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12. Kapitel.

Als die Schlacht von Valmy die Scharten von Longwy und Verdun ausgewetzt hatte und die französischen Armeen durch ihren verzweifelten Willen zur Republik und zum Siege unüberwindlich schienen, trat in Adalberts Gemach eines Tages ein Mann, den er zunächst nicht erkannte. Er hatte einen Stelzfuß, und das linke Auge war wohl ausgeschossen, denn eine schwarze Binde lief, es verdeckend, quer über die Stirn. Eine Minute lang sah Adalbert den Fremden mit fragendem Blick an, dann erkannte er ihn, stürzte auf ihn zu, umarmte ihn leidenschaftlich:

»Thurnes – du! Wie lange habe ich nichts von dir gehört, und wie glücklich bin ich, daß du lebend heimgekommen bist!«

»Jawohl, Brutus lebt nach wie vor. Ein bißchen ramponiert allerdings (er deutete auf sein hölzernes Bein und die schwarze Binde), aber er lebt, und er hofft, noch lange zu leben, um für die Republik zu wirken. Womit ich aber nicht sagen will, daß ich nicht mit derselben Freude für sie gefallen wäre, denn » Dulce et decorum est pro patria mori!«

Adalbert sah ihn lachend und ein wenig neidisch an. Er beneidete alle, die sich mit dieser Inbrunst, diesem Überschwang dem neugefügten Staat hingeben konnten. Er hatte Thurnes beneidet, als dieser sich unverzüglich bei der revolutionären Armee als Freiwilliger gemeldet hatte und mit einer Begeisterung gegen die Feinde ins Feld zog, als wäre seine Wiege nicht in deutschen Landen sondern an der Seine gestanden. Er beneidete Cloots, den ewig-aufgeregten Cloots, der auf eigene Kosten ein Korps ausgerüstet hatte, um es gegen das »feindliche und barbarische Preußen« kämpfen zu lassen … Wie glücklich waren diese beiden, wie harmonisch ward ihnen Sehnsucht und Erfüllung! Sie gaben sich dem fremden Lande hin, als könnte es nicht anders sein, während ihn ein innerliches Etwas immerfort zurückhielt … Vergebens, daß er sich selber klar zu machen suchte, wie widersinnig es sei, die Freiheit zu lieben und ihr dennoch keine Opfer bringen zu wollen, vergebens, daß er sich die Zeit zurückrief, da es sein Traum gewesen, Bürger unter Bürgern zu sein, – er konnte, nein, er konnte den Fremden nicht sein Blut und auch nicht Söldnersold bieten, um deutsches Blut zu bekämpfen. Was half's ihm, daß er sich selber schalt, weil er die Verkünder der Freiheit »Fremde« nannte? Etwas in ihm war stärker als alle Philosophie und alle Vernunftgründe und fiel ihm in den Arm, wenn er hingehen und tun wollte wie Cloots oder Thurnes …

Er sah Thurnes an. Wie hatte er doch eben gesagt? » Dulce et decorum est pro patria mori.« Glückseliger Philologe und Philosoph! Es schien ihn kaum zu kümmern, daß er zum Krüppel geschossen worden war, und Adalbert hätte sich nicht gewundert, wenn auch jetzt seine Lieblingsredensart gekommen wäre: »Es ist nur ein Übergang!« Doch nein! Die Gegenwart war für ihn kein Übergang mehr, sondern erreichtes Ziel, gelobtes Land, Himmel auf Erden …

Er war begeistert von Siegen, begeistert von den heimatlichen Zuständen. Pries Dantons immer wachsende Popularität, pries Marats immer blutrünstiger werdenden Radikalismus.

