, sondern zeigte eine mißtrauische Miene und schien erst vor kurzem aus dem Bett aufgestanden zu sein. Ihr Haar war ungekämmt unter eine schiefsitzende Haube gesteckt, während sie mit der einen Hand die Türklinke hielt, schob sie mit der andern ihr Busentuch über einer offenstehenden Nachtjacke zusammen, aber auf diesem hastig umgeworfenen Busentuch prangte die Kokarde und in den Ohren baumelten die Ohrringe mit den seltsamen Steinen, die Adalbert fast an allen Frauen hier gesehen hatte. Er fragte, ob Herr Thurnes zu Hause sei. »Nein, der Bürger Thurnès ist nicht zu Hause.«

»Können Sie mir sagen, wann er kommt?«

»Das ist ganz unbestimmt, meist erst abends. Er geht jeden Tag in die Nationalversammlung und macht alle Sitzungen mit. Und die tagen oft bis in die Nacht hinein.«

Adalbert ging wieder zurück und nahm den Weg an der Reitschule vorbei, wo gerade das Galeriepublikum und auch die Abgeordneten herausströmten, denn man hatte eine Sitzungspause eingelegt. Adalbert musterte die Menge, die sich aus Saal und Galerien ins Freie ergoß und erkannte in einem der letzten, die heraustraten, den Gesuchten. Er rief ihn mit seinem Namen an, Thurnes stutzte einen Augenblick, wandte den Kopf, sah seinen ehemaligen Schüler, stürzte auf ihn zu, umarmte ihn, küßte ihn auf beide Wangen.

»Adalbert, du hier! Endlich bist du gekommen! Endlich hat es dich in der Enge und Dumpfheit daheim nicht mehr gelitten!«

Er umarmte ihn aufs neue, sprach mit einer Stimme, die vor Erregung flatterte, und hatte wahrhaftig feuchte Augen. Erstaunt sah Adalbert ihn an. War das wirklich derselbe Mann, der daheim so spröde, so schamhaft im Gefühl gewesen, daß er es verborgen gehalten hatte wie einen Schatz und nur insgeheim den fürstlichen Knaben bei seinem Namen nennen wollte?! Hier war er wie verwandelt, war wie alle andern um ihn her aufgeregt, emphatisch, ungebunden in Gefühlsäußerung und Rede. Ganz selbstverständlich ging ihm das »du« von den Lippen, und er, der niemals die leiseste Geste der Zärtlichkeit gefunden hatte, legte den Arm um Adalberts Schulter und ging so mit ihm in den an die Reitschule angrenzenden Straßen umher, nicht ganz so redselig wie der verstorbene Baron Cloots, aber ungleich lebhafter als daheim, gestikulierend, mit tönenden Worten laut um sich werfend, erhitzt, benommen, ohne daß ein besonderer Grund vorhanden gewesen wäre. Sie waren hier alle so oder ähnlich, nur wirkte bei ihm das rauschige Wesen absonderlich, beinahe grotesk, weil es seiner schweren Gestalt schlecht saß und zu seinem harten Französisch nicht passen wollte. Als Adalbert ihn einmal im Gespräch mit seinem Vornamen nannte, wehrte er ab:

»Nein, nenne mich nicht mit diesem lächerlichen Namen! Ich habe ihn abgelegt und nenne mich Brutus. Was habe ich mit Melchior zu schaffen, der ein König aus dem Morgenlande war? Man hat mir diesen Namen angeheftet, ohne mich zu fragen, ob ich ihn tragen will, und darum werfe ich ihn fort, denn sicherlich war auch dieser Morgenländer ein Tyrann.«

Adalbert lächelte.

»Du erinnerst mich beinahe an meinen Reisegefährten, den seltsamen Kauz Cloots. Er änderte seinen Stand, du deinen Taufnamen!«

Thurnes zog ein paar Stirnfalten.

»Cloots, – kennst du diesen Narren auch schon?«

Adalbert wollte Cloots gegen den Vorwurf des Narrentums verteidigen, aber Thurnes blieb bei seiner Behauptung.

»Ein Narr ist er und ein aufgeblasener Schwätzer! Und auf sein Demokratentum pfeife ich! Preuße und zweimalhunderttausend Francs Rente, – wo soll da echtes Demokratentum herkommen?! Immerhin hat er zwei gute Ideen, die in die Zukunft weisen: Die Weltrepublik und eine starke Flotte gegen England. Alles andere an ihm ist Unsinn und Eitelkeit!«

An späteren Tagen sah Adalbert Thurnes' Wohnung die einfach, ja eigentlich ärmlich war, denn der ehemalige Magister hatte es nicht leicht, hier sein Brot zu finden, da er sich darauf versteifte, den größten Teil seiner Zeit in der Nationalversammlung zuzubringen. Er arbeitete stundenweise als Sekretär eines Abgeordneten, schrieb daneben Manuskripte und Noten ab und war Mitarbeiter an einem Winkelblättchen radikalster Richtung. Sein Zimmer wies nur die allernötigsten Einrichtungsgegenstände, aber in einer Ecke stand von dürren Lorbeerzweigen umwunden ein kleiner Tisch, auf dem ein grauer Quaderstein lag. Thurnes erklärte auf Adalberts fragenden Blick voll Stolz:

»Ein Siegeszeichen von der Bastille! Es ist mein größter Stolz, daß ich dabei war. Ich darf auch den Ehrennamen »Eroberer der Bastille« tragen, und er wird in allen Aktenstücken, die mich betreffen, gleich hinter meinem Familiennamen geführt. Welch ein Jammer, daß du damals noch nicht hier warst! Worte können niemals schildern, wie es damals zuging und was wir erlebt haben! Dieser Kampf! Dieser Triumph! Der Stein da ist mein Heiligtum, und wenn ich einmal sterbe, soll man ihn mir statt des Sterbekissens unter den Kopf in den Sarg legen!«

Er schwärmte noch eine Weile in dieser Weise vom Sturm auf die Bastille und von der tiefen Bedeutung dieses Steines, von dessen Ecken einige Splitter abgebrochen waren.

»Daraus habe ich für Louison Ohrringe machen lassen. Sie ist eine glühende Patriotin und war mit dabei!«

Adalbert brauchte nun nicht erst nach den Beziehungen zu fragen, die zwischen dem ehemaligen Magister und der schlampig aussehenden, jungen Person bestanden. Sie saß mit am Tisch, als sie das einfache Frühstück, eine Omelette mit grünem Salat, auftrug, das sie in Eile bereitet hatte, und nahm am Gespräch der Männer teil, ohne aufdringlich zu sein, aber doch mit deutlicher Betonung, daß ihr hier Hausfrauenrechte zustanden. Sie sah jetzt übrigens gar nicht mehr vernachlässigt aus, hatte das Haar ordentlich zurückgekämmt, das weiße Häubchen der Bürgerinnen darauf befestigt, ein sauberes Busentuch ordentlich geknüpft und eine frische weiße Schürze vorgebunden. In ihren vom Herdfeuer geröteten Ohren baumelten die Bastillenohrringe, an ihrer Brust prangte die dreifarbige Kokarde, und mit diesen Abzeichen des Bürgersinns und ihrem frischen Gesicht erschien sie Adalbert mit einem Male hübsch und gar nicht mehr so gewöhnlich. Als man aber beim Mahle saß, schwand der günstige Eindruck. Sie aß unmanierlich, stemmte, während sie mit der Gabel in der Omelette stocherte, die linke Hand mit abstehendem Ellbogen auf den linken Schenkel, sprach mit häßlicher Aussprache und begann jeden Satz mit einem »Ho« der Verlegenheit und des Selbstbewußtseins.

