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19. Kapitel.

Adalberts Habseligkeiten waren für die Heimreise gepackt. Der Konvent hatte ihm keine Schwierigkeiten wegen der Pässe bereitet, und auch sonst hielt ihn nichts mehr in Paris. Er hatte ein entsetzliches Wiedersehen mit Théroigne gehabt – ein Wiedersehen im Irrenhause. Die furchtbare Züchtigung durch die Megären hatte vollendet, was sich in diesem überhitzten Frauenkopf schon lange vorbereitet und durch immer gesteigerteres Selbstbewußtsein angekündigt hatte. – Tief erschüttert stand er vor der Wahnsinnigen, die ihn nicht mehr erkannte und die ihm einst wie das Symbol der Revolution erschienen war. Als er die Ärzte fragte, ob sie wohl wieder geheilt werden könnte, zuckten sie die Achseln. Unmöglich war ja auf Erden nichts, aber irgendein Versprechen oder auch nur eine bestimmte Hoffnung konnten sie nicht machen …

Auch bei Angelika war er gewesen, die ihr Schicksal gramvoll, aber mit Würde trug. Er hatte schüchtern gemeint, sie solle mit ihm nach der Heimat ihres Mannes kommen; aber sie hatte abgelehnt, und im Stillen gab er ihr Recht. Was sollte die Witwe des Jakobiners, die seine Kinder nach seinem Vorbild erziehen sollte und wollte, in einem andern Lande als in Frankreich suchen?! Er nahm sich vor, sie auch in der Ferne nicht aus dem Auge zu verlieren; von dem Drama »Cinna« aber konnte er trotz aller Mühe, nichts erfahren …

Die Heimreise machte er über Jena, obwohl dies einen Umweg für ihn bedeutete. Aber er wußte, daß an dieser Universität der Verfasser der Räuber lehrte, wußte es, weil die Republik auch Schiller zum Ehrenbürger ernannt hatte. Er wollte nicht heimkommen, ohne diesen Mann gesprochen zu haben, der sich so flammend zu Jean Jacques bekannte. Sprechen wollte er ihn, warnen, die Hölle der Freiheit vor ihm auftun, aus der er, Adalbert, eben herkam …

Nun stand er im Arbeitszimmer des Herrn Professors, das in seiner unsäglichen Bescheidenheit beinahe an das Robespierre'sche erinnerte; nur war hier alles sauber und ordentlich. Der Herr Professor stand in seiner ganzen beträchtlichen Länge mitten im Zimmer und erwartete den angekündigten hohen Besuch. Hoher Besuch, – denn Adalbert hatte den Herrn von Halmau in Paris zurückgelassen und reiste wieder unter seinem echten Namen. Der Professor war jung und schlank; das lichte Gesicht mit der großen Nase und den ein wenig rotgeränderten Augen war sommersprossig und von kränklicher Farbe. Über dies junge Gesicht waren schon Stürme, Schmerzen und Leidenschaften hingebraust, aber trotz ihrer Zeichen lag auf dieser hohen, weißen, prachtvoll gemeißelten Stirne ein unbeschreiblicher Adel, und der Kopf lag stolz im Nacken, als gehörte er einem Fürsten und nicht einem armen deutschen Professor. Doch trotz dieser Kopfhaltung ging er Adalbert ehrerbietig entgegen, denn er war bei allem jungen Ruhm eben doch ein armer deutscher Professor und darum gewohnt, sich vor Fürsten zu neigen.

Er sprach die bei solchen Gelegenheiten üblichen Eingangsredensarten von »Hoher Ehre« und »glücklich schätzen« und wartete, daß auch der fürstliche Besucher irgendetwas sagen möchte, was sein Hiersein erläuterte. Und auch Adalbert hatte das Gefühl, daß es nun an ihm sei, das Gespräch von Redensarten weg, zu seinem eigentlichen Zweck hinzuleiten; aber zu seinem Schrecken fühlte er sich wie mit Stummheit geschlagen. Er setzte an:

»Herr Professor …« und noch einmal »Herr Professor …« und zum dritten Male, aber dann war wieder eine Pause, die dem Herrn Professor ebenso befremdlich erscheinen mochte wie Adalbert.