»Hauptkerle die beiden! Die soll uns das Ausland einmal nachmachen! Fehlt nur noch unser Robespierre, der zu bescheiden ist, sich immer zu sehr im Schatten hält! Aber wir wollen ihn schon herausholen und ihn an den Platz stellen, an den er gehört! Was meinst du dazu, Herzensjunge und Freiheitskamerad!?«

Adalbert nickte. Thurnes ärgerte sich ein wenig über die Kühle seines ehemaligen Zöglings, schwärmte aber gleich weiter von dem neuen Paradies, das dem souveränen Volk gehörte, das sich das souveräne Volk erkämpft hatte. Kein Tyrann mehr, sondern der Konvent regierte, das heißt, das souveräne Volk regiert sich selbst! Keinen überflüssigen Krimskrams mehr in Kleidung, Rede und Formen! Nichts mehr von »Monsieur« und »Madame«, kein »Ergebenst« mehr, sondern »Bürger« – »Du« – »Deinesgleichen« … Keine Escarpins und Wadenstrümpfe mehr, keine geschniegelte Frisur mehr und keine affektierten Jabots, für die man der Wäscherin ein Heidengeld zahlen muß! Des Volkes lange Hose, die man sogar ohne Strümpfe tragen kann, den freien Hals, den Schlapphut und den dicken Knotenstock, so mag ich den freien Bürger sehen! Sansculottentracht – Ehrentracht! Mein Lebtag will ich keine andere mehr tragen!«

Eine neue Woge der Bewunderung brach aus ihm hervor. Hymnen auf das Revolutionstribunal, das mit den »Verrätern« tabula rasa machte! Hymnen auf die »Ausschüsse« und »Komitees«, die sich allmählich über die Stadt ausbreiteten und fast täglich vermehrt wurden! Hymnen auf die neue Zeitrechnung und auf den neuen Kalender, der in Vorbereitung war! Hymnen auf alles, was die Republik getan, tat, und noch zu tun plante!

Adalbert hörte seinen Überschwang nur mehr mit halbem Ohre und betrachtete dafür den Freund mit um so größerer Aufmerksamkeit. Thurnes hatte sich auch äußerlich schon merklich zu sansculottischen Gepflogenheiten bekehrt. Er sah nicht nur ärmlich, sondern auch unsauber und ungepflegt aus und fand offenbar Freude daran, in nichts mehr dem ehemaligen Magister zu gleichen.

Adalbert wunderte sich im Stillen ein wenig, daß Louison ihn nicht besser in Ordnung hielt; doch auf eine vorsichtige Frage nach ihr erfuhr er, daß es zwischen ihr und Thurnes zum endgültigen Bruch gekommen war. Thurnes verhielt sich aber in dieser Angelegenheit sehr schweigsam, und so blieben Adalbert, der nicht indiskret sein wollte, die näheren Umstände dieses Bruchs verborgen, die grotesk und für das Männlichkeitsgefühl nicht allzurühmlich waren.

Als Thurnes ins Feld zog, hatte er gehofft, daß Louison während seiner Abwesenheit einen andern finden und ihn, Thurnes, verlassen würde. Diese Hoffnung hatte sich als trügerisch erwiesen, denn Louison, die zuerst durchaus mit ins Feld gewollt hatte, saß zu Hause, arbeitete gemeinsam mit den andern Weibern ihres Viertels Hemden und Strümpfe für die Armee und verfolgte dazwischen das ehemalige Nönnchen mit unerbittlichem Haß. Als Thurnes halbblind und mit einem Holzbein heimkehrte, war sie zuerst erschrocken, dann innerlich entrüstet, daß sie nun ihr Leben mit einem Krüppel zubringen sollte, und nur die Angst, als schlechte Patriotin zu gelten, hielt sie davon ab, dem Manne wegzulaufen, der im ganzen Umkreis seines Viertels und wo er sich zeigte, als Held betrachtet und gegrüßt wurde. Zu irgendeiner Vertrauten, die sich in ähnlicher Lage befand wie sie, sagte sie wohl ingrimmig:

»Ein Held! Was habe ich denn von dem Helden! Einen Krüppel habe ich, und ich will einen richtigen Mann, nicht einen Kerl, der mit dem Stelzfuß herumhumpelt, am Abend sein Bein abschnallt und einen Stumpf hat statt eines Schenkels!«