»Ho! Ich war dabei, als sie die Bastille nahmen! Ho! Ich bin mitgezogen nach Versailles, als sie die königliche Sippschaft nach Paris holten!« Adalbert verging der Appetit. Thurnes merkte, daß die Redeweise und die ganze Art Louisons keinen günstigen Eindruck hervorriefen, und als sie den Tisch abgedeckt hatte, sagte er beschwichtigend zu seinem Gaste:

»Du muß nicht alles wörtlich nehmen, was sie sagt! Sie ist ein einfaches Kind des Volkes und weiß ihre Worte nicht immer zu wählen. Aber sie ist eine Feuerseele und ließe sich für die Freiheit und das Vaterland in Stücke hauen!«

Adalbert erwiderte einige höfliche, nichtssagende Worte, war aber im Innern entschlossen, Fräulein Louison künftighin aus dem Wege zu gehen. Er hatte von dem Weiberzug nach Versailles gerade genug gehört, um kein Verlangen nach näherer Bekanntschaft mit seinen Teilnehmerinnen zu tragen.

Am nächsten Morgen wollten die beiden in die Nationalversammlung gehen. Sie waren schon geraume Zeit vor der Eröffnung der Sitzung zur Stelle, denn Thurnes wollte Adalbert den Saal zeigen und die große Tafel neben dem Präsidentensitz, auf der die Menschenrechte verzeichnet standen, die Grundlage für die Verfassung, die in diesen endlosen Sitzungen beraten wurde. In tiefer Bewegung stand Adalbert vor diesen dreiundzwanzig Artikeln, deren erster lautete:

»Alle Menschen haben einen unwiderstehlichen Hang glücklich zu werden; um dahin durch Vereinigung ihrer Kräfte zu gelangen, haben sie Gemeinschaften errichtet und Regierungen aufgestellt. Eine jede Regierung hat folglich die allgemeine Glückseligkeit zum einzigen Endzweck.«

Und weiter verkündeten sie, daß die Regierung nicht zum Nutzen der Regierenden, sondern zum Besten derer, welche regiert werden, da sei, daß ihr Amt ihr befehle, »Rechte und Pflichten jedes Einzelnen zu schützen«, vor allem jene unveräußerlichen Rechte, die allen Menschen eigen sind: die persönliche Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit, die Sorge für sein Glück und für sein Leben, die freie Mitteilung seiner Gedanken und die Widersetzlichkeit gegen Unterdrückung.

Dies immer wiederkehrende Wort von der menschlichen Glückseligkeit als Endzweck jeglicher Regierung, die Verkündigung, daß es Rechte gab, die jeder Mensch von der Natur mitbekam und die kein anderer ihm rauben konnte, wirkten nun, da Adalbert sie nicht mehr in den Büchern eines philosophischen Schriftstellers sondern zum Gesetz erhoben, in heller Wirklichkeit einer Staatsverfassung sah, wie eine göttliche Verheißung. Wieder und immer wieder überlas er die dreiundzwanzig Artikel, deren letzter scheinbar so nüchtern klang und doch so große Freiheit gab: »Die Preßfreiheit ist die stärkste Stütze der öffentlichen Freiheit. Die Gesetze müssen sie schützen, und zugleich Mittel angeben, um diejenigen zu strafen, welche durch Ausstreuung aufrührerischer Schriften oder Verleumdungen gegen Privatleute Mißbrauch damit treiben.« Er stand noch immer und las, als schon die ersten Abgeordneten eintraten, so daß Thurnes ihn etwas gewaltsam fortziehen mußte.

Auch von der Galerie aus blickte Adalbert noch eine Weile nachdenklich auf diese Tafel, die ein liebeglühendes Menschenherz bedeutete. Um diese Tafel aufzurichten hatte Frankreichs Adel ein Wort gesprochen, das noch nie über seine hochmütigen Lippen gekommen war: »Ich entsage!« Hatte allen Frohnen und Hörigkeitsrechten entsagt, war nur noch Gebieter freier Leute, nicht mehr Zwingherr von Sklaven …

Um diese Tafel aufzurichten hatte der Klerus ein Wort gesprochen, daß er, den Freigebigkeit und Todesangst schwacher Könige mit fürstlichen Ländereien und Schätzen beschenkt hatte, niemals zuvor gefunden: »Ich verzichte!« Er verzichtete um der allgemeinen Glückseligkeit willen auf große Pfründe, reiches Kirchen- und Klostergut …

Um diese Tafel aufzurichten hatte der Bürger, der Mann ohne Recht und Besitz, ein Wort gesprochen, das keiner noch von ihm gehört hatte. Ohne Anmaßung sprach er es, nur mit dem Stolz selbstbewußter Kraft und Intelligenz: »Ich fordere!« Entsagung, Verzicht und Begehren waren da zusammengeflossen in dem rührenden Wunsch nach allgemeiner Glückseligkeit, der die leuchtende Tafel der Menschenrechte geschrieben und aufgestellt hatte.

Die Bänke der Abgeordneten füllten sich schnell. Gespannt betrachtete Adalbert all diese Männer, die ein freies Volk als Verkünder seiner Wünsche sandte. Thurnes nannte ihm Namen, gab Erläuterungen, aber Adalbert konnte nur wenig davon behalten, weil der Namen zu viele waren und die Erläuterungen zu bunt. Nur von Mirabeau, den er gleich herausfand, hörte er mit Verständnis und für den Abbé Sièyes interessierte er sich, für den Mann, der behäbig und banal wie ein Landgeistlicher aussah, und der doch den Entwurf für die Verfassung gemacht, nachdem er schon früher durch seine Flugschrift »Was ist der dritte Stand?« Aufsehen hervorgerufen hatte. Mehr noch als er fesselten ihn Thurnes' Worte: »Da unten links sitzt Orléans!« Neugierig beugte sich Adalbert vor, um diesen Vetter eines Königs zu sehen, der trotz des Königsbluts in seinen Adern so bürgerlich zu empfinden verstand. Seine Phantasie hatte ihm erzählt, daß dieser Mann vornehm, rein und gütig aussehen müsse, und nun war er enttäuscht, als er das verwüstete, mit Pusteln besäte Lastergesicht des Herzogs von Orléans erblickte. Er wehrte sich aber gegen die eigene Enttäuschung und sagte seinem Herzen in strengem Tone, daß das Äußere eines Menschen für nichts gelte, daß es nur auf seine Gefühle und seine Überzeugung ankäme, und diese beiden waren bei Orléans sicher über allen Zweifel erhaben, denn die Abgeordneten aller Stände begrüßten ihn mit sichtlicher Sympathie, und er wiederum schüttelte allen mit gleicher Freundlichkeit die Hände, den adeligen Bischöfen und Seigneurs ebenso wie den Abgeordneten der Departements und kleiner Nester. Adalbert wandte sich zu Thurnes, um eine wohlgefällige Bemerkung über diese schöne Gleichheit im Verkehr zu machen, aber Thurnes zog die Stirn in Falten, sagte pathetisch und verächtlich: »Kennst du den Spruch nicht: »Bourbonen-Blut – Verräter-Brut!« Adalbert schwieg. Der Mißklang, den Thurnes' Äußerung in die schöne Stimmung dieser Stunde hineinbrachte, tat ihm weh …