Endlich raffte er sich zusammen. Sprach in beinahe drohendem Ton:

»Herr Professor, Sie haben die »Räuber« geschrieben!«

Der Herr Professor fand seinen Besuch immer absonderlicher, verneigte sich und sagte:

»So ist es, Hoheit!«

Wieder der beinahe drohende Ton:

»Mit diesem Drama bekennen Sie sich zu Jean Jacques!«

»So war es, Hoheit!«

»Herr Professor, ahnen Sie, welches Unheil Bücher, wie das Ihrige, anrichten können, müssen? Wissen Sie, wie in Wirklichkeit die Menschen aussehen, die gleich Ihren »Räubern« alle Schranken des Gesetzes und der Ordnung sprengen? Wissen Sie, was das für »Kolosse« sind, die von der gesetzlosen Freiheit ausgebrütet werden? Nein, Sie wissen es nicht! Hier in Ihrer kleinen Stadt können Sie es nicht wissen. Ich aber weiß es. Ich habe es erlebt. Ich komme aus Paris. Ich komme aus dem Kerker.«

Wieder eine Pause. Es wäre dem Professor unmöglich gewesen, irgendein Wort der Teilnahme oder des Entsetzens zu äußern, denn Adalbert befand sich jetzt so sichtlich in einem heftigen inneren Kampf, daß man ihn nicht ohne Befremden betrachten konnte. Wiederum kämpfte er mit dem Wort, das ihm jetzt weniger noch als vorher über die Lippen wollte. Nicht Scheu vor dem Professor war es, sondern Scheu vor sich selber, vor dem eigenen Erleben, vor der Erinnerung. Ihm wars, als wäre sein »Ich war im Kerker« schon zuviel gewesen, und er schämte sich des Bekenntnisses, als hätte er eine Sünde bekannt. Und in diese Scham hinein drang die Verzweiflung:

»Ich wollte diesen Mann warnen, wollte die Hölle der Freiheit vor ihm auftun und stehe nun stumm und kann nichts von dem äußern, was mich so heftig bewegt und zu ihm geführt hat!«

Er kämpfte mit der Schamhaftigkeit des großen Erlebnisses und mit den Worten; widerwillig, mühsam, als wären sie gestocktes Blut, brachte er sie endlich hervor. Sein Gesicht war erhitzt, seine Hände blaß und kalt, seine Stimme schwankte, als wäre, was sie künden mußte, für sie zu schwer. Zaghaft, mit oft gesenktem Blick, als wolle er nicht zum zweiten Male schauen, was er da enthüllte, schlug er die Pforten des Inferno auf, dem er eben entronnen war, und Mord und Brand und Greuel schlugen dem Professor entgegen. Immer weiter riß Adalbert die Pforte der Verdammnis auf, immer weiter stürmten die Bäche, immer gräßlicher wurde das Jammern, immer hurtiger rollten die Köpfe …

Dem Herrn Professor aber vermochte dies alles nicht mehr den Sinn zu verwirren. Es ergriff ihn, es machte ihn schaudern, aber nichts in ihm wurde davon zertrümmert, denn sein Geist war schon über all diese Dinge emporgestiegen zu einer neuen Welt. Als Adalbert zerquält und erschöpft geendet hatte, sagte der Herr Professor, gleichsam als Erwiderung auf die vorhin gesprochenen Worte:

»Hoheit, seit dem Prozeß des unglückseligen Königs von Frankreich habe ich einen Strich unter die französische Revolution gemacht. Mit Henkersknechten habe ich nichts zu schaffen.«

