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9. Kapitel.

In früher Morgenstunde saß Adalbert am offenen Fenster seines Zimmers und las. Diese Zeit war fast die einzige, die ihm für Bücher übrigblieb, denn sein Tag und auch sein Abend waren reich ausgefüllt mit Geschäften aller Art. Der Klub, in dem er kaum je eine Sitzung versäumte, nahm ihn fast mehr in Anspruch als die Nationalversammlung, zu deren ständigen Tribünengästen er immer noch gehörte, und oft schrieb er bis tief in die Nacht hinein unter Robespierres Diktat, dessen schwache Augen der Schonung bedurften, und der froh war, einen verständigen und durchaus zuverlässigen Sekretär gefunden zu haben. So oft kam er in das Haus der Duplays, daß Théroigne hin und wieder eifersüchtig werden wollte und behauptete, Adalbert ginge um eines Mädchens willen immer wieder zu den Schreinersleuten hin. Solche Behauptung war aber mehr ein Liebesgeplänkel als Überzeugung, denn Eleonore war zu unschön, als daß sie hätte Eifersucht erregen können, und um die hübsche Elisabeth bewarb sich seit einiger Zeit eifrig der junge Lebas, ein Freund Robespierres. Es gehörte nun einmal zu den Eigentümlichkeiten Théroignes, daß sie sich immerfort über etwas erregen und ereifern, immer irgendwie kleine oder große Sensation haben mußte, gleichviel, ob es sich um eine persönliche Angelegenheit oder um eine große Sache handelte.

Adalbert las in dem Buche, das Robespierre ihm geschenkt hatte. Fast ein Jahr war vergangen, und mehr denn ein halbes Dutzend Mal hatte er schon die leidenschaftliche und rührende Geschichte vom edlen Grafensohne Karl Moor gelesen, den die Verruchtheit der Gesellschaftsordnung zum Räuberhauptmann macht und in die böhmischen Wälder treibt. Doch er las sie an diesem Morgen, als sähe er sie zum ersten Male, und wie beim ersten Male war er gepackt von dem Flammenatem der Tragödie und von ihrem Aufschrei nach Freiheit und einer höheren Menschlichkeit. »Das Gesetz hat noch keinen großen Mann hervorgebracht, die Freiheit Kolosse!« …, »Legen wir darum unser Leben auf Würfel – baden darum alle Milzsuchten des Schicksals aus, daß wir am Ende noch von Glück sagen können, die Leibeigenen eines Sklaven zu sein? – Leibeigene, da wir Fürsten sein könnten!« … Er schloß ein paar Sekunden lang die Augen. Wunderbar, wie man überall den Geist Jean Jacques' spürte, wo immer man in dieser Zeit die Hand hinlegte oder spähend horchte! Er ließ das Buch sinken und dachte, wie seltsam das doch war, daß er gerade dies Buch hier in der Fremde von einem Fremden erhalten hatte, daß er und Thurnes nicht schon daheim mit heißen Köpfen über ihm gesessen und debattiert hatten. »Die Räuber«, – ja, er erinnerte sich, daß er es zum allerersten Male in der Hand gehalten hatte, als er heimlich in Thurnes' Zimmer eingebrochen war. Als er damals die Bibliothek des Magisters durchstöberte, war ihm dies Buch in die Hände gefallen, und er hatte auch ein wenig hineingeguckt, es aber bald wieder beiseite gelegt. Das meiste war ihm unverständlich geblieben und obendrein stieß ihn der Titel ab, der einen anderen Jungen wahrscheinlich verlockt hätte, in dem Buche nach wilden Abenteuergeschichten zu suchen. Aber Adalbert war ja nie solcher Junge gewesen, fürchtete von dem Titel eine grausame Geschichte, wie sein wilder Vetter sie liebte, und hatte sich lieber Jean Jaques zugewendet, dessen Theorien ihm klarer vorkamen als der Überschwang der Dichtung. Später, als er erwachsen war, hatte Thurnes freilich ihm das Buch zu lesen gegeben, ihm von der Aufführung in Mannheim erzählt und von der Begeisterung und dem Widerspruch, den es erfahren hatte, aber es war damals für Adalbert doch eben nur ein Schrei nach Freiheit gewesen, während Jean Jaques der Menschheit ein System, ein Universalrezept für Freiheit und Glück gab. Vielleicht auch lag es an der deutschen Luft, an den deutschen Verhältnissen, daß die Tragödie ehedem nicht so auf ihn gewirkt hatte, wie heute, da er im Lande der Erfüllung saß. Das Drama der Freiheit im Lande der Freiheit, – war er nicht ein begnadeter Mensch, daß er dies erleben durfte?! Ein Gefühl tiefen Glücks kam über ihn. Köstlich war dieser Junimorgen, voll Frische und Stille, in dessen Arme die große, unruhige Stadt noch schlummernd lag, erschöpft vom Getöse und den Erregungen, die sie unaufhörlich durchbrandeten und die in wenigen Stunden aufs Neue ihre Nerven anspannen und sie mit der Fieberhitze erfüllen würden, die alle Menschen hier heiß und trunken machte. Jetzt lag sie noch ruhig und tief atmend wie ein Mensch, der von schwerem Tagewerk ausschläft, und in die unentweihte Luft des frühen Morgens stieg leises Vogelgezwitscher aus verschwiegenen Gärten empor. Gegen Ende der Nacht war ein leiser warmer Regen gefallen, der lag jetzt noch wie Tau auf Rasen und Rosenkelchen und wartete, daß die steigende Sonne ihn zu köstlichem Duft verwandeln sollte. Statt ihrer aber kam ein kleiner, neckender Wind, fegte die funkelnden Tropfen von Blättern und Blumenkelchen, daß es rundum naß stäubte und die zwitschernden Vögel sich einen Augenblick lang erschrocken aufplusterten, weil sie fürchteten, daß ein neuer Schauer niedergehen könnte … Alles rundum war friedlich, hell und liebenswürdig, und Adalbert dachte, daß es nichts Schöneres geben könne, als in solcher Morgenstunde mit einem solchen Buch unter Vogelgezwitscher am Fenster zu sitzen. Er wurde auch nicht ungeduldig, als der kleine Wind nun auch ihn zu necken begann und ihm die Blätter des Buches immer wieder verwehte, ja, er mußte lachen über den Kampf, den er mit ihm führte, und in diesem fröhlichen Spiel merkte er kaum, daß die Stadt sich nun zu regen begann, schlaftrunken aus den weichen Armen des Morgens auftaumelte; daß das leise, ferne Brausen anhub, das ihr Morgengruß war. Gemüsekarren rasselten über die Straßen, Zeitungsjungen riefen ihre Blätter aus, Wasserträger schleppten die schweren Bottiche mit Wasser heran, verschlafene Geschäftsinhaber sperrten mit unterdrücktem Gähnen ihre Läden auf. Adalbert kümmerte sich nicht um das, was hinter dem Vogelgezwitscher und jenseits der verschwiegenen Gärten geschah. Er las gerade die Verse, die Amalia zur Laute singt, und war so ergriffen von Hektors Abschied, daß er nicht vernahm, wie das Brausen der Stadt seltsam anwuchs, wie es allmählich einer fernen Meeresbrandung glich, die immer höher und höher steigt. Endlich aber spürte er doch, daß da draußen, in den Straßen, hinter den Gärten wieder die Erregung schlug, die diese Stadt immer wieder und immer häufiger durchtobte, und seufzend legte er das Buch beiseite. O, es war schrecklich, daß diese Stadt nie mehr zur Ruhe, zur wirklichen gesegneten Ruhe kommen konnte! Was sie Ruhe nannte, war immer nur der dämmerige Halbschlaf zwischen Fieberanfällen, denn irgendwo versteckt im Leibe trug sie den Eiterherd, der ihr immer aufs Neue das Blut vergiftete. Er horchte hinaus. Er hörte, wie draußen auf den Straßen eine surrende Menschenmenge durcheinanderwogte, in die grell und gleich wieder vom Stimmengewirr erstickt, die Rufe der Zeitungsverkäufer hineingellten. Was ging da draußen vor? Was war geschehen, was wiederum alle auf die Straße trieb und in Erregung durcheinander hetzte? Da flog auch schon die Türe auf, und herein stürmte Théroigne, erhitzt, zerzaust, mit funkelnden Augen und einer Stimme, die sich überschlug vor Atemlosigkeit und Erregung. Sie sagte nicht »Guten Tag«, reichte ihm nicht die Hand, sondern rief ihm schon von der Schwelle aus heftig entgegen:

»Weißt du es schon? O, es ist unerhört!«

Gewohnt, daß sie fast immer erregt war und immer etwas »unerhört« fand, sagte er lächelnd und mit gutmütigem Spott:

»Guten Morgen, mein Schatz! Guten Morgen zu sagen, scheint mir nämlich mindestens ebenso wichtig wie deine »unerhörte Neuigkeit«!«

Sie machte eine zornig-abwehrende Bewegung mit der Hand.

»Laß die Scherze! Unerhörtes ist geschehen! Er ist fort!« –

Adalbert sah sie verständnislos an.

»Er? Wer ist fort?«

Sie, mit einer großen Geste:

»Er, der Tyrann, der Verräter!«

Adalbert sah sie an und begriff nicht, was ihre Worte bedeuteten. Da sie immer noch stand, führte er sie zu einem Sessel, setzte sie nieder, als wäre sie ein verlaufenes Kind und sagte:

»Liebste, kannst du mir nicht zusammenhängend und deutlich sagen, was du meinst und was geschehen ist? Ich verstehe nämlich keine Silbe von allem, was du da an mich hinschreist!«

Sie schwieg einen Augenblick, als müsse sie Kraft sammeln. Dann kam es überhastet, immer wieder verbrämt mit »der Tyrann« und »der Verräter« heraus: Der König war samt seiner ganzen Familie entflohen.

Adalbert starrte sie ungläubig an.

»Entflohen? Wie sollte das möglich sein?! Die Tuilerien sind doch von der Nationalgarde besser bewacht worden wie irgendein Gefängnis. Und Lafayette –«

Sie unterbrach ihn heftig.

»Lafayette ist ein Verräter. Die Garden sind Verräter! Alle sind Verräter! Wir sind verraten und verkauft von dem größten aller Verräter, – von Ludwig! Dieser Schurke, der nach und nach alles beschworen hat, was man ihm vorlegte, dieser Elende, der sich als Freund des Volkes und der Freiheit aufspielte, hat uns an die Emigranten und an die fremden Mächte verraten. Er ist fort, heimlich fort, er wird die Armee der Emigranten und die Preußen und die Oesterreicher hereinführen, er wird uns alle niedermachen lassen, nur damit er und seine Brut oben bleiben und weiter in Blut waten kann, wie sie es seit Jahrhunderten getan haben!«

Adalbert ließ den ganzen Schwall aufgeregter und unsinniger Worte über sich hinplätschern, ohne zu widersprechen, denn er hörte ihn kaum. Ja, er faßte noch nicht, was geschehen war, und wie es häufig bei großen Ereignissen geschieht, heftete sich seine Aufmerksamkeit zunächst auf Nebensächliches. Die Flucht des Königs erschien ihm im Augenblick nicht so interessant als die Frage, wie sie überhaupt möglich geworden war. Und Théroigne beharrte:

»Sie sind alle bestochen! Sie alle verraten uns und liefern uns ans Messer. Die Königin wartet ja mit ihrem österreichischen Komitee nur darauf, uns durch die Feinde zu verderben. Weil wir frei sind, hassen uns alle andern Länder, die noch in der Sklaverei schmachten. Weil wir frei sind, sollen wir vernichtet werden!«

Zornige Tränen standen in ihren Augen, ihr ganzer Körper bebte vor Erregung und Wut. Adalbert zog sie mit fort auf die Straße.