Die Bänke der Abgeordneten waren nun voll besetzt. Der Adel saß da in kostbar gestickten Röcken, sorgfältig frisiert und gepudert, vielleicht mit einem Hauch rosenroter Schminke auf blassen Gesichtern, die fein, lebhaft, überlegen und dennoch ein wenig übermüdet dreinsahen, – … Über strenge, schwarze Soutanen sahen die jungen Gesichter fürstlicher Bischöfe, gräflicher Abbés, spätgeborene Söhne alten Adels, die aus Armut oder aus Ehrgeiz oder um eines Gebrechens willen sich dem an Aussichten und Erträgnissen reichen Dienste Gottes geweiht hatten, während die älteren Brüder sich im Dienste des Königs kaum weniger gut befanden. Junge Gesichter, in denen ein voller Mund von Lebensgenuß, ein leise zuckender von Geist und Spottsucht sprach, und wenn man auch nicht hören konnte, was sie vor dem Beginn der Sitzung miteinander redeten, so merkte man doch an dem huschenden Lächeln um ihre Mundwinkel und an den kleinen Spottfalten um die Augen, daß sie allerliebste Niederträchtigkeiten austauschten, während die weißen, blaugeäderten Hände die Goldlorgnette an kurzsichtige Augen hielt. Doch trotz alles Lächelns und scheinbarer Unbekümmertheit horchten sie schon jetzt hierhin und dorthin, trachteten kein wichtiges Wort und keinen hübschen Scherz zu überhören, denn auch die schönen Freundinnen waren jetzt »patriotisch« geworden, interessierten sich brennend für die allgemeine Glückseligkeit, und während sie ehedem nur pikanten Hofklatsch und artige Histörchen geliebt hatten, verlangten sie jetzt, daß Monseigneur in den Pausen genauen Bericht über die Fortschritte der Konstitution und der mit ihr zusammenhängenden allgemeinen Glückseligkeit ablegen sollte …

In den Reihen der Bürger, die ehedem, als man noch ein unfreies Volk gewesen, zu den Sitzungen nur in Schwarz hatten erscheinen dürfen, sah man jetzt Röcke von farbigem Tuch, besonders fielen etliche Abgeordnete aus nördlichen Departements durch ihre Farbenfreudigkeit auf. Hier sah man scharfe Juristengesichter neben schwerfälligen Kleinbürgerköpfen und eckigen, bäuerlichen Schädeln, doch sobald die Glocke des Präsidenten die Eröffnung der Sitzung verkündete, straffte sich der übermüdete Adel, verschwand das Lächeln des Klerus, belebte sich die Schwerfälligkeit des Kleinbürgertums, und die klugen Augen der Juristen blitzten streitbar, denn wiederum wie an allen Tagen ging es um die allgemeine Glückseligkeit und um die Freiheit. Bewegt wie er vorhin vor der Tafel mit den Menschenrechten gestanden hatte, folgte Adalbert an diesem Tag und an manchem kommenden den Verhandlungen, die da unten geführt wurden. Tag für Tag wurde ja in diesem Saale ein Eisenband nach dem andern vom Herzen eines gefesselten Volkes abgesprengt und der Balsam der Freiheit auf jahrhundertalte Wunden gegossen. Die Juden wurden zu allen Rechten und Ämtern zugelassen, – die Protestanten erhielten die Freiheit der Glaubensausübung, die ihnen seit den alten Tagen des Sonnenkönigs verwehrt gewesen, kein Mensch durfte um seiner Überzeugung willen bestraft werden, sofern er diese Überzeugung nicht zur Schädigung des Staates mißbrauchte, – die Polizei durfte nicht mehr die Wohnungen der Gelehrten und Schriftsteller nach gefährlichen Büchern durchschnüffeln – die Familie eines Verbrechers durfte nicht mehr für infam erklärt, durfte nicht mehr an Leib, Leben, Sicherheit und Gut bestraft werden, – der Henker und auch die Komödianten wurden als ehrliche Leute anerkannt, denn die neue Ordnung hielt es für schändlich, Menschen, deren der Staat bedurfte, geringer zu achten als andere; kein Klostergelübde galt fürder als bindend, und jeder Mönch, jede Nonne, denen es gefiel, durfte ungehindert das Kloster verlassen und in die Welt zurückkehren. Aber auch hier kein Zwang sondern überall Freiheit! Wer sich hinter Klostermauern wohler fühlte als in der Welt, mochte seinem Schwur treu bleiben, denn der Staat erbot sich für diese Treuen zu sorgen, obgleich er sie nicht verstand. Nicht minder tolerant erwies er sich gegen jene Priester, die den geforderten Eid auf die neue Verfassung weigerten, weil er nach ihrer Ansicht gegen Rom verstieß. Man wies ihnen besondere Kirchen an, in denen sie ungehindert nach alter Weise lehren und predigen durften. Frei waren die Menschen, frei die Geister, und darum sprach der König in seinen Erlässen nicht mehr »Ich befehle!« sondern »Ich wünsche!«, und der neue Bürgermeister von Paris sowie bürgerliche Deputationen, die vor den König traten, sprachen nicht mehr wie ehedem knieend zu ihm, sondern aufrechtstehend, freie Männer vor einem freien Manne. Da Adalbert dies vernahm, fühlte er einen kleinen Stolz in sich aufkeimen, denn er gedachte des Tages, da er die bäurischen Dorfschulzen, die vor seinem Thronsessel gekniet waren, aufgehoben hatte. Ja, er war unbewußt, wie ein begnadetes Kind, auf den Weg zu Jean Jacques geraten, und nun wollte er ihn bewußt, als ein Mann weitergehen, der eigenen Vollendung und dem Glücke seines Volkes entgegen. Gleich aber wurde seine weihevolle Stimmung unterbrochen und sein kleiner Stolz zurückgedrängt, denn unten im Saale rief eine schrille Stimme in die lebhafte Debatte, ob dem König oder dem Volke die Entscheidung über Krieg und Frieden zustehen solle, hinein: »Der König kann nichts anderes sein als der Vollstrecker des Volkswillens, als der Beauftragte des Volkes!« Ein junger, schmächtiger Mann aus den Reihen der Bürgerlichen hatte die kecken Worte gerufen. Sein fahles Gesicht der Armut und der durchwachten Nächte bildete einen sonderbaren Gegensatz zu der zierlichen, beinahe koketten schneeweißgepuderten Frisur und zu der peinlichen Sorgfalt seines Anzugs, zu einem veilchenblauen Rock aus feinem Tuch, aus dessen Ärmeln, entgegen bürgerlicher Art, weiße Spitzenmanschetten auf die Hände fielen, während auf der Brust, wiederum gegen bürgerlichen Gebrauch, ein feingefältetes Jabot lag. Die Stimme, mit der er seine Worte in die Debatte geschleudert hatte, war schrill und trug nicht weit, aber dennoch rief er einen Sturm der Entrüstung hervor. Man überschrie ihn in allen Tonarten, denn wenn die allgemeine Glückseligkeit auch keinen Despoten alten Stils vertrug, so blieb man doch durchaus königstreu, grenzte die Rechte des Monarchen und des Volkes wohl scharf gegeneinander ab, hatte aber durchaus nicht die Absicht, aus dem König nur eine Art Botengänger für den Willen des Volks zu machen. Die Entrüstung tobte so wild, daß der junge Mann im veilchenblauen Rock seine Worte zunächst erläutern und dann zurücknehmen mußte. Wiederum war Adalbert voll Bewunderung für diese Versammlung und den Volkswillen, der sich in ihr verkörperte. Wie ein Gebet stieg es in ihm empor: »Möchte es auch bei mir einst so sein, wenn der Tag der Entscheidung kommt!« Thurnes flüsterte ihm den Namen des jungen Mannes zu, über den sich alle entrüsteten, aber Adalbert hörte nicht hin und sah auch nicht, daß Thurnes dem jungen Manne im veilchenblauen Rock beifällig zunickte, der aber den Gruß nicht erwiderte, und überhaupt nicht nach der Galerie, sondern geradeaus vor sich hinblickte …