Etwas vom Temperament der »Räuber« lag in seiner Rede, und Adalbert sah ihn betroffen an. Der Professor erwiderte seinen Blick, und eine Weile schauten sie einander schweigend in die Augen, als wollten sie ergründen, ob es sich verlohne, zu dem anderen mehr gesprochen zu haben oder zu sprechen als nur Worte …

Der Professor brach das Schweigen. Auch er schlug jetzt die Pforten einer Welt auf. Eine Welt war es, deren Freiheit ganz anders aussah als die Freiheit Jean Jacques'. Nicht der menschlichen Glückseligkeit strebte diese Welt nach, sondern dem Ideal der menschlichen Vervollkommnung, nicht Besitz wollte sie, sondern persönliche Würde, nicht Befreiung von irgendwelchen äußeren Zuständen galt ihr als höchstes Ziel, sondern die innere Befreiung des Menschen, die ihn fähig macht, das Unabänderliche zu wollen, so daß Pflicht und freier Wille eins werden. Freiheit – Glückseligkeit – für den Professor und seine Welt waren das nur armselige Verpuppungen, sofern sich nicht in ihnen Pflicht und Vervollkommnung bargen.

Zu Anfang klang seine Rede gemessen, und es war für Adalbert nicht immer leicht, ihr zu folgen, denn der Herr Professor war an ein akademisch gebildetes Auditorium gewöhnt und setzte darum manches voraus, was Adalbert gar nicht besaß. Aber er sprach mit solcher Wärme, wurde allmählich so hingerissen von dem Bilde seiner Freiheit, seiner Welt, daß Adalbert wie eingesponnen in einen Zauber saß, obwohl der Professor jetzt, da er in Eifer war, stark schwäbelte, was das Verständnis nicht erleichterte. Aber Adalbert saß und lauschte und wünschte nichts anderes, als daß diese Stunde niemals enden möchte, daß er immerfort von dieser reinen starken Welt hören könnte, die nichts von Blut und Rausch wußte, sondern nur von Sittlichkeit und Pflicht …

Eine wundervolle Ruhe kam über ihn und eine ehrfürchtige Rührung. Ein Wort fiel ihm ein, das Thurnes einst vor vielen Jahren gesprochen hatte, das Wort von dem großen Feuer, das im Westen angezündet werden und die Welt verschlingen sollte. Auch hier, in dieser bescheidenen Studierstube brannte ein großes Feuer, aber keines, das mit gierigen Zungen Menschen und Menschenwerk fraß, sondern ein heiliges Feuer war es, das weithin leuchtete in Wirrnis und Dunkelheit hinein und gleich einem Fanal der verirrten Menschheit den Weg wies, der sie aus der Niederung der Begier zur Höhe des Ideals führte …

Der Professor schwieg jetzt. Adalbert fühlte, daß es nun an ihm war, zu danken und die herkömmlichen huldvollen Worte zu sagen. Aber alles, was er hätte sagen können und wollen, kam ihm so banal vor, daß er lieber stumm blieb. Dafür aber geschah etwas, was der Herr Professor noch mit keinem hohen Besuch und überhaupt noch mit keinem erlebt hatte: Adalbert haschte nach seiner Hand, küßte sie ehrerbietig, ehe der bestürzte Professor ihn daran hindern konnte und war im nächsten Augenblick verschwunden. –