»Laß uns sehen, ob dies alles wahr oder nur wieder ein Gerücht der Angst ist!«

Er hoffte und glaubte, daß es so sein möchte. Was Théroigne da verkündet hatte, lag ihm jetzt schwer auf dem Herzen, und Gefühle standen in ihm auf, die schmerzhaft und zornig waren wie die ihren, und von denen sie doch nichts verstanden hätte, ja, die er selber kaum verstand und nicht verstehen wollte …

Als sie auf die Straße kamen, wurden sie von dem brausenden Menschenstrom gleich mit fortgerissen, ohne daß es ihnen möglich gewesen wäre, eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Um sie her wogte und brandete und surrte und brüllte und gestikulierte es beinahe wie beim Bastillensturm; alle Gesichter waren erhitzt, zornig oder ratlos, und jeder sagte irgend etwas Unsinniges, dem ein anderer heftig widersprach, um noch Unsinnigeres von sich zu geben. Nur ein Schrei, ein Wort war allen geläufig und schuf in dieser brausenden Masse von Tausenden eine Zusammengehörigkeit: »Der Verräter!« Was Théroigne vorhin geschrien hatte, das schrieen jetzt alle, denn alle waren überzeugt, daß jeder, vom König bis zum letzten Nationalgardisten, sie verraten hatte oder verraten würde, und sie steigerten sich in einen Wahnsinn der Angst hinein, daß sie nichts anderes mehr wußten und dachten als »Verrat!«. Tausende hatten zuerst die Straßen erfüllt, nun wurden es Zehntausende, Hunderttausende, und diese zornflammende, von Angst gepeitschte Menge wälzte sich nach den Tuilerien, ohne zu wissen, was sie eigentlich wollte, zügellos, führerlos, nur von dem Gefühl getrieben, den Ort zu sehen, zu durchwühlen, an dem der große Verrat geschehen war. Lafayette kam, glänzend und mit heldischer Geste wie immer, aber sein Gesicht war nicht weniger ratlos als das der andern, die ihn alsbald mit Schimpfworten und »Verräter« überhäuften. Und Bailly kam, der stolze Bürgermeister, der sich geweigert hatte, vor dem König zu knien, und dessen schlotternde Knie heute nicht übel Lust zu haben schienen, sich vor dem Tiergesicht demütig zu beugen. Aber auch seine Demut und seine sichtliche Angst halfen ihm nichts, denn die Menge drang auf ihn ein wie auf den glänzenden Lafayette, und nun begannen auch die Sturmglocken zu läuten, der Generalappell wirbelte, Kanonenschläge erdröhnten … Die Läden, die sich kaum geöffnet hatten, wurden wieder geschlossen, – alles schien sich auf einen großen Sturm vorzubereiten. Immer lauter heulten die Sturmglocken, wirbelte der Generalappell, dröhnten die Kanonen … Die Gerüchte, die von Mund zu Mund gingen, wurden immer toller und immer eifriger geglaubt. In den Tuilerien floh alles entsetzt vor der grauenhaften Menschenwoge, die sich heranwälzte. Die Lakaien rissen sich die Livreen vom Leibe und entkamen durch geheime Gänge und Treppen, die Beamten entwichen nicht minder schnell als das Gesinde, – herrenlos, schutzlos war das Königsschloß der Menge preisgegeben. In den Sälen, über deren Lilienparkett bis jetzt nur die Seidenschuhe der Damen, die roten Absätze der Hofherren geschritten waren, stampften jetzt Gemüseweiber, Wasserträger, Arbeiter, Gesindel aller Art, und auf dem Prunkbett der Königin bot ein dickes Obstweib Kirschen zum Verkauf aus. Gedrängt, geschoben, fortgewirbelt von der Masse, sah Adalbert, an dessen Arm Théroigne hing, dies alles an. Sah, wie man hinter einem Schrank in Madame Elisabeths Zimmer die Geheimtreppe entdeckte, die die Flucht möglich gemacht hatte, hörte um sich her den Angstschrei:

»Die ganzen Tuilerien sind durch Geheimgänge unterminiert; durch die man die Feinde zu uns hereinführt!« und er wehrte nicht einmal ab, als Théroigne in ihrer aufgeregten Art rief: »Ehe vierundzwanzig Stunden vergehen, stehen die Preußen hier!«, obwohl diese Behauptung so töricht war, daß er sie ihr zu anderer Stunde verwiesen, oder darüber gelacht hätte. Jetzt aber dachte er gar nicht an sie, ließ alles, was gesagt, vermutet, geschrien wurde, an seinem Ohr vorüberrauschen und zuckte nur zuweilen nervös mit den Augenbrauen, wenn Théroignes Phrasen immer lauter und heftiger wurden. Nicht nur das Gebaren sondern auch das Empfinden der Menge um ihn her blieb ihm fremd, denn ganz anders als sie alle fühlte er, daß hier etwas Ungeheuerliches geschehen war. »Ein König, der flieht! – war dieser Gedanke überhaupt auszudenken?! War denn Königtum eine Prätorianerherrschaft, die vor Prätorianern zitterte und ihnen in der Stunde der Gefahr feige entwich?! Ein König läuft seinem Volke nicht davon, bezwingt es oder stirbt, wenn es sich gegen ihn erhebt, mit dem Schwerte in der Hand, auf der Schwelle seines Palastes, – aber ein König flieht nicht. Ein König, der flieht, ist kein König mehr. Ein König, der flieht, hat nie verdient, König zu sein!«