Alles hier trug einen großen Zug, Gewährung ebenso wie Abwehr. Mit einer prachtvollen Geste der Verächtlichkeit lehnte Mirabeau es ab, das blutrünstige Hetzblatt »Der Volksfreund« strafrechtlich zu verfolgen, dessen Herausgeber ein gewisser Doktor Marat, achthundert Galgen gefordert hatte, um an den ersten den Grafen Mirabeau und an die anderen die Hälfte der Nationalversammlung aufzuhängen. »Nein«, sagte Mirabeau, »solchem Unrat darf man nicht die Ehre erweisen, ihn zu bemerken, man muß ihn mit Verachtung strafen!« Die flutende Bewegung, die durch die Reihen der Abgeordneten ging, und beifällige Zurufe bewiesen, daß das Haus Mirabeaus Gebärde und Absicht recht verstanden hatte.

An einem andern Tage wurde dann eine Frage angeschnitten, die nach Adalberts Ansicht überhaupt nicht mehr diskutierbar, sondern durch die Menschenrechte schon ein für allemal erledigt war. Es handelte sich um die Frage, ob der Sklavenhandel abgeschafft oder beibehalten werden sollte. Adalbert meinte nicht recht zu hören. Sklavenhandel, – gab es so etwas überhaupt noch? Konnte man von so etwas überhaupt noch sprechen, da doch auf der großen Tafel geschrieben stand, daß der Mensch frei sei und niemals Eigentum eines andern sein könnte!? Er meinte ein Orkan des Unwillens müsse sich im ganzen Hause erheben, aber statt des Orkans kam ein sanftes Gesäusel von Abgeordneten, die jammerten, daß der Kolonialhandel vernichtet sei, wenn die Sklaverei aufgehoben würde, und daß alsdann England den ganzen Sklavenhandel an sich reißen könnte. Besonders inbrünstig jammerten die Herren aus Bordeaux, die der Versammlung vorwurfsvoll vorrechneten, wie sehr das Revolutionsjahr der Handelsbilanz Bordeaux geschadet habe, indem in diesem Jahr 491 Schiffe weniger als im Vorjahr angelaufen seien. Adalbert bebte vor Empörung. Handel, – Millionen – Bilanz – Schiffe – was bedeutete dies alles, wenn es sich um Menschenrechte, um Menschenfreiheit handelte!! Doch der Präsident des Hauses erwiderte in ausweichenden, farblosen Worten, daß man Gründe und Gegenstände reiflich in Erwägung ziehen werde und sobald Entschlüsse gefaßt seien usw. usw. Adalbert hatte Mühe sich zu beherrschen und seinem Unmut nicht durch einen lauten Entrüstungsruf Luft zu machen. So, geradeso wie dieser Präsident hatten ja seine Minister daheim jeden seiner Vorschläge zur Verbesserung des Menschenloses »wohlwollend in Erwägung gezogen«, »reiflich bedacht« und schließlich war immer alles beim alten geblieben. Sollte es hier ebenso gehalten werden? Er wollte der Frage ausweichen, wandte sich zu Thurnes und vernahm von dessen Lippen die spöttische Frage: »Hat der »Volksfreund« mit seiner Forderung nach achthundert Galgen so völlig Unrecht?« Und als Adalbert nun doch loswetterte und durch seine zornigen Worte die in der Nähe sitzenden Galeriebesucher aufmerksam wurden, wiederholte Thurnes seinen alten Lieblingsspruch: »Es ist alles nur ein Übergang! Es lohnt nicht, sich aufzuregen, denn alles was heute ist, wird über ein kurzes nicht mehr sein!«

Diese Verhandlung über die Sklaverei hatte Adalbert mit solchem Ekel erfüllt, daß er für einige Zeit nicht mehr in die Nationalversammlung ging. Er beschäftigte sich mit seinen eigenen Angelegenheiten, die er bislang gründlich vernachlässigt hatte, suchte eine Privatwohnung, die er nach vielen Kreuz- und Quergängen in einem hübschen, kleinen Hause im Maraisviertel fand. Es hatte ehedem irgendeiner Gräfin aus der näheren Umgebung der Königin gehört, einer Gräfin, die gleich vielen andern nach dem Bastillensturm in Eile emigriert und ganz froh war, wenn der zurückgebliebene Haushofmeister ihr eine hübsche Mietssumme nach Koblenz schickte. Adalbert mietete nicht das ganze Haus, das einen kleinen Palast darstellte, sondern nur die unterste Etage, die vier oder fünf Räume enthielt und gerade Platz genug, um den aus der Heimat mitgebrachten Diener nebst einem neu aufgenommenen zweiten, einen Koch und ein paar Küchenmägde unterzubringen. Alles war hübsch, behaglich, ohne Prunk und unnützen Raum, und da er zum ersten Mal durch dies neue Heim schritt, überkam ihn ein Gefühl des Wohlseins, wie er es in den Tagen nie gehabt hatte, da er nur zwischen seinem Hotelzimmer und der Nationalversammlung hin- und hergependelt war. Über all den kleinen Sorgen und lustigen Einkäufen für die Neugestaltung seines Daseins hatte sich auch der Unmut über die letzten Vorgänge in der Nationalversammlung gelegt, und so erschien er eines Tages wieder auf der Galerie, gerade als ein neuer, weitausgreifender Antrag vorlag. Man stand dicht vor dem großen, allgemeinen Verbrüderungsfest, das am 14. Juli, dem ersten Jahrestag des Bastillensturms stattfinden sollte. Aus allen Gauen Frankreichs sollten Deputationen der Regimenter und Bürgerschaft kommen, sich auf dem Marsfeld versammeln, um die Fahnen der Armee feierlich weihen zu lassen und samt dem Könige der Nation den Treuschwur zu leisten. Hunderttausende von Soldaten und Bürgern würden sich versammeln, um sich in brüderlichem Kuß und Schwur zu vereinigen, und angesichts solch prachtvoller Erhebung zieme es sich nicht länger, so hieß es, im demokratischen Staate Unterschiede der Geburt und des Standes zu betonen. Der Antrag lautete auf Abschaffung sämtlicher Adelstitel, Wappenschilder und Livréen und wurde mit brausendem Beifall angenommen. Der Antrag und sein Erfolg entsprachen durchaus Adalberts Ansichten, und er begriff nicht, warum Mirabeau heftig dagegen protestierte und auf der Führung seines alten Grafentitels beharren wollte. Weit besser als er gefiel ihm der Herzog von Orléans, der flink aus der königlichen Hoheit herausschlüpfte und sich schlicht bürgerlich Louis Philipp Capet nennen wollte.