Aber laut zu sagen wagte sie es nicht, und auch den Platz im Hause räumte sie nicht, weil sie wußte, daß sie damit ihm und der andern, Angelika, den größten Gefallen getan hätte, und weil es ihr in ihrem stummen Ingrimm Freude machte, die beiden zu quälen. Die Szenen zwischen ihr und Thurnes wurden immer häufiger, immer wüster, und weil Thurnes eben als Held galt, mischten sich die Weiber des Viertels in den Streit hinein und schrien Louison zu, es sei ein Skandal, wie sie ihren Mann behandle. Und als Louison dagegen schrie, daß er ja mit einer andern herumziehe, schrien die Weiber, ob sie denn gar kein Schamgefühl habe, daß sie einem Helden so etwas verweigern wolle! Man war jetzt doch frei, man lebte doch nicht mehr in der Sklaverei von früher, sondern jeder Mensch war sein eigener Herr und konnte tun und lassen, was ihm gefiel. Und sie, Louison, sollte erst recht den Mund halten, denn sie hatte ja nicht einmal ein Kind, hatte nicht einmal in dieser Zeit einen Sohn geboren, in dieser Zeit, wo Züge von Patriotinnen große Tafeln mit der Inschrift herumtrugen: »Frauen Frankreichs, tut eure Pflicht, schenkt dem Vaterland Kinder!« Da das Gezänk immer heftiger wurde und Louison keine Antwort schuldig blieb, fielen die Weiber schließlich über sie her und prügelten sie nachdrücklich durch. Als Thurnes, der gerade dazukam, sich, ungeachtet seines Stelzbeins, zwischen die Wütenden wagte, um seine Gefährtin zu schützen, waren alle von dieser Ritterlichkeit so tief ergriffen, daß sie schluchzten und ihm beteuerten, sie würden künftighin um ihn stehen wie eine Leibgarde. Nach diesem Auftritt hielt Louison es für geraten, ihre Habseligkeiten zusammenzuraffen und die Wohnung für immer zu verlassen. Nun lebte er zusammen mit Angelika, würde sie nächste Woche heiraten, richtig heiraten, und in etlichen Monaten (es mußten nicht gerade neun sein!) würde sie ihm ein Kind schenken …

»Und du, warum heiratest du deinen Schatz nicht?«

»Ich habe eine Frau daheim!«

Thurnes lachte aus vollem Halse.

»Köstlich! Eine Frau – daheim! Wer denkt noch an daheim?! Liegt so meilenweit, daß ich es nicht mehr erkennen kann!«

»Ich denke daran!«

Eine kleine Pause entstand. Jeder betrachtete den anderen und sann über ihn nach. Thurnes dachte:

»Er ist schwächer, als ich meinte. Er kann die starke Luft, die hier weht, immer noch nicht vertragen!«

Adalbert aber dachte, wie beneidenswert der Freund war, der alles vergessen konnte und sich von allem hinreißen ließ, was geschah und ihn umgab …

Später lernte er dann auch die neue Häuslichkeit des Freundes kennen. Thurnes wohnte noch in seiner alten, ärmlichen Wohnung und alles rundum war wie zu Louison's Zeiten, nur ein wenig sauberer und erhellt von dem Licht, das von zwei Herzen ausging, die einander lieb hatten. Angelika, nicht eben übermäßig schön, aber blond, frisch und rosig, glich mit ihrem kleinen Kind auf dem Arm wirklich einer Madonna, und Thurnes ließ den Vergleich gelten, obgleich er im übrigen alles, was mit Kirche und Kult zusammenhing, verpönte. Das Kind, ein Knabe, war natürlich nicht getauft worden, hieß Scipio Jean Paul (die beiden letzten Namen zu Ehren Marats) und gehörte, wie sein Vater sagte, nicht der Familie sondern dem Staat. Adalbert zuckte ein wenig zusammen; er mußte an seinen Besuch bei Rousseaus Witwe denken und an die Kinder, von denen sie nichts wußte, als daß sie ins Findelhaus gekommen waren. Aber Thurnes war ein so verliebter Vater, daß er diesem Beispiel wohl kaum folgen würde, wenn er auch schon jetzt, da das Kind kaum den Kopf aufrecht halten konnte, den »republikanischen Elementarunterricht« der »Bürgerin Dezmarez« gekauft hatte und voll Entzücken Adalbert Kostproben daraus vorlas.

»Mit solchen Büchern erziehen wir richtige Staatsbürger! Pfui Teufel, wenn ich an das Katechismusgewäsch denke, das mein Vater jahraus, jahrein verzapft hat und an das, was wir alle glauben mußten! Höre einmal, wie anders sich so etwas liest und beherzigt!« Und er las Fragen und Antworten, die der republikanische Elementarunterricht für die Kinder ausgedacht hatte:

»Frage: Wer bist du?