Er dachte es, empfand es und kam sich doch selber wie ein Verräter vor. Was fiel ihm nur ein, daß er Gedanken über Königtum und Königsehre hinspann, da doch im neuen Staate der König nichts anderes sein sollte und durfte, als der erste Bürger. Warum fühlte und schrie er nicht gleich den anderen: »Der Verräter!« sondern dachte voll Zorn und Verachtung in seinem Herzen: »Ja, Verräter, – Verräter an sich und seiner Würde!« Er wollte nicht länger auf die Stimme seines Innern hören, die allem widersprach, was er bis jetzt beschworen hatte. Er wollte wieder Bürger unter Bürgern sein und sagte zu Théroigne:

»Laß' uns zu Robespierre gehen!«

Aber Robespierre war schon in die Nationalversammlung geeilt, die ja zu dem unerwarteten Ereignis Stellung nehmen mußte. Unterwegs aber trafen sie Thurnes, der sehr aufgeregt, sehr zornig und auch freudig gestimmt war. Er umarmte Adalbert, legte für einen Augenblick seinen Kopf an dessen Schulter:

»Es ist furchtbar! Eine solche Schurkerei geht über alle menschlichen Begriffe hinüber!« Ehe Adalbert noch ein Wort erwidern konnte, hob Thurnes schon wieder den Kopf und rief mit seltsamem Glanz in den Augen:

»Aber glaube mir, es ist nur ein Übergang! Ein schrecklicher Übergang, der aber zur wahren Freiheit führt! Bisher waren wir noch gar nicht frei, wir meinten nur, es zu sein. Jetzt aber kommt die wahre Freiheit, jetzt kommt die Republik!«

Sie gingen gemeinschaftlich auf die Galerie der Nationalversammlung, hörten, wie der Präsident die Flucht des Königs verkündete, und wie die verschiedenen Abgeordneten mit Anträgen und Dekreten antworteten. Einmal stand auch Robespierre auf und sprach: »Ein König, der flieht, darf nicht anders behandelt werden, als jeder andere Bürger, der sich des Landesverrats schuldig macht! Die Familie, die ihm gefolgt ist, hat keinen Anspruch auf größere Rücksicht als irgend eine andere Bürgersfamilie, die einem Landesverräter anhängt!« Die schwache Stimme Robespierres klang fester, metallischer als an anderen Tagen. Adalbert lehnte sich weit über die Brüstung, denn ihm schien, als habe er Robespierre nie so gesehen, wie heute. Auf dem fahlen Armutsgesicht lag es wie feuriger Widerschein, und die verschwommenen, kurzsichtigen Augen gingen in die Ferne und schienen etwas zu erblicken, was keiner rundum sah und ahnte … In einer kleinen Sitzungspause suchte Adalbert ihn auf und versuchte, in ihm den wieder zu finden, der er sonst gewesen, aber Robespierre war seltsam abwesend und in sich versunken und dachte offenbar ganz andere Dinge, als er sprach. Der feurige Widerschein aber wich nicht von seinem Gesicht. Es war, als ob jählings in seinem Innern eine Flamme aufgesprungen wäre, die er unter scheinbarer Gleichgültigkeit und Gelassenheit zu verbergen suchte, eine Flamme, die sein Gesicht nicht rötete und dennoch unheimlich machte …

Die allgemeine Ratlosigkeit war immer noch groß, beinahe größer noch als Zorn und Angst, denn wenn auch alle in der Versammlung wie auf der Straße forderten und schrien, daß man den Flüchtlingen nachsetzen müsse, so wußte doch niemand, wer den Befehl zu solcher Verfolgung geben sollte, denn niemandem stand schon heute dieses Recht zu. Immer noch war der König der König, auch wenn er heimlich die Stadt verließ, hatte niemand Vollmacht, hinter ihm herjagen zu lassen. Aber Lafayette machte in Eile einen kleinen Staatsstreich, nahm sich die Macht, die keiner ihm geben konnte, sandte in Eile nach allen Richtungen hin Nationalgarden aus, und kaum zwei Tage später wurde der Nationalversammlung gemeldet, daß die königliche Familie vom Postmeister in Varennes erkannt und aufgehalten worden sei. Unverzüglich entsandte die Versammlung aus ihrer Mitte drei Kommissäre, um die Flüchtlinge heimzubringen, und wieder einmal war Frankreich von Verrat gerettet … –

Théroigne sagte:

»Wir wollen nach den Tuilerien gehen. Wir wollen die Verräter ankommen sehen!«

Er aber wehrte entschieden ab. Mochte sie allein gehen, wenn es ihr Freude machte, er aber wollte nicht dastehen und gaffen, wenn ein königliches Haupt wie ein Gefangener von seinem Volke zu seinem Volke zurückgebracht wird. Théroignes Augen blitzten.

»Bist du ein Aristokrat?«

Er schüttelte mit trübem Lächeln den Kopf.