Paris dachte und redete nun nichts anderes mehr als das Verbrüderungsfest auf dem Marsfelde. Nur Paris? Nur Frankreich? O nein, der ganze Erdkreis blickte sehnsuchtsvoll nach diesem 14. Juli, und darum erschien eines Tages in der Nationalversammlung ein buntes Menschenhäuflein in den Gewändern fremder Märchenländer. Da war ein Chinese zu sehen mit langem Zopf und ein würdevoller Türke mit kunstvoll gewundenem Turban und ein Araber mit rotem Fez und ein Perser mit der Lammfellmütze und ein anderer Fremdling, dessen Nationalität nicht festzustellen war und den man seinem Aufputz nach für einen Chaldäer hätte halten können, wenn die Chaldäer nicht seit etlichen tausend Jahren ausgestorben gewesen wären. Noch viele andere buntfarbige Fremde traten ein, verneigten sich mit über der Brust gekreuzten Armen tief vor dem Präsidenten und dem hohen Hause und gaben durch Gebärden zu verstehen, daß ein junger Mann in modischer Kleidung, der ihnen voranschritt, ihr Sprecher sein sollte. Adalbert traute seinen Augen nicht und beugte sich so weit vor, daß er Gefahr lief, über die Balustrade der Galerie hinabzustürzen. Nein, er täuschte sich nicht! Dieser junge Mann, der mit dem eitlen Anstande eines Ballettänzers vortrat und zu sprechen anhub, war sein absonderlicher Reisegefährte, der verstorbene Baron Cloots. Er verkündete der Versammlung, daß all diese Fremdlinge nach Paris geströmt seien, um das Wunder der großen Verbrüderung mitzuerleben, und daß sie ihn zu ihrem Sprecher gewählt hatten, zum »Sprecher der Menschheit«, wie er etwas großmäulig hinzusetzte. Als er geendet hatte, machte er wieder die beifallheischende Kopfbewegung, die Adalbert an ihm kannte, und nickte befriedigt, als der Präsident in würdevollen Worten seine Freude über diese Deputation fernster Länder aussprach und die fremden Gäste bat, bei ihrer Rückkehr in die Heimat zu erzählen, welche Herrlichkeit sie in Frankreich gesehen und erlebt hatten. Das ganze Haus war einverstanden. Man sprach es ja nicht laut aus, aber insgeheim wußte jeder, daß es bei dem Umsturz in Frankreich nicht sein Bewenden haben dürfe. Er war nur eine Etappe nach dem großen Ziel, dem alles zudrängte, – der Weltrevolution! Man stellte sich freilich immer so an, als ob man nur an französische Zustände gedacht habe, und noch dächte, aber man freute sich aufrichtig, wenn man hörte, daß Funken des Bastillensturms auch nach Rom, Madrid, Lissabon, Brüssel gefallen waren, und wenn ihr Brand auch schnell erstickt worden, so wußte man doch, daß überall Zündstoff genug lag um das große Feuer anzuzünden, das die Menschheit erlösen sollte. Mochten also die fremden Gäste sich auf dem Marsfeld einfinden, mochten sie in fernen Ländern erzählen, wie das Gesicht der Freiheit aussah und so, ohne daß es ihnen zu Bewußtsein kam, mithelfen an dem großen Werke, zu dem Frankreich berufen war …

Auf dem Marsfelde entwickelte sich nun eine ungeheure Geschäftigkeit. Ein Amphitheater für dreimalhunderttausend Menschen sollte aufgeschüttet werden, und so fand sich ganz Paris auf dem Marsfelde ein, um Erde auszuheben, zu harken, zu karren. Der patriotische Eifer verwischte, gründlicher als alle Beschlüsse der Nationalversammlung vermocht hätten, jeglichen Unterschied des Standes und des Geschlechts, und so erblickte man neben rauhen Mönchskutten und feinen Soutanen seidene Escarpins und Spitzenmanschetten und die bauschenden Kleider vornehmer Damen. Allem Eifer zum Trotz blieben die Leistungen natürlich gering, denn niemand von all den patriotisch Beflissenen war an solche Arbeit gewöhnt, und bald streichelten die Damen wehleidig und erschrocken die roten Schrunden und Blasen, die sich an ihren zarten Händen zeigten. Auch Adalbert wirkte tapfer mit, obgleich er gar nicht dazu berufen war, denn ungeachtet alles Drängens seines ehemaligen Magisters hatte er noch immer nicht die französische Staatsbürgerschaft erwerben wollen. Sie hätte ihm zwar keine großen Schwierigkeiten bereitet, denn die neue Verfassung gab ihm das Recht, nach Belieben ins Ausland zu gehen, und sich ihrer zu entledigen, aber etwas in ihm, das er Thurnes und eigentlich auch sich selber nicht zugestehen mochte, hielt ihn zurück. Gewiß, er liebte die Freiheit, er liebte das Land, das als erstes von allen ihr Reich aufgerichtet hatte, aber – – trotz alledem war er ein deutscher Fürst, und das Blut seiner Vorfahren sträubte sich dagegen, daß er sich einem fremden Land ganz und gar zu eigen geben sollte. Doch karrte und grub er nicht weniger eifrig und auch nicht weniger ungeschickt als die anderen Herrn um ihn her, die mit dem Verbrüderungsfest Adel, Namen und Wappen verloren, und die richtigen Arbeiter, die ganz anders anpacken konnten, sahen mit höhnischem Grinsen, wie die Aristokraten sich fruchtlos mühen und schinden wollten. Adalbert schnaufte und schwitzte und war kaum weniger erschöpft als die wehleidigen Patriotinnen, in deren Kreis ihm eine besonders auffiel, weil sie eben gar nicht wehleidig, gar nicht ungeschickt war, sondern so sachverständig zu Werke ging, und so kraftvoll einen Schubkarren voll Erde nach dem andern füllte und leerte, als hätte sie zeitlebens solche Arbeit getan. Einmal aber hatte sie doch zu schwer geladen, um ihren Karren geschickt umkippen zu können, und Adalbert sprang galant hinzu, um ihr seine Hilfe anzubieten. Sie maß ihn mit einem Blick, als wäre er ein Zudringlicher, und sagte kurz: »Danke! Was ein Mann kann, kann ich auch allein!« Wirklich machte sie eine neue Kraftanstrengung, und es gelang ihr, den schweren Karren kunstgerecht umzukippen … Adalbert mußte über die Worte, die ihn abfertigten, lächeln und auch ein wenig staunen. Er wußte wohl, daß der neue Geist auch bei den Frauen umging, daß viele von ihnen sich den Männern als ebenbürtig zur Seite stellen wollten und auch schon Abgeordnete gewonnen hatten, die politische und soziale Frauenrechte begehren sollten. In der Nationalversammlung war auch schon eine Frauendeputation erschienen, die Gold und Geschmeide »auf den Altar des Vaterlandes« niedergelegt hatte und dafür öffentlich geküßt und belobt worden war, aber persönlich als Einzelwesen war ihm noch nie eine Frau begegnet, die sich unterfangen hätte, den Mann wie ihresgleichen zu betrachten. Eine Erinnerung durchflog ihn. Er dachte an Friederike, die ewig-schmiegsame, ewiggehorsame, die sich jedem Wort beugte, das ein Mannesmund brutal sprach. Und eben weil er an Friederike dachte, gefiel ihm diese abweisende Frau besonders gut …