*

Er näherte sich der Heimat. Er hatte schon erfahren, daß sie keine Republik geworden, aber ob sie aus freier Wahl dem Herrscherhaus treugeblieben war, wußte er nicht. Es schien ihm auch gleichgültig. Während sein Wagen der Hauptstadt zufuhr, achtete er sorgfältig auf alles, was sich dem Blicke bot und sah, daß alles verlottert war. Schlecht gepflegte Straßen, abgeholzte Wälder, in denen nicht aufgeforstet worden, schlecht bestellte Acker mit den verheerenden Spuren von Jagden, die über sie weggesetzt waren, Bauern, die ärmlich und versorgt aussahen, da und dort ein paar Soldaten, die Straßenräubern glichen. Aber je näher er der Hauptstadt kam, um so mehr begegnete sein Wagen eleganten Gefährten, vornehmen Reitern, geputzten Damen in Sänften, und alle sprachen französisch. Da merkte er, daß seine Hauptstadt eine Zuflucht flüchtiger Emigranten geworden war, die wohl hier den Ton angaben und sich bemühten, ein Klein-Versailles aufzurichten. Der Herzogin-Mutter entsprach ja diese Art, und Adalbert sah zu seinem Staunen, daß dem Schloß ein kostbarer Neubau angefügt war, daß in seinem Vorgarten, der sich bislang mit bescheidenen Blumenrabatten begnügt hatte, Fontänen sprangen und in Marmorbecken niederrauschten, auf deren Rändern vergoldete Frösche und anderes Getier hockten. Auch seltene Blumen waren angepflanzt, kegelförmig verschnittener Taxus besäumte weiße Kieswege, und etliche Orangenbäumchen fristeten ein kümmerliches Dasein und sahen aus, als wollten sie sterben vor Sehnsucht in diesem Boden, auf den sie nicht gehörten …

Adalbert stieg aus. Niemand erkannte ihn, und die Wachen vor dem Schloß wollten ihn nicht einlassen. Das war kein Wunder, denn er war nicht mehr der zarte, zierliche Prinz von ehedem, sondern mager, sehnig und gezeichnet von seinen Erlebnissen, daneben aber doch breiter und männlicher, als man ihn hier gesehen hatte. Auch trug er keine Puderfrisur mehr, sondern das Haar rund geschnitten, und sein Anzug war nicht mehr nach dem Schnitt des ancien régime, sondern zeigte den modischen Rock mit dem hohen Kragen und der breiten Krawatte. Er hatte ein kleines Wortgefecht mit den Wachen, die ihn für irrsinnig hielten, als er erklärte, daß er der Herzog sei und die Frau Herzogin-Mutter sprechen wolle. Der Torwart kam herbei, andere Diener mit fremden Gesichtern, die gebrochen Deutsch sprachen, und alle waren einig, daß man es mit einem Narren zu tun habe, bis endlich Adalberts früherer Kammerdiener, Konrad, herbeikam ihn fest ansah und wie vom Donner gerührt in die Knie sank: »Hilf Gott, es ist unsere Hoheit, der allergnädigste Herr Herzog!«

Selbstverständlich entstand alsbald im Schlosse große Aufregung. Die Frau Herzogin-Regentin kam, gefolgt vom Abbé Clement, herbeigerauscht, lächelte charmant wie immer, aber man konnte nicht recht entscheiden, ob ihre Freude oder ihre Überraschung größer war:

» O mon fils bien aimé, Quel bonheur de vous revoir enfin après tant d'angoisse

Er aber hörte gar nicht auf diesen wohlstilisierten Satz, wußte gar nicht mehr, wie förmlich er seiner Mutter stets begegnet war. Er wußte nur, daß die Heimat ihn umfing, daß die Mutter vor ihm stand, und so umfaßte er die Frau Herzogin-Regentin, als wäre sie irgendeine ganz bürgerliche Madame, legte seinen Kopf an ihre Schulter, wie er einst in Genesung nach schwerer Krankheit getan:

»Beinahe wäre ich nie mehr zu dir heimgekommen, Mutter!«

Zu dir – die Frau Herzogin-Regentin meinte sich verhört zu haben. Zu dir – hatte man je im Schlosse so etwas gehört! Ein Prinz, der zu seiner allerhöchsten Frau Mutter »du« sagte! Jetzt sah sie das rundverschnittene Haar, den hohen Kragen, die breite Krawatte, und voll Entsetzen dachte sie:

»Mein Sohn ist in Paris ein Jakobiner geworden!«

Nun trat auch Abbé Clement hervor, hielt eine kleine schön gezierte Rede, die mit »Monseigneur« anhub und versicherte, wie man für Monseigneur gebangt, gehofft und (fügte er etwas unsicher hinzu) gebetet habe. Adalbert entgegnete trocken:

»Sie hatten es gut, Herr Abbé, daß Sie sich so friedlichen Beschäftigungen hingeben konnten. Ihre Amtsbrüder in Paris hatten keine Zeit zu beten, weil sie sterben mußten!«

Die Frau Herzogin-Regentin und der Abbé wechselten einen Blick. Dieser Blick bestätigte, daß man es mit einem Jakobiner zu tun habe …

Adalbert fragte: »Wo ist meine Frau?«

Der Frau Herzogin-Regentin gab diese bürgerliche Formulierung wieder einen kleinen Riß, und sie entgegnete:

»Ihre Hoheit, die Frau Herzogin, hält sich mit Vorliebe in Montplaisier auf, lebt und ergötzt sich dort, wie es ihrer Jugend und ihrer Stellung zukommt!«

Eine kleine Bosheit lag in diesen Worten, aber Adalbert gab nicht darauf acht, sondern fuhr nach Montplaisier. Er fand dort ungefähr dasselbe Treiben wie in der Hauptstadt; müßige Emigranten, die sich als Herren aufspielten, den Ton angaben und immer deutlich merken ließen, daß diese kleine Residenz in ihren Augen nur eine Art Kaffernkraal war, der sich glücklich schätzen mußte, solch erlesene Gäste zu beherbergen. Als Adalbert bei seiner Frau eintrat, las ihr eine Marquise gerade mit affektiertem Tonfall aus einem französischen Roman vor, und Friederike, die sicherlich nur mit Mühe folgen konnte, machte ein gelangweiltes Gesicht.

Sie starrte Adalbert an als wäre er ein Gespenst. Stammelte:

»Hoheit … Sie …«

»Ja, ich. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, daß ich es bin!«

Nein, sie hatte nichts dagegen. Sie sah gar nicht aus, als ob sie sich bislang sonderlich ergötzt hätte, denn sie wurde von ihrer französischen Umgebung beständig, wenn auch in höflicher Form gehofmeistert und wußte, daß niemand sie lieb hatte.

Die vorlesende Marquise war diskret und ein wenig chokiert über die Formlosigkeit des herzoglichen Ehemannes verschwunden. Adalbert ergriff Friederikens Hand.

»Wir wollen nicht von Vergangenem reden. Wir wollen auch nicht mehr daran denken, und es wäre besser gewesen, wir hätten es nie getan. Es liegt abgeschlossen hinter uns, – lassen wir es ruhn! Wir haben beide Schuld gehabt, du gewiß viel weniger als ich, aber nun wollen wir einmal versuchen, unser Leben beim andern Ende anzupacken. Es wird viel Arbeit für uns geben, aber vorher erst einen tüchtigen Kehraus. Es war hohe Zeit, daß ich heimkam. Meinst du nicht auch?«

Er nahm sie und küßte sie, wie er seine Mutter geküßt hatte, Friederike aber war durchaus nicht entsetzt über die jakobinischen Gepflogenheiten. Dieser draufgängerische Mann gefiel ihr bedeutend besser als der verwöhnte, zaghafte Fürst, dem sie angetraut worden war …

Ja, es gab einen Kehraus, vorher noch einen Ministerrat, zu dem auch die Herzogin-Mutter (Herzogin-Regentin konnte sich jetzt leider nicht mehr heißen!) gebeten worden war. Als der Ministerrat vollzählig versammelt war, fragte Adalbert nach dem versiegelten Schreiben, das er vor seiner Abreise in die Hände der Minister gelegt, und auf dessen Vollzug sie gemeinsam mit ihm das Abendmahl genommen hatten. Da gab es viel Verlegenheit und Stammeln und Ausflüchte. Adalbert aber sagte gelassen:

»Man bringe mir das Schreiben nebst einer Kerze und Feuerzeug!«

Als er es, wohl versiegelt, wie es vor Jahren gewesen, in Händen hielt, ließ er die Kerze entzünden und verbrannte es, daß es in kleinen Aschenflocken auf den Tisch niederstäubte. Auf einen fragenden Blick der Herzogin: »Es wäre ein Freibrief der Torheit! Weil ihr ihn nicht gelesen habt, verzeihe ich, daß gegen mein Gebot gehandelt worden ist!«

Dann begann der Kehraus. Den Emigranten wurde in verbindlicher, aber nicht mißzuverstehender Weise kundgetan, daß auch Coblenz, Trier oder Mainz angenehmen Aufenthalt böten. Die französischen Diener und Zofen stoben aus dem Schlosse, und ihnen folgte eine Beamtenschar, die, von der Herzogin-Regentin neu ernannt, diensteifrig Steuern bewilligt, Wälder geschlagen und das Land heruntergebracht hatte. Eines Tages hielten denn auch hochgepackte Reisewagen vor dem Schlosse. Die Herzogin-Mutter zog sich, gefolgt vom Abbé Clement auf ihren Witwensitz Montplaisier zurück. Sie trug kein Verlangen, mit einem jungen Paar unter einem Dache zu wohnen, noch dazu mit einem Sohn, der ein Jakobiner war.

Nach dem Kehraus begann die schwere Arbeit, ein verwirtschaftetes, unsinnig belastetes Land wieder in die Höhe zu bringen. Langsam ging es, und der Rückschläge waren unzählige und von Festen und Lustbarkeiten war an dem jungen Hofe kaum die Rede. Die Frau Herzogin lag häufig in den Wochen, und der Herzog war so ernst geworden, daß man ihn nur selten lachen sah. Arbeit, Arbeit und immer wieder Arbeit. Langsam löste sich das Land aus der Verkommenheit los, begrünte sich allmählich wieder mit dem früheren Wohlstand, und wenn der Herzog an dem Denkmal seines Großvaters vorbeiging, dann war's ihm nicht mehr, als blicke das dunkle, schrecklich-opalisierende Auge zornig auf ihn nieder, sondern als hörte er die rauhe Stimme:

»Verfluchte Kröte! Vielleicht hat doch etwas in dir gesteckt!«

Selten nur lachte der Herzog, und niemals sprach er von den Jahren, die er fern der Heimat zugebracht hatte. Wie auch Friederike bat und drängte, – sie erfuhr nichts von dem, was er da erlebt hatte. Nicht mit Absicht blieb sein Mund verschlossen, aber wer die wilde Jagd gesehen hat, ist zeitlebens mit Stummheit geschlagen und er hatte den gespenstischen Jäger nicht nur erblickt, sondern war selber mitgerast in dem tollen Gejaid. Alljährlich aber, am 9. Thermidor des französischen Kalenders, dem Tag seiner Befreiung und Robespierre's Sturz, schloß er sich in sein Zimmer ein, und ließ niemanden vor, während die Herzogin einem Dankgottesdienst in der Schloßkapelle beiwohnte. Niemand erfuhr, mit welchen Erinnerungen und Gespenstern der Herzog Zwiesprache hielt, aber nach diesem Tag war er noch ernster und strenger als sonst, so daß seine Frau wohl zwischen Scherz und Ernst zu ihm sagte:

»Ich glaube, du wächst dich allmählich auf deinen Großvater hinaus!«

Da zwang er ein Lächeln auf die Lippen, sann ein wenig nach und meinte:

»Das glaube ich nicht. Aber selbst wenn, – es wäre nicht das Schlimmste!«

Adalbert hat späterhin als Waffengefährte Preußens den Tag von Jena erlebt, bei Leipzig mitgeschlagen und ist mit dem siegreichen Heere in Paris eingezogen. Das war ein ganz anderer Einzug als vor etlichen zwanzig Jahren! Da war kein stolzes, von seiner Souveränität erfülltes, sondern ein geschlagenes und charakterloses Volk, das demütig auf Befehl der Sieger die alte Herrscherfamilie wieder annahm, und gar Viele, die vorgestern sansculottisch, gestern napoleonisch gewesen, entdeckten jetzt ihr royalistisches Herz und schweifwedelten um die Sieger herum. Dies Volk war nicht geeignet, Adalberts sehr gesunkenen Respekt vor eingeborenen und souveränen Rechten zu erhöhen, aber wer eine Revolution miterlebt hat, steht solch angeblichen Rechten wohl überhaupt skeptisch gegenüber …

Seltsam, wehmütig und spukhaft war es, in dieser Stadt umherzugehen und alte Stätten, alte Menschen wiederzusehen. Einer seiner ersten Gänge war nach der Salpetrière, und er hoffte im Stillen, Théroigne dort nicht mehr zu finden. Aber der Tod, dem sie so oft getrotzt, hatte noch kein Mitleid mit ihr gehabt, und sie lebte weiter, gealtert und völlig vertiert. Er forschte nach Angelika, deren Spur er seit langem verloren hatte, weil auf seine Geldsendungen nie eine Zeile des Dankes gekommen war. Auch jetzt war es ihm nicht möglich, irgend etwas über sie zu erfahren. Vielleicht war sie samt den Kindern untergegangen im Getriebe der Weltstadt, vielleicht saßen sie irgendwo als arbeitsame Existenzen in einem Winkel der Provinz, hingen insgeheim den Idealen ihres Toten nach und betrachteten wie er die Ereignisse der Gegenwart nur als einen Übergang. Auch Tallien sah er flüchtig. Langsam und mühselig wie ein Leidender trippelte er den Seinequai entlang, blieb da und dort bei einem fliegenden Buchhändler stehen, zog ein Buch aus der Tasche seines abgetragenen Rockes und begann mit dem Händler zu feilschen. Die schöne Therese hatte ihn längst um eines Fürsten willen verlassen, und nun lebte er, der Heros von einst, der Robespierre gestürzt hatte, kümmerlich von einem kleinen, fragwürdigen Amte bei der Polizei, verkaufte Stück für Stück seiner Bibliothek, um leben zu können … Dann ging Adalbert durch die Rue St. Honoré an dem Hause vorüber, in dem Robespierre gewohnt hatte. Es sah genau aus wie vor zwanzig Jahren, und die Erinnerung, die bei seinem Anblick erwachte, war übermächtig. Ein ältliches Fräulein in einem Trauerkleid von altmodischem Schnitt trat heraus, und Adalbert wußte, daß es Eleonore Duplay war, die nicht vergessen konnte und bis zu ihrem Tode Trauer tragen würde für den Mann, dem sie nichts bedeutet hatte. –

Lauter Gestrandete der großen Flut! Lauter Schatten, die mit dunklen Händen nach seinem Herzen griffen und es schmerzhaft zusammenpreßten!

Er war just an diesem Tage zu einem Diener beim Fürsten Talleyrand geladen, und sein Gesicht blieb trotz aller Heiterkeit der Tafel so ernst, daß der Fürst leise zu seiner Nachbarin sagte: »Was für ein trauriges Land, dieses Deutschland! Seine Fürsten können nicht lachen –«

Nein, Adalbert konnte heute und auch an vielen anderen Tagen weder lachen noch lächeln. Aber er dachte heim an sein Land, das er für seinen Sohn bestellen wollte, und da ließen die Gespenster der Vergangenheit von ihm ab und verschwanden vor dem hellen Licht, das über der Zukunft lag.

*


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