»Nein, Liebste, ich bin keiner oder wenigstens nicht so, wie du es meinst!«

»Soll das vielleicht heißen, daß ich dich nicht verstehe?«

»Doch, du verstehst mich schon, wenn vielleicht auch nicht gerade heute. Geh nur allein, ich bin müde von den Aufregungen dieser letzten Tage!«

Er blieb allein, verbarg das Gesicht in den Händen, war den Tuilerien fern und wußte doch genau, was sich dort abspielen würde. Sah im Geist das grauenhafte Geleit zerlumpten Gesindels, das den königlichen Kutschen von allen Landstraßen her nachlief, sah das phlegmatische Gesicht Ludwigs, das hochmütige Marie Antoinettes, und wußte, daß sie wieder einen Blick voll unsagbarer Angst vor dem Tiergesicht wechselten. Er hörte das Brausen der Menge, die sich vor den Tuilerien staute und dann die quälende, unheimliche Stille, als die königlichen Kutschen vor dem Schloß vorfuhren. Von Schrecken und Zweifel erfüllt, lauschte er gespannt, ob nicht ein wilder Schrei der Straße verkünden würde, daß Blutiges geschehen war, aber alles blieb ruhig, und er merkte, daß die Menschen sich nach und nach verliefen und wieder wie an andern Tagen ihren Geschäften nachgingen. Er aber blieb mit dem Gesicht in den Händen und war einsam, wie er es fast immer in seinem jungen Leben gewesen war. Wie gerne hätte er mit den hunderttausend Zornmütigen gerufen: »Der Verräter!«, wie gerne auch mit den paar tausend Mitleidigen leise geklagt: »Die armen Menschen!« Zorn und Mitleid hatten aber jetzt keine Macht über ihn. In ihm war ein unlösbares Gefühl, das die andern nicht kannten und nicht verstanden hätten, ein Gefühl, das ihn abtrennte und mit sich selber zerfallen machte.

Adalbert und Thurnes wanderten, wie sie in früheren Tagen gewandert, da sie noch Schüler und Magister gewesen. Vielleicht sahen sie ein wenig wie deutsche Studenten aus, denn sie trugen einfache Kleider, denen auch Staub und Regen nichts geschadet hätten, trugen ein Ranzel mit allerlei Proviant auf dem Rücken und gingen mit großen festen Schritten dahin. Ihre Gesichter waren fröhlich, und ihre Augen glänzten wie in Erwartung, obwohl sie immer wieder den Weg absuchen mußten, der sich als schlechte, ungepflegte Landstraße dahinzog, mit tiefen Löchern und Rinnen, die Regen und schwere Fuhrwerke gegraben hatten. Zuweilen schlich ein Abkürzungspfad zwischen Gesträuch und Unterholz dahin, aber er sah wenig verlockend aus und mochte nachts für allerlei Gesindel einen passenden Standort bilden, von dem aus man Reisende oder Heimkehrende vorteilhaft überfallen konnte, ohne Gefahr zu laufen, daß irgendjemand die Schreie des Opfers hörte. Bei Tag war solcherlei weniger zu fürchten, denn diese Straße nach Plessis-Belleville war nicht ganz einsam. In Plessis-Belleville gab es ja große Bauernhöfe, von denen trotz Mißwachs und Teurung allerlei Boden und Sendungen nach der Hauptstadt gingen. Thurnes sagte:

»Das war eine gute Idee von dir, diese Wanderung nach Plessis-Belleville vorzuschlagen. Da man wieder einmal ordentlich marschiert, merkt man erst, wie verhockt man in all den Jahren geworden ist!«

Adalbert nahm den Hut vom Kopfe und ließ sich den warmen Wind um die Stirne wehen. Er atmete tief und gleichsam erleichtert.

»Ja, es tut gut, zu marschieren und einmal nichts von alledem zu hören, was einem dahinten (er wies mit einer Kopfbewegung die Richtung von Paris) tagaus, tagein in die Ohren tönt. Man muß einmal heraus, man muß wieder einmal zurück zum Anfang. Ich bin wirr von all dem Lärm der letzten Zeit. Ich habe das Gefühl, als ob man sich selber verlieren müßte, wenn man nicht einmal greifbar zum Urevangelium zurückkehrt. Ich glaube, auch Jean Jacques hätte diese letzten Tage nicht miterleben können, ohne –«

Er brach ab.

Thurnes entgegnete nichts. Er musterte die Gegend, die sie durchschritten, die kleinen, verwahrlosten Bauernhäuser mit spärlichen Wiesen und schlecht bestellten Feldern, die wiederum, wie in so vielen Jahren, nach Mißwuchs aussahen. Da und dort erhob sich in weitem Park gebettet ein Schloß oder ein vornehmes Landhaus, dessen Besitzer vermutlich vor der Revolution geflohen waren. Die Fenster mit den dicht geschlossenen Läden glichen Augen, die Schrecken oder Tod verlöscht hatte.