Sie hatte sich gleich wieder von ihm ab-, ihrer Arbeit zugewandt, und so konnte er sie ungestört betrachten. Sie war jung, mochte etwa Mitte der Zwanzig sein, aber er wußte nicht genau, ob er sie zu den Frauen oder zu den Mädchen rechnen sollte. Sie war groß, aber nicht übermäßig schlank, und ihr Gesicht war mehr kühn als schön geschnitten, zeigte ein geteiltes Kinn, das Adalbert an Frauen nicht leiden mochte. Braune Locken fielen ohne jede Spur von Puder, nur von einem gelben Bande gehalten, auf ihre Schultern und mit dieser einfachen Frisur, ihrem ungeschminkten, dunklen Gesicht und ihrer Gestalt, die kraftvoll aber keineswegs zart war, mochte sie Feinschmeckern von Rasseschönheiten wohl kaum genügen. Adalbert wußte nicht, was er aus ihr machen sollte. Für eine Dame, eine Pariser Dame war sie zu robust, zu unbekümmert, auch zu geschickt in der Arbeit, die den andern so schwer fiel. Für eine Arbeiterin aber, oder eine an schweres Schaffen gewöhnte Kleinbürgerin verriet alles an ihr, trotz der kunstlosen Frisur, daß sie gewöhnt war, sich zu pflegen, sich bedienen zu lassen, wohl auch sich zu verwöhnen. Die Hände, die den Schiebkarren führten, waren wohl nicht zu klein aber weiß, weich und mit rosig glänzenden Nägeln, den braunen Locken merkte man an, daß sie sorgfältig gekämmt, gebürstet und parfümiert wurden, und von der ganzen Person dieser jungen Frau strömte ein Duft von prachtvoller Gesundheit aus, keine zufällige, rotbackige Bauerngesundheit, sondern die feinere eines wohlgepflegten und von einem festen Willen beherrschten Körpers.

Während Adalbert noch in Betrachtung der Unbekannten versunken stand und seinen eigenen Schiebkarren vergaß, entstand an einem Ende des Marsfeldes lebhafte Bewegung. Alle, die dort arbeiteten, drängten sich zusammen, ließen ihre Arbeit ruhen, und bald schallten Hochrufe zu Adalbert und seiner Unbekannten her. Der König war auf das Marsfeld gekommen, um die Festvorbereitungen zu besichtigen und da er sah, daß alles arbeitete, wollte er nicht als einziger Müßiggänger dastehen, griff nach Hacke und Schaufel, die umherlagen und wirkte und schwitzte mit seinem Volke wie irgendein anderer Bürger. Ja, er schaffte mit mehr Kraft und Verständnis als sein ganzer Adel von gestern, der ihn ob seines plumpen mürrischen Wesens oft insgeheim verspottet hatte. Heute wäre es an ihm gewesen zu lachen und zu spotten, sofern Spott seinem nüchternen und braven Wesen nicht völlig ferne gelegen hätte. So aber dachte er nur, wie gut es war, daß er sich von jeher so gerne als Maurer und Schlosser betätigt hatte, trotzdem man dabei schmutzige Hände bekam, über die sich die Königin entsetzte … Wer fragte jetzt nach reinen oder schmutzigen Händen! Man arbeitete mit dem Volke, man gefiel dem Volke und konnte, wenn die Arbeit getan war, befriedigt ob der neubefestigten Popularität in die Tuilerien zurückkehren.

Adalbert stand zu weit vom König entfernt, um ihn genau zu sehen. Wohl aber sah er, daß die Unbekannte mit dem braunen Gelock ihren Schiebkarren zornig umwarf, als die Hochrufe ertönten, die Arme über der Brust kreuzte und herausfordernd nach der Richtung sah, in der sich der König befand. Wiederum mußte Adalbert lächeln und dachte bei sich: »Aha, eine Radikale! Vielleicht eine Gesinnungsgenossin der »Feuerseele«!« Trotz dieser Vorstellung war es ihm nicht möglich, die Unbekannte mit Widerwillen zu betrachten, denn er hatte jetzt erst ihre Augen gesehen, die sie zumeist auf ihre Arbeit zur Erde gesenkt gehalten hatte. Nun war er von dem Ausdruck dieser Augen betroffen. Sie waren ungewöhnlich groß, ungewöhnlich dunkel und seltsam wechselnd im Ausdruck. Blitzten bald stolz auf wie vorhin, da sie ihn abfertigte, leuchteten für Augenblicke in sanfter Schwermut, als verkündeten sie trübe Erinnerung, tauchten dann mit absonderlichem Blick in eine weite Ferne, jäh, geheimnisvoll, schicksalsschwer. Wie sie dastand, kraftvoll und kühn mit über der Brust gekreuzten Armen und dem geheimnisvollen Blick, der in die Ferne schaute, erschien sie ihm wie die Verkörperung der jungen Freiheit und der Revolution.

Schon seit Tagen lugte die Bevölkerung von Paris ängstlich nach dem Himmel, der keineswegs bundesbrüderlich gestimmt schien. Grau und verdrießlich hing er über der Stadt, die sich schon festlich mit grünenden Bäumen, trikoloren Fahnen und Fensterbehängen geschmückt hatte. Überall sah man Blumensträuße, eilende Menschen, fröhlich erregte Gesichter, wenngleich eine beträchtliche Anzahl von Angsthasen die Reizbarkeit und Ansammlungen großer Menschenmassen fürchtete, Unheil prophezeite und vor dem Fest aufs Land flüchtete.