Antwort: Ich bin ein Kind des Vaterlandes.

Frage: Was besitzest du?

Antwort: Freiheit und Gleichheit!

Frage: Was bietest du der menschlichen Gesellschaft?

Antwort: Ein Herz, um mein Land zu lieben, und Arme, um es zu verteidigen.«

Und er nahm ein anderes Buch, ein Kinderbuch, in dem nach dem Willen des Autors ein sechsjähriger Hosenmatz erklärte: »Künftighin werden wir nicht mehr in die Messe gehen, sondern auf den Exerzierplatz, und statt des Evangeliums werden wir die Menschenrechte lernen. Unser Katechismus sei die Verfassung, unsere Beichtstühle seien Schilderhäuser, und statt uns selber anzuklagen, werden wir Acht haben auf die Irrtümer unserer Nebenmenschen …«

Adalbert mußte unwillkürlich lächeln. O, über das große Kind, das trotz aller philologischen und philosophischen Weisheit an dieselben naiv-ersonnenen Trugbilder glaubte, wie die braven Kleinbürger, die am Abend auf der Bank vor ihrem Hause saßen und ihren Kindern solche Geschichten erzählten … Er sah Angelika an. Sie hatte die Augen gesenkt, und in ihr Gesicht war eine leise Röte gestiegen, als sei ihr peinlich, was da erörtert wurde. Sie hätte nie den Mut gehabt, dem Manne zu widersprechen, den sie liebte und zu dem sie aufsah wie zu einem höheren Wesen, aber trotzdem gab es ihr jedesmal einen Stich, wenn sie sein Gottesleugnertum merkte. Denn sie, das frühere Nönnchen, war trotz Revolution und Revolutionsehe im verborgenen Herzen gläubig geblieben, und sie zitterte vor der Strafe, die der Himmel über den Mann und auch über sie verhängen würde, wenn es ihr nicht gelang, den Abtrünnigen auf den rechten Weg zurückzuführen. Und wie sollte ihr das gelingen! Sie glaubte ihm, wie sie früher ihrem Beichtvater geglaubt hatte, und wie sie ehedem mit den Versuchungen des Teufels gerungen hatte, so rang sie jetzt mit dem Zwiespalt in ihrer Brust, die ungläubig sein sollte und doch zu fest an ehrwürdiger Tradition hing, als daß die junge Frau eine richtige Atheistin hätte werden können. Zuweilen raffte sie wohl aus dem verborgensten Herzenswinkel allen Glauben und allen Mut zusammen, öffnete den Mund um dem Manne zu sagen, was sie bedrängte und wie sie sich um ihn ängstigte, aber niemals sprach sie es aus, denn sobald sie anheben wollte, entsank ihr der Mut, und sie verschloß wieder in sich, worüber er doch nur gelacht oder gezankt hätte. Er merkte nichts von dem, was in ihr vorging. Er liebte sie nicht nur mit den Sinnen sondern auch mit dem Herzen, er verehrte sie, seitdem sie ihm einen Sohn geboren hatte, er war ihr dankbar für die Ruhe und Wärme, die sie dem Hause gab, und für die Fürsorge, die sie, im Gegensatz zu Louison, für seine Krüppelhaftigkeit bezeigte, aber um ihr Seelenleben kümmerte er sich nicht viel, schon darum nicht, weil es ihm an Zeit gebrach. Er mußte ja nun fest arbeiten, um bei der steigenden Teuerung die kleine Familie durchzubringen. Er hatte als Kriegsinvalide und kluger Kopf eine Art höhere Schreiberstellung bei einer der jakobinischen Stadtbehörden bekommen, denn wenn nun auch die Letzten die Ersten waren, und die Republik erklärt hatte, daß für sie sowohl Gelehrte wie Dichter überflüssig seien, so waren die laufenden Geschäfte doch nicht ausschließlich mit Analphabeten zu bewältigen, und man war froh, einen Mann zu haben, den man auch über seine Akten hinaus einmal um Rat fragen konnte, wenn der Analphabetismus versagte. Nebenbei arbeitete er immer noch eifrig für etliche linksradikale Blätter, und wenn der Tag vorüber war, saß er froh und begeistert an seinem Schreibtisch aus rohem Tannenholz und schrieb an einer fünfaktigen Tragödie »Cinna«. Sie wuchs nur langsam, weil ihm eben nur die Abendstunden blieben, die obendrein häufig durch Klubsitzungen belegt waren, aber je länger er an seinem »Cinna« schrieb, umsomehr verliebte