Die beiden waren seit frühester Morgenstunde unterwegs, denn sie wollten noch vor Mittags in Plessis-Belleville sein. In diesen kleinen Weiler hatte sich Madame Rousseau zurückgezogen, und es war Adalberts Gedanke gewesen, die ehrwürdige Witwe des hochverehrten Mannes aufzusuchen. Erst kürzlich hatte er ihren Aufenthalt erfahren, und nun drängte es ihn sie zu sehen, die Jean Jacques wert erachtet hatte, seine Gefährtin zu sein, sie, die sein zerquältes Dasein mit der Güte und dem Verständnis eines einfachen, starken Herzens erwärmt hatte. Thurnes war gleich dabei gewesen, als Adalbert ihm von der Wanderung nach Plessis-Belleville sprach, und sie hatten gemeint, daß auch Robespierre sich gerne ihrer kleinen Wallfahrt gesellen würde, doch er schien kein Interesse daran zu nehmen. Auf Adalberts Frage, ob Jean Jacques Kinder gehabt und ob sie vielleicht bei der Mutter lebten, gab er zerstreut und etwas ungeduldig Antwort, daß er darüber nichts wisse. Er begriff den Gedankengang Adalberts nicht. Jean Jacques war der Vater des » Contrat social«, – weiter brauchte man nichts von ihm zu wissen. Frau und Kinder waren eine Wirklichkeit, die nicht zum » Contrat social« gehörten und also für den Abgeordneten aus Arras nicht in Betracht kamen. Er war jetzt auch mit schweren, politischen Angelegenheiten beschäftigt. Es galt zu erörtern, ob die Flucht des Königs als wirklicher Landesverrat zu betrachten und Ludwig also unter Anklage zu stellen sei. Das Für und Wider wurde in allen Klubs und Cafés leidenschaftlich erwogen. Bei den Jakobinern, deren Einfluß auf die Nationalversammlung wie auf die breite Masse immer stärker geworden war, herrschte sowohl auf dem rechten wie auf dem linken Flügel die Ansicht, daß Ludwig vor einem Gericht zur Verantwortung gezogen werden müsse. Man schien in diesem Punkt einer Meinung zu sein, aber das Mißtrauen, das unaufhörlich in der Stadt umging, begann auch jetzt die Jakobiner in zwei Parteien zu teilen, und der linke Flügel mißtraute dem rechten und meinte, dessen Empörung gegen den König sei nur Komödie, hinter der sich Machtgelüste und, sobald die Zeit reif sein würde, Verrat bargen. Auf dem rechten Flügel stand Roland mit all seinen Anhängern und dem ganzen Salon seiner Frau, und auch Thurnes gehörte zu ihnen, denn ihre Bestrebungen kamen seinem Philologenideal nahe, das ihn, ohne daß er es wußte, nie völlig aus den Klauen gelassen hatte. Der linke Flügel, der immer mehr unter die Führung Marats geriet, bestand zum größten Teil aus Realpolitikern, die genau wußten, was sie wollten und meinten, wenn sie »das souveräne Volk« sagten. Das souveräne Volk war für sie das Tiergesicht, das man zum Aufruhr treiben, auf die Adligen und Besitzenden hetzen, zu Gewalttaten hinreißen, aber auch (so meinten sie) nach Belieben zur Ruhe bringen und gängeln könne, sobald er, der es geführt hatte, sich zum Herrn aufschwang. Der rechte Flügel dagegen dachte, wenn er »das Volk« sagte, an eine ungeheuer edle Gemeinschaft aus vollkommenen Menschen, die, jeder Gewaltherrschaft entwachsen, eine Republik bilden müßte, wie sie nach ihrer Ansicht im alten Rom, in Wahrheit nie und nirgendwo existiert hatte. Es war das republikanische Ideal gebildeter, wirklichkeitsfremder Köpfe, und so verstand es sich eigentlich von selbst, daß Thurnes begeistert war für diese Republik, die sie herbeiführen wollten und die sich leider schon allzulange verzögert hatte. Auch Adalbert gehörte in gewisser Hinsicht zu diesem rechten Flügel, denn ohne daß er es mit Verstandesgründen hätte belegen können, wußte er seit der Flucht des Königs, daß die Monarchie nicht mehr zu retten war, daß die Republik kommen mußte, weil der Träger der Krone sich an jenem unseligen Junitage selber aufgegeben hatte. Ja, sie mußte kommen, und es schmerzte ihn, daß sie nicht so schön und erhaben kam, wie er sichs gedacht und wie er es für sein Ländchen in jenem versiegelten Schreiben festgelegt hatte. Warum nur mußte hier alles mit Aufruhr und Härte geschehen? Warum war Ludwig zu schwach gewesen um sich zu behaupten und zu schwach um zu entsagen? Warum fehlte trotz aller Schwüre und Bruderküsse zwischen ihm und seinem Volke das tiefe Vertrauen, das ihnen die Konstitution hätte geben sollen? Er wußte es nicht und wenn er an irgendeinen diese Frage richtete, erhielt er immer nur die zorndurchbebte Antwort: »Weil Ludwig ein Verräter ist!«

Auf welcher Seite des Klubs Robespierre stand, war schwer zu entscheiden. Er verabscheute alles, was Zügellosigkeit und Gewalt hieß, blickte aber auch mit stummer, unverkennbarer Mißachtung auf den rechten Flügel und dessen republikanisches Ideal. Der feurige Widerschein war von seinem Gesicht geschwunden, das wieder fahl und ärmlich aussah, wie an früheren Tagen. Doch die verschwommenen, kurzsichtigen Augen blickten eigensinnig in die Ferne, und man spürte, daß er mit Gedanken beschäftigt war, die er in sich verschloß. Eleonore, deren Liebe ihn umbreitete, ohne daß er es wissen wollte, wußte voll Sorge, daß das Licht in seinem Zimmer erst erlosch, wenn der Morgen kam, und daß er zwischen seiner Arbeit aufgeregt im Zimmer hin und her ging, mit sich selber sprach und zuweilen, wie überwältigt von einem schrecklichen inneren Kampf, stöhnend auf einem Sessel zusammenbrach …

Thurnes und Adalbert sprachen an diesem Morgen kaum von all den Ereignissen und Problemen, die sonst ihren Tag ausfüllten. Sie kamen sich vor wie ein paar Schüler, die dem Kolleg entlaufen waren, nun die Stunden genießen wollten, die sie sich keck geraubt hatten. Thurnes' Genußfähigkeit schien zwar bald zu erlahmen, sein Gesicht wurde ernst, und zu Adalberts Staunen begann er sich ihm zu eröffnen. Er fühlte sich in seiner wilden Häuslichkeit nicht mehr glücklich. Die »Feuerseele« war für die Dauer doch zu ungebändigt, zu aufgeregt, zu sehr »Weiberzug nach Versailles«.