Als die frühe Morgenröte des großen Tages verdämmert war, bot ihm der Donner der Geschütze den Willkommgruß. Das Militär mit Lafayette an der Spitze rückte aus, die Vertreter der Behörden und Provinzen sowie sämtliche Abgeordnete der Nationalversammlung versammelten sich auf dem Stadthause, um im feierlichen Zuge nach dem Marsfeld zu ziehen. Aber ach! Der Himmel hatte seine Laune nicht verbessert und begrüßte die bundesfreudig Dahinwallenden mit einem so ausgiebigen Platzregen, daß demokratische Witzlinge behaupteten, er weine Aristokratentränen. Durchnäßt, über Wasserlachen hüpfend oder tief in ihnen einsinkend, gelangte der Zug endlich auf dem Marsfelde an, und nun schien sich auch der Himmel auf seine Festpflicht zu besinnen, schob seine grauen Wolken energisch beiseite, machte ein freundliches blaues Gesicht, und die Sonne spiegelte und beguckte sich in bräunlichen Tümpeln. Auf dem Marsfelde waren die großartigen Vorbereitungen wundervoll zu Ende geführt. Das rasch erbaute Amphitheater bot Platz und faßte auch schon Hunderttausende von Zuschauern, eine besondere Galerie war für die Abgeordneten der Nationalversammlung errichtet, ein prunkvoller Thronsessel für den König, eine Loge für die Königin, die Prinzessinnen, die königlichen Kinder, die Minister, und von Grün umlaubt, mit wehenden, dreifarbigen Tüchern geschmückt, erhob sich feierlich der Altar vor dem die Fahnen geweiht und von der ganzen Nation der Bruderschwur auf die Freiheit und die neue Verfassung geleistet werden sollten. Dicht bei dem Altar erblickte Adalbert auch Cloots mit seinen fremdartigen Schützlingen, und für einen Augenblick sah er auch die schöne Unbekannte, die seine Hilfe so hochmütig zurückgewiesen hatte. Er versuchte sich vorsichtig in ihrer Nähe zu schlängeln, aber das allgemeine Gedränge war so groß, daß sie seinen Blicken bald entschwand.

Hier, in den dicht gedrängten Reihen des Amphitheaters sah er auch zum ersten Male das wirkliche Volk, den dunklen Koloß, ohne Antlitz und ohne Gedanken, dem erst eine starke Hand menschliche Züge formt, und dem nur ein großer Wille oder eine große Erschütterung den göttlichen Odem zu geben vermag. Diesem Volke hier war solche Erschütterung schon geworden und darum prangte auf seiner Stirn das Zeichen der Gottheit, – der Freiheit. Auch den Minister Necker sah er und war ein wenig enttäuscht, daß er gar so dick und rot aussah, und kaum weniger behäbig als er erschien der König, der Adalbert allerdings keine Enttäuschung bot. Mit der zurückfliehenden Stirne, den leeren Vogelaugen und den klobigen Zügen glich er ganz dem Bilde, das Adalbert sich von ihm gemacht hatte. Die prächtige Nationaluniform, die ihm seine gute Stadt Paris zu diesem hohen Tage verehrt hatte, kleidete ihn schlecht, – er glich einem korpulenten Spießbürger, den man in einen fremden Anzug gesteckt hatte. Die Königin dagegen enttäuschte und erschreckte Adalbert. War das wirklich die Frau, deren Wunderschönheit Zeitungen und Schmeichler nicht genug rühmen konnten? Die Schrecknisse des letzten Jahres hatten nicht nur das rötliche Haar an den Schläfen grau gesprenkelt, sondern auch das Gesicht der Königin grausam verwüstet. Das Lächeln, das sonst den habsburgischen Mund anmutig geglättet hatte, schien für immer erloschen, es überglänzte dies Frauenantlitz nicht mehr mit reizvollem Stolz, so daß dies strenge Gesicht nur noch hochmütig aussah. Mit der habsburgischen Lippe, der steilen Stirn, dem unsicheren Blick der kurzsichtigen Augen und dem Ausdruck des Hochmuts glich Marie Antoinette heute in fataler Weise den Bildern mißtrauischer Ahnherrn und bigotter Ahnfrauen des Erzhauses.

Wiederum donnerten die Kanonen, und der Großalmosenier betrat den Altar. Die Fahnen der Regimenter senkten sich vor ihm, und er segnete sie für die Sache der Freiheit und der Nation. Mit entblößtem Schwerte sprach Lafayette den Bundeseid, und mit ihm sprachen ihn alle Abgeordneten und Vertreter des souveränen Volkes. Jauchzende Rufe gaben das Echo, und mit der behenden Grazie des ehemaligen Vortänzers eilte Lafayette vor den Thron des Königs hin, bat mit entblößtem Haupte den König und den Präsidenten der Nationalversammlung, daß nun auch sie den Bundeseid ablegen möchten. Der König sprach ihn laut und war so tief ergriffen, daß ihm unaufhörlich Tränen über die Wangen rollten, die Königin dagegen, die mehr Haltung und auch mehr Sinn für das Dekorative besaß, hob den kleinen Dauphin empor und zeigte ihn dem Volke. Ein Te Deum hub an, das immer wieder von brausenden Jubelrufen übertönt wurde, und Adalbert war hingerissen von der großen Harmonie, die hier Gott, König und Volk in eins zu verschmelzen schien. Da aber bemerkte er einen langen Blick, den das Königspaar wechselte, während der König, der zu den Seinen getreten war, seine Kinder an sich preßte. Es war ein Blick, der Adalbert zu gleicher Zeit Schrecken und Mitleid einflößte. Grauen lag in diesem Blick, Mißtrauen und Zorn, denn sie wußten, wie das ist, wenn über der Stirn mit dem Zeichen der Gottheit das Tiergesicht des Pöbels auftaucht. Zweimal hatten sie dies schreckliche Tiergesicht erblickt, und seitdem war es der Alb ihrer Nächte, die hetzende Angst ihrer Träume. Dies Tiergesicht haßten sie, fürchteten sie, wollten ihm entfliehen, und noch in der Todesstunde würde sich dies Tiergesicht in der Iris ihrer brechenden Augen spiegeln …

Niemand fing den Blick auf außer Adalbert, dem es mit einem Male war, als umbrause ihn nicht mehr der freudige Tumult der großen Verbrüderung. Alles um ihn her erschien ihm wie bewußtes oder unbewußtes Gaukelspiel, und das Lieblingswort Thurnes zog ihm durch den Sinn: »Es ist alles nur ein Übergang!« Ein neuerlicher Regenguß schreckte ihn aus weiteren Betrachtungen auf, und da nun die Feierlichkeit zu Ende war, rannte und raste alles weg, als wälzte sich eine Springflut hinter ihnen her. Der Himmel war mit einem Male wieder durchaus verbrüderungsfeindlich, begnügte sich nicht mehr damit, rieselnden oder plätschernden Regen zu verschütten, sondern goß wahre Wassertromben auf die Flüchtenden herab, und der Lehmboden schluckte die Fluten gierig ein, verwandelte sie boshaft zu einem Brei, in dem die Füße stecken blieben, so daß es den Anschein hatte, als sollte jeder Einzelne als Standbild der Verbrüderung festgehalten werden. Die Hüte, Maschen und feinen Fichus der Damen schwanden kläglich dahin, zarte Schuhe blieben im Morast stecken, während rundum die Menge mit Ellbogen und Kniestößen vorwärts zu kommen trachtete. Viele lachten, viele fluchten; Damen, die sich nicht mehr zu helfen wußten, hatten nicht übel Lust, laut zu weinen, während die Gilde der Taschendiebe sehr vergnügt war und die Verbrüderung auf besondere Art verstand und ausnützte. Adalbert schlug mit der Faust eine Hand weg, die ihm unversehens das goldene Uhrgehänge abzwicken wollte, faßte mit festem Griff die Finger eines geschminkten Fräuleins, die schon seine Brieftasche hielten und sagte spöttisch: »Sie irren sich, Mademoiselle!« Worauf sie zurechtweisend entgegnete: »Bürgerin, wenn ich bitten darf!« und ohne eine Spur von Betretenheit sich an einen behäbigen Provinzabgeordneten machte, der ertragreich aussah.

Einmal bemerkte Adalbert eine Gruppe, die so grotesk war, daß er trotz des Regens und des Gedränges stehen blieb und sich umherstoßen ließ, um sie zu betrachten. Es war Cloots, der den Regenschirm in der einen, die Brieftasche in der andern Hand von seinen fremdländischen Schützlingen umringt stand, und in seiner Brieftasche eifrig nach Banknoten kramte, während von seinem Schirme wahre Dachtraufen auf ihn niederströmten. Seine Schützlinge hatten in den letzten Tagen offenbar überraschend schnell französisch gelernt, denn in unverfälschtem, gemeinen Dialekt schrie ihm der Vorstand der Chinesen zu: »Jawohl, wir fordern die doppelte Taxe! Wir sind nur für die Maskerade gemietet worden, nicht aber dafür, daß wir uns bei dem Hundewetter den Tod holen!« Adalbert lächelte verächtlich. So hatten also die Spötter in den Zeitungen recht, die gleich behauptet hatten, daß Cloots Gefolgschaft nur arbeitsloses oder arbeitsscheues Gesindel sei, das er in Maskenkleider gesteckt hatte, um sich als »Sprecher der Menschheit« in Szene zu setzen! Ein Gaukelspiel, alles nur ein Gaukelspiel! Dann aber ward sein Auge von einem schöneren Bilde gefangen. Er sah jetzt wieder die Unbekannte, die ihm vorhin im Festgedränge verlorengegangen war. Sie war durchnäßt wie alle anderen, so daß man die Farbe ihres Kleides nicht mehr zu unterscheiden vermochte. Auch ihr Kopfputz war dahin, und ihre Schuhe saßen nicht mehr an den Füßen, sondern sie trug sie in der Hand. Während aber andere Frauen in dieser Zerstörung des Putzes einen kläglichen Anblick boten, hatte sie scheinbar alle Schwierigkeit überwunden. Mit festem Griff hatte sie ihr Haar in einen Knoten zusammengedreht und gesteckt, dem Wind und Nässe nichts mehr anhaben konnten, hatte das Kleid nach Bauernart hoch über die Unterröcke emporgeschlagen und ging in ihren Seidenstrümpfen so sicher auf dem Lehmboden dahin, wie jemand, dem es nichts Neues ist, in Strümpfen oder auch bloßfüßig einherzuschreiten. Nur einen Augenblick sah er sie, dann war sie genau wie vorhin in der Menge verschwunden.

Als Adalbert nach Hause kam, klingelte er seinem Diener. Er wollte sich umkleiden und heißen Tee trinken, – doch er klingelte vergebens. Niemand erschien, und da erst fiel ihm ein, daß wohl auch sein kleines Gesinde zum Verbrüderungsfest gegangen war. So kleidete er sich allein um, kochte auf der Teemaschine, die immer bereit stand, Tee, so gut er es konnte, zog, da der Tag dunkel war, alle Vorhänge zu und zündete die Kerzen auf seinem Schreibtisch an. Er überdachte diesen Tag und konnte ein zwiespältiges Gefühl nicht loswerden. Er begriff sich selber nicht, denn alles, mit Ausnahme des Wetters, war doch voll Eintracht, voll schöner Gesinnung und Gebärden gewesen. Und verlohnte es ein bizarrer Sonderling wie Cloots, daß man ihm länger als eine Minute nachsann? Sicherlich nicht, am wenigsten an einem Tage wie diesem, der dem Lande die große Einigung gab … Er begann einen Brief an seine Mutter zu schreiben, der schon lang hätte geschrieben werden sollen, in den Begebnissen der letzten Zeit aber immer wieder liegen geblieben war. Gegen Abend kam endlich auch seine Dienerschaft nach Hause.

Doch als er läutete, erschien zu seinem Staunen nicht sein geschniegelter Kammerdiener in der hübschen, dunkelblauen Livree mit den silbernen Tressen und Silberknöpfen, sondern ein Mensch mit kurzgeschnittenem Haar à la Franklin im bürgerlichen Rock, mit braunen Strümpfen und offenem weißen Kragen. Adalbert begriff im ersten Augenblick nicht recht, was dieser Fremde bei ihm wollte, dann aber erkannte er, daß es sein Kammerdiener war, der mit der Livree auch die leise Stimme und den respektvollen Ton abgelegt hatte und mit höhnischer Betonung laut sagte: »Bürger Halmau, ich habe die Livree abgelegt, denn die Nationalversammlung hat mich nur verpflichtet, sie bis heute zu tragen. Von heute an bin ich genau so frei wie Sie, und es ziemt uns nicht länger, die Hanswurstkleider der großen Herrn zu tragen. Ich bin aber bereit, Ihnen gegen entsprechende Entlohnung auch fernerhin die Dienste und Arbeit zu leisten, die Sie ja nicht gelernt haben!«

Adalbert hätte, wie es sich für einen Demokraten ziemt, nichts gegen die Ablegung der Livree gehabt, aber der freche Ton und die ganze Art des Burschen verdrossen ihn. Er entgegnete:

»Sie haben ganz Recht, es ziemt sich nicht, Hanswurst zu sein oder sich mit Hanswursten zu umgeben. Ich bedarf ihrer Dienste nicht länger, zahle Ihnen Ihren Lohn aus und ersuche Sie, das Haus sofort zu verlassen!«

Der Bursche ging. Adalbert versank wieder in Nachdenken. Ob sein deutscher Kammerdiener und sein Koch dem Beispiel des Franzosen folgen würden, kümmerte ihn nicht. Er hing nicht an Äußerlichkeiten, und es sollte ihm auch nichts verschlagen, wenn er sich ohne Dienerschaft behelfen und täglich auswärts speisen oder in einem Hotel wohnen müßte. Es waren nicht seine eigenen Angelegenheiten, sondern wiederum der große Tag, über den er nachdachte, der so schön begonnen und doch so manchen kleinlichen Eindruck hervorgebracht hatte. Cloots – der Regen – die Taschendiebe – der freche Diener – und über allem nicht kleinlich, aber erschreckend, der Blick, den das Königspaar gewechselt hatte … Diesen Blick konnte er nicht loswerden. Er verfolgte ihn, wohin immer er seine Gedanken sandte. Allmählich aber verdrängte ihn ein anderes Bild, eine braunlockige Frau, die ihr kostbares Kleid nach Bäuerinnenart geschürzt hatte, die feinen Schuhe in der Hand trug und so sicher dahinschritt, wie nur ein Kind schreiten kann, das von der Erde geboren wurde und die Erde liebt …

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