er sich in sein Werk, und auch Angelika, die zwar nichts von Dichtung verstand, war mit ihm überzeugt, daß hier ein Meisterstück geschaffen wurde. Über den Zukunftsträumen, mit denen sie das werdende Meisterwerk umspannen, vergaßen sie leichter als andere die Sorgen des Alltags, die täglich drückender wurden. Man führte ja jetzt auch Krieg gegen Holland, in der Vendée gärte es bedenklich, kam es immer wieder zu Aufständen gegen das neue Regiment, und mit all den Kriegen und Wirren im Innern wurde die wirtschaftliche Lage des Landes und jedes Einzelnen immer verzweifelter. Das Brot war ungleich teuerer als je unter dem alten Regime in Zeiten der Hungersnöte gewesen, das Fleisch wurde so knapp, daß es in kleinen Rationen nur mehr an Kranke, Greise und Wöchnerinnen verteilt werden konnte, das Papier drohte zu Ende zu gehen, weil es ballenweise für die Prägung von Assignaten gebraucht wurde, die Jabots der Männer und die Fichus der Frauen sahen betrüblich grau und verkommen aus, denn die Wäscherinnen erhielten nur mehr ein Pfund Seife wöchentlich. Aller Luxus war verschwunden. Es gab keine Pferde mehr, denn sie waren vom Militär requiriert, genau so wie die männlichen Bedienten, und allmählich verschwanden auch die Sänftenträger aus dem Straßenbild, angeblich, weil es eines Menschen unwürdig sei, einen andern zu tragen, in Wahrheit, weil sie von der Heeresleitung eingefordert wurden. Santerre, der als ehemaliger Wirt etliches von Ernährungsmöglichkeiten verstand, schlug vor, daß die wohlhabenden Bürger sich zweimal in der Woche des Brotes enthalten und an dessen Stelle Kartoffeln und Reis essen sollten, weil auf diese Weise in zwei Tagen 1500 Sack Mehl erspart werden könnten. Auch die unnötigen Hunde und Katzen sollten abgeschafft werden, womit wiederum täglich zehn Sack Mehl erübrigt werden könnten, und schließlich ging auch er wie einstens der Jakobinerklub gegen Zucker und Kaffee vor, und forderte, daß die Einwohner sich an Entbehrungen gewöhnen müßten »mit Ausnahme der Armen und Arbeiter.« Um einen Laib Brot standen Frauen halbe Nächte lang vor den Bäckerläden, und in Beratungen hinter verschlossenen Türen überlegten die Männer schon Pläne zu allgemeinen öffentlichen Speisungen, hüteten sich aber wohl in den Sitzungen des Konvents an die Ernährungsfrage heranzukommen, weil sie die Zurufe und den Skandal der Galerien fürchteten. Einer allerdings fürchtete ihn nicht, wußte sich geborgen in der Hut des souveränen Volkes: Marat. Es verehrte ihn als den Vater der Armen, denn er sprach zu dem Tiergesicht: »Komm her, mein lieber Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe! Die Tyrannei verflossener Jahrhunderte hat dich vertieren, ihre Pfaffen haben dich verdummen wollen, ich aber sage dir, daß du die edelste aller Gemeinschaften bist und daß von deiner Stirne die Leuchte höchster Vernunft blinkt! Gehe hin, mein lieber Sohn, und mache die Reichen arm und die Armen reich! Hasse die Aristokraten, nimm ihren Besitz und ihre Schlösser als dein Eigentum, verschleudere es, wenn es dir gefällt, um einen Bettelpreis an deine Gesinnungsgenossen oder lasse es in Rauch und Flammen aufgehen! Verbrenne die Adelsbriefe, denn keiner soll sich seiner Vorväter mehr rühmen dürfen, und wenn dein Vater auf der Galeere saß, sollst du ihn höher achten, als einen Marschall, der mit Ruhm und Ehren bedeckt war! Schließe die Kirchen, wirf Kelche und Hostien in die Gosse, denn nichts soll regieren als die blanke, nackte Vernunft, und als ihr Sinnbild sollst du in allen Kirchen ein nacktes Weib als Göttin der Vernunft anbeten! Und wenn dich hungert, dann gehe unbekümmert hin und plündere nicht nur die Reichen, sondern auch die Läden der Stadt und die Scheunen der Bauern und lasse jeden am Laternenpfahl baumeln, der dich hindern will!«

Doch trotz des wirtschaftlichen Elends, das täglich wuchs, trotz Plünderungen, Raubanfällen und Verbrechen aller Art stieg das moralische Ansehen der jungen Republik. Aus dem eroberten Mainz kamen Abgeordnete, um die Einverleibung des alten Kurfürstentums in die französische Republik zu vermitteln, und sie konnten nicht genug erzählen von der Freiheitsliebe der Mainzer und ihrem sehnlichen Wunsch, zu Frankreich zu gehören. Der eine von ihnen, Georg Forster, war trotz seiner Jugend schon ein bekannter Name, denn er hatte noch als halber Knabe mit seinem Vater eine Weltreise gemacht und später dessen Tagebücher herausgegeben. Er war lebhaft, gewandt, nur allzu sprunghaft im Wesen und stach darum seltsam von dem andern Abgeordneten, Adam Lux, ab. Der war ein Eigenbrödler, wie Deutschland sie von jeher hervorgebracht hat, ein Autodidakt, der hinter dem Pflug gegangen war und sich aus Büchern und eigener Erkenntnis sein Freiheits- und Staatsideal geformt hatte. Er war still, schwerflüssig, von tiefer Inbrunst beseelt und ging in Paris umher, wie Adalbert umhergegangen war, berauscht und erfüllt von der Gewißheit, daß er seine Heimat einem gelobten Lande vermählte. Sowohl Forster wie Lux kamen natürlich häufig in den Jakobinerklub, und einmal hörte Adalbert dort auch einen Namen, den er solange nicht mehr vernommen hatte, daß er ihm beinahe gespenstisch klang. Ein ältlicher, wohlbeleibter Herr wurde ihm als Baron Trenck gezeigt, der schon früher hier gelebt hatte, dann auf seine Güter in der Nähe Aachens verzogen war und sich nun wieder eingefunden hatte; Adalbert machte seine Bekanntschaft, sprach eine Weile über allgemeine Dinge mit ihm, obgleich ihm ganz seltsam zu Mute war, daß er von Angesicht zu Angesicht den Mann sah, dessen Geschick so tief in sein eigenes Wesen eingegriffen hatte. Einen Augenblick lang drängte es ihn, Trenck zu sagen, wie sein Buch auf ihn, den Knaben, gewirkt hatte, aber er schwieg. Er hätte zu viel offenbaren müssen, und es war besser, nicht immer zurückzuschauen, nicht immer wieder nach Türen hinzuspähen, die man für immer hinter sich geschlossen hatte. Auch enttäuschte ihn der wohlbeleibte und immer noch recht draufgängerische Baron fast ebenso wie ihn die Witwe Rousseau enttäuscht hatte. In seiner Erinnerung war er als ein Märtyrer königlicher Grausamkeit geblieben, als ein an Leib und Seele gebrochener Mensch, dem man nur mit Mitleid und Ehrfurcht begegnen durfte, und nun stand vor ihm ein Mann wie tausend andere, der auch sein Geschick nicht anders auffaßte als tausend Andere Widrigkeiten und schwere Jahre auffassen. Doch so verschiedenartig all die Fremden, die herkamen, auch sein mochten, in einem waren sie einig: in der Bewunderung für die junge Republik. Freiheit … wo anders hatte sie eine Heimat als in Frankreich? Gleichheit – wo anders hätte man dies Wort wagen dürfen als hier?! Brüderlichkeit – ja, mit der Brüderlichkeit hatte es allerdings einen kleinen Haken, aber, so sagten alle Fremden, wo Holz geschlagen wird, fliegen Späne, und Frankreich ist die Erlöserin der geknechteten Menschheit. –

Tag für Tag tönten Adalbert diese Psalmen in die Ohren, übertönten leisen Widerspruch, der sich regen wollte, und er glaubte, was alle rundum sagten, weil er es gerne glauben wollte, weil er verloren gewesen wäre, wenn er es nicht hätte glauben können. Doch trotz seines Glaubens, an den er sich gewaltsam ankrampfte, um nicht ins Bodenlose zu stürzen, gab es oft Streit zwischen ihm und Théroigne, die ihn zu lau fand, und die für Marat schwärmte, wie nur sie schwärmen konnte.

»Du verstehst ihn nicht! Wie solltest du ihn auch verstehen, da du nie arm warst, nie gehungert hast!«

»Und nie geplündert, mußt du dazu sagen!«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Bah, um die Wucherer von Bauern und Kaufleuten ists nicht schade! Wenn sie ungerecht sind, muß sich das Volk selber Gerechtigkeit verschaffen! Marat weiß, wie bitter Hunger und Not sind! Marat denkt für die Armen, für die Entrechteten. Darum denkt er auch für uns, für die Frauen!«

Hier war nun ein Punkt, an dem Verständigung unmöglich war. Marat wollte sich aus Frauen eine Art Garde bilden, die, mit Dolchen bewaffnet, jeden »Verräter« niederstoßen sollte. Achttausend Dolche waren schon bestellt und in Arbeit … Théroigne jauchzte bei der Vorstellung, daß sie an der Spitze von so und soviel Frauen zu einer wichtigen Rolle im Staatswesen berufen sei; Adalbert fand den Plan Marats abscheulich und widersinnig. Und wenn Théroigne in hellem Zorn über seine Verstocktheit davongestürmt war, ging er zu Robespierre, der insgeheim seine Abneigung gegen Marat teilte. Ihm, dem Eitlen, Wohlgepflegten, der zurückhaltend und verschlossen war, flößte der Verwilderte, Besessene, der den Pöbel liebkoste, tiefe Antipathie ein, und die rote Mütze, die Marat überall aufpflanzen ließ, verursachte ihm einen beinahe physischen Abscheu.

Von ihm hörte Adalbert auch, was man aus guten Gründen sowohl im Konvent wie im Klub verschwieg: Klopstock, den die Republik zum Ehrenbürger ernannt, hatte seinen Bürgerbrief zurückgesandt und erklärt, er würde ihn erst annehmen, wenn die blutigen Tage des Juni und September ihre Sühne gefunden hätten. Schadenfreude klang in Robespierres Stimme, da er es berichtete, denn diese Rücksendung bemakelte gleichermaßen den rechten Flügel der Republikaner, die Kriegshetzer und Abgeordneten der Gironde, wie die Drahtzieher der Septembermorde, Danton und Marat. Und neben der Schadenfreude klang hochmütiges Selbstvergnügen: glich doch er, Robespierre, in nichts den beiden anderen, deren Macht sichtbarlich von Tag zu Tag wuchs, während der Deputierte von Arras nach eigener Wahl immer noch im Dämmer stand. Ihn beherrschten nicht die blutrünstigen Pöbelinstinkte Marats, nicht die Genießerskrupellosigkeit Dantons, für den das Leben statt eines Rechenexempels ein Bacchanal darstellte, dessen Leckerbissen er unbedenklich mit Gold bezahlte, das aus verdächtigen Quellen floß. Er, Robespierre, war der Unbestechliche, den nichts reizte, nichts verführte, nicht Besitz, nicht das Lächeln einer Frau. Er war unbestechlich und darum unverwundbar, und an seiner ehernen Rechtlichkeit glitt jede Verdächtigung ab, wie ein Wasserstrahl an einer stählernen Wand. Da zeterte wohl der Besessene, daß hinter dieser Rechtlichkeit sich ein Ungeheuer berge, dessen Leichnam das Volk eines Tages durch die Straßen schleifen und den Hunden sein Blut zum Lecken geben würde, und Danton lachte, daß alles zitterte und meinte: »Paul, du fieberst! Robespierre wird von alten Jungfern zu Tode gehätschelt und von Kaffeebasen zu Grabe getragen werden, denn er ist selber eine alte Jungfer und Kaffeebase!« Er wußte nicht, aber er ahnte wohl, was sie über ihn dachten und sprachen, zuckte in hochmütigem Selbstgenügen die Schultern und war wachsam, überaus wachsam. Und mit gleichem Selbstgenügen betrachtete er trotz seiner Schadenfreude Klopstocks zurückgeschickten Bürgerbrief. Was dachte sich solch ein deutscher Dichter eigentlich über das Wesen einer Republik? Wie stellte er sich vor, daß die Ränke der Tyrannen vereitelt werden sollten, und wie anders als mit Gewalt konnte man sich wehren, wenn überall Verrat umging?! »Verrat«, immer öfter und immer leidenschaftlicher kam das Wort aus seinem Munde, und Adalbert sah mit Schmerz, wie dies Wort und die Vorstellung, die es wachrief, ihn krank machte, wie er es mit selbstquälerischer Lust sich immer tiefer ins Bewußtsein bohrte, und Mißtrauen ihn wie eine Dunstschicht umgab, aus der sein Wesen düsterer als sonst hervorsah. Und dennoch war es für Adalbert Erquickung, bei ihm zu sitzen, denn für Stunden schwand die Dunstschicht, und dann kam der Schüler Jean Jacques wieder hervor, der sehnsuchtsvoll nach dem Glück für die Menschheit spähte, der nichts wissen wollte von Härte, Gottlosigkeit und nackten Weibern, die man als Symbol der Vernunft zur Schau stellte.

»Nur ein Rationalist wie Marat und ein Zyniker wie Danton können glauben, daß solche Armseligkeit einem Volk auf die Dauer genügt! Welch ein Wahnsinn, nur an Vernunft zu glauben und die Existenz eines höheren Wesens zu leugnen!« Und da er meinte, daß Adalbert ihn vielleicht nicht recht verstand, fügte er schnell hinzu:

»Nein, keinen Pfaffengott. Keinen Gott, der sich in ein Schema, in ein Dogma und von einer bevorzugten Klasse verkünden läßt! Diesen Gott haben wir entthront, wie den andern Tyrannen. Aber an ein erhabenes und sanftes Wesen glaube ich, das über uns und insbesonders über unserem Lande wacht.« Leidenschaftlich, fast ekstatisch, fuhr er fort: »Wenn ich nicht an ein solches Wesen glaubte, wie hätte ich, allein, nur mit meiner armseligen Menschlichkeit, die Stürme überstehen können, die uns seit Jahren heimsuchen! Ein höchstes Wesen in der Natur, über uns, in uns … Jeder Mensch ist ein Tabernakel, in dem sich die Gottheit verbirgt.«

Er war ergriffen, zerwühlt. Man sah ihm an, daß er in der Erinnerung noch einmal Kämpfe und Wirren durchlebte, von denen niemand gewußt hatte. Er sprach mit Adalbert gerne von seinen religions-philosophischen Ideen, gebrauchte geheimnisvolle Worte, stand unter dem Bann mystischer Bilder und Vorstellungen. Adalbert konnte nicht immer ganz verstehen, ihm nicht immer folgen, und dachte bei sich:

»Es liegt am Katholizismus, in dem er geboren worden und aufgewachsen ist! Die katholische Kirche liebt das geheimnisvollste Dunkel mit den glühend-bunten Kirchenfenstern, und Maximilians Ideenkreis ist von dieser Kirche beeinflußt, von der Buntheit ihrer Fenster überleuchtet, wenn er auch meint, seine eigene, ganz persönliche Religion zu bekennen! Das Geburtshaus der Menschen hat stärkere Macht über ihn als alle Bauten, die er später aufführt!«

In Robespierres Wesen ging langsam, eigentlich nur von Adalbert und Eleonore bemerkt, eine seltsame Veränderung vor. Er wurde immer verschlossener, immer herber, und aß kaum mehr, trank nur noch schwarzen Kaffee, der ihn für seine Nachtarbeiten wachhielt. Öfter als früher machte er geheimnisvolle Ausgänge, von denen er vergrübelt und doch mit einem ekstatischen Leuchten im Gesicht zurückkam. Er war wie ein Geweihter, der sich durch Buße und Selbstkasteiung für den Ruf vorbereitet, den er erwartet …

Eleonore zerbiß sich die Lippen in ohnmächtiger Eifersucht