»Man kann es auf die Länge nicht aushalten! Weißt du, es berauscht einen zuerst, wenn man von daheim kommt und die blonden, langweiligen Mädels gewöhnt ist, die nicht Piep sagen können und alles nachbeten, was man ihnen vorsagt, – aber für Monate, für Jahre, – uff, nein, ich kann nicht mehr! Ich habe zu Hause keine ruhige Stunde! Immerfort muß sie auf die Straße laufen, oder in eine Versammlung oder Sturm läuten. Auf jedem Butterbrot bekomme ich ein »Dekret«, und in jeder Suppe schwimmt ein »Verräter«! Ich werde verrückt, wenn das noch lange fortgeht. So was mag gut sein in stillen Zeiten, wenn alles rundum friedlich ist und man sich freut, im Hause Motion und Temperament zu finden, – aber in Tagen wie den unsrigen, braucht man eine stille Häuslichkeit und eine Frau, die eine Frau ist und nichts will als ihren Mann und ihre Kinder!«

Adalbert lächelte verstohlen und dachte: »Trotz allem und wenn du auch Brutus heißt, bist du doch der richtige Pastorensohn geblieben!« und dann dachte er an seine Liebste, die ja auch vom Schlag der Feuerseele war und die er liebte, wie am ersten Tage, gerade weil sie anders war als die blonden, demütigen Mädchen seiner Heimat. Und Thurnes fuhr fort zu sprechen und kam ins Schwärmen. Er hatte eine andere kennen gelernt, eine ehemalige Nonne, die nun, da die Klöster aufgehoben waren, heimatlos geworden und nicht recht wußte, was sie mit der neuen Freiheit anfangen sollte. Ein junges, blühendes Ding, das irgendeine grausame Hand in die Zelle gestoßen hatte, und das nun durstig und in holder Verschämtheit langsam die Freuden zu kosten begann, die ihm so lange verboten gewesen waren. Angelica hieß sie, und ein Engel wurde sie in Thurnes' Berichten, der nicht genug ihren Reiz, ihre Süße und ihr mädchenhaftes Wesen rühmen konnte, das so stark von Louison abstach. Er liebte sie, und auch sie war ihm gut und wäre ihm gerne als Frau oder Gefährtin gefolgt, aber bis jetzt hatte er nicht den Mut gefunden, mit Louison zu brechen, deren Eifersucht schon auf der richtigen Fährte war und ihm täglich schreckliche Szenen bereitete. Ingrimmig sprach er:

»Ich wollte, ich hätte dieses Weib nie gesehen! Der Teufel muß mich geritten haben, als ich sie zu mir nahm! Aber ich werde ein Ende machen, so oder so; Angelica heißt der Stern meines Lebens, ohne Angelica kann ich nicht leben, bin ich kein Mensch mehr!«

Adalbert entgegnete nichts. Er verstand diese plötzliche Sinnesänderung des Freundes nicht und nicht, wie einer zu Pastorenidealen zurückkehren konnte, der einmal das Glück genossen hatte, in der Frau nicht nur ein Weib, sondern auch eine leidenschaftliche Gefährtin zu haben …

Sie näherten sich jetzt auch Plessis-Belleville, das aus etlichen großen Bauernhöfen und einer bescheidenen Anzahl behäbiger Bürgerhäuser bestand, und Adalberts Gedanken waren jetzt weder bei Louison noch bei Angelica, sondern versuchten sich ein Bild von der Frau zu machen, die Jean Jacques' Gefährtin gewesen war. Eine ehrwürdige, dem Greisenalter schon nahe Matrone mußte sie wohl sein, einfach und stark wie die Natur selbst, ganz in Erinnerung versunken an die Jahrzehnte, die sie mit ihm gelebt hatte, ganz eingehüllt in den Kultus ihres großen Toten … Überall in ihrem Zimmer mußten Bilder und Silhouetten drängen, die ihn zeigten; der Spitzwegerichbüschel, den seine erkaltende Hand gehalten hatte, würde unter Glas und Rahmen stehen, und frische Blumen davor, von der Witwe und mit einer frommen Träne betaut. Bücher und Manuskripte von seiner Hand ruhten wohl gleich Heiligtümern in verschlossenen Laden, und alles, was er je berührt, stand und lag, als könne er jeden Augenblick zur Türe hereinkommen. Vielleicht lebten sogar die paar Vögel noch, deren er an seinem letzten Tag gedacht hatte! Aber nein, das war wohl nicht möglich, denn Vögel werden nicht so alt …

Nach einigen Fragen und Irrgängen hatten sie das Haus ausgekundschaftet, in dem Jean Jacques' Gefährtin ihre alten Tage verbrachte. Adalberts Herz klopfte stärker, als sie die Schwelle des bäuerlich aussehenden, kleinen Anwesens überschritten, das man ihnen als die Wohnung von Madame Rousseau bezeichnet hatte. Es lag dicht an der Straße, durch einen grünen Zaun, der ein Mittelding zwischen Garten und Hof umschloß, von ihr abgetrennt. Ein noch junger Mensch stand in Hemdsärmeln, das Hemd über der Brust offen, im Hof und sägte Holz. Adalbert fragte sich einen Augenblick lang, ob dies vielleicht ein Sohn Jean Jacques' sei, und es hätte ihm nicht übel gefallen, den Sproß des großen Naturverkünders bei solch schlichter Arbeit zu finden; aber als er den jungen Menschen näher ansah, sagte er sich, daß dies unmöglich Rousseau'sches Blut sein könne. Der Mann, der da Holz sägte, sah trotz seiner vernachlässigten Arbeitskleidung wie ein ehemaliger Lakai aus, und ein Lakaiengesicht voll Brutalität war es, das sich jetzt von der Säge hob und die Fremden ansah; Lakaiengewandtheit öffnete ihnen die Türe und meldete sie bei Madame Rousseau. Adalbert wußte jetzt erst recht nicht, welche Stellung er diesem Manne anweisen sollte, denn Rousseaus Gefährtin war doch schwerlich in der Lage, einen Herrschaftsdiener zu halten, ganz abgesehen davon, daß es gegen Jean Jacques' Grundsätze verstoßen hätte …

Nun standen sie vor ihr, verneigten sich tief wie vor einer Königin, und Adalbert wollte die Hand küssen, die sie ungeschickt und verlegen nach Bäuerinnenart in den Falten ihres Kleides versteckte. Sie mochte an sechzig sein, war schwer von Gestalt und Gesicht, wie Frauen, die viel gearbeitet und wenig gedacht haben, war gekleidet wie eine Kleinbürgerin mit Brusttuch, Schürze und steifer Haube. In mürrischer Verlegenheit bot sie den fremden Gästen Platz an, rieb immerfort die Handflächen gegen die Knie, denn sie wußte nicht, was die beiden eigentlich von ihr wollten und was sie mit ihnen sprechen sollte. Eine peinliche Pause entstand. Adalbert ließ die Blicke im Zimmer umhergehen, dessen Einrichtung Kleinbürgerlichkeit atmete wie seine Bewohnerin. Es hingen wohl ein paar Bilder Jean Jacques' da, sonst aber war hier nichts von ihm oder von Erinnerung an ihn zu spüren. Auf alle Fragen, die ihn, sein Werk und sein Leben betrafen, gab sie ungeschickt und, wie es schien, ungern Antwort, und man merkte ihr an, daß sie eigentlich von dem Manne, mit dem sie fast dreißig Jahre gelebt hatte, kaum anderes wußte, als daß er viel geschrieben, wenig verdient und immerfort an Verdauungsstörungen gelitten habe. Adalbert fragte teilnehmend:

»Sie leben ganz allein, Madame? Haben Sie keine Familie, keine Kinder?«

»Kinder?« Sie glotzte ihn dumm an, als spräche er von böhmischen Dörfern. Wiederholte: »Kinder? Nein, ich habe keine Kinder!«

Schüchterner fragte Adalbert, ob die Ehe stets kinderlos gewesen oder ob Madame schmerzliche Todesfälle zu verzeichnen gehabt hätte.

Sie entgegnete:

»Nein, gestorben ist, glaube ich, keines. Ich habe so Stücker fünf, sechs gehabt, aber er hat sie immer gleich ins Findelhaus gegeben!«

»Ins Findelhaus!«

Adalbert war erschüttert und bestürzt. Erholte sich erst ein wenig, als Thurnes, der seine Bestürzung sah, begütigend erläuterte:

»Jean Jacques vertrat ja die Ansicht, daß die Kinder nicht den Eltern, sondern dem Staate gehören. Also –«

In Adalbert aber klang es nach »ins Findelhaus«, und er wußte nicht, ob er diese Frau bemitleiden sollte, der ein Mann jedesmal das Neugeborene von der Brust gerissen hatte, oder ob er sie verabscheute, weil sie sich's hatte gefallen lassen und jetzt von den Kindern sprach, als zähle sie im Geiste einen Stallbestand auf.

Wieder entstand eine peinliche Pause. Dann öffnete sich die Türe, und der junge Mensch, der vorhin Holz gesägt hatte, spähte herein, als wollte er durch sein Kommen dartun, daß es für die Fremden Zeit sei zu gehen. Er war jetzt einfach und tadellos gekleidet, und mehr noch als zuvor merkte man seiner Haltung, seinem Wesen, das ein Gemisch von Unterwürfigkeit und Keckheit war, den ehemaligen Lakaien an. Jean Jacques' Witwe wandte sich zu ihm und sagte:

»Kommen Sie herein, Herr Bally! Die Herren wollen einiges über Jean Jacques wissen!« Und sich zu den beiden wendend: »Das ist Herr Bally, mein Vertrauensmann, der so freundlich ist, meine Geldangelegenheiten zu besorgen. Er war früher im Hause des Marquis von Girardin und hat dort gelernt, wie man solche Sachen macht.« Weinerlich werdend: »Was täte ich arme, alte Frau, wenn ich nicht jemand hätte, der mir mein bißchen Geld zusammenhält und verwaltet!«

Die Stellung Herrn Ballys war den beiden noch unklarer als zuvor, doch spürten sie keine Lust mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen. Auch ihm sah man Mißbehagen, ja sogar eine gewisse Betretenheit an, und immerfort lag sein graues, keckes Auge mit einem Bändigerblick auf der alten Frau, als fürchtete er, daß sie irgendetwas sagen oder verraten könne.

Adalbert fiel dieser Bändigerblick auf, und von dem Gesicht des Lakaien weg blickte er in das Gesicht der Frau, die dreißig Jahre lang Jean Jacques' Gefährtin gewesen war. Was er da sah, erfüllte ihn mit Entsetzen. Die alten, trüben Augen der Frau ruhten begehrlich auf dem brutalen Gesicht des jungen Lakaien …

Angewidert erhob sich Adalbert unvermittelt, und Thurnes tat es, nicht ohne Erstaunen, ihm nach, denn er konnte nicht gut allein zurückbleiben. Sie verabschiedeten sich höflich, aber ohne die tiefe Ehrfurcht, mit der sie eingetreten waren. Herr Bally machte eine Bewegung, als ob er jedem die Hand reichen sollte; aber Adalbert tat, als sähe er die Bewegung nicht. Schweigend gingen sie nach der kleinen Schenke, in der sie schon vorhin ein Mahl bestellt hatten. Schweigend und nachdenklich saßen sie einander gegenüber. Schweigend und ein wenig beschämt schlugen sie den Heimweg ein …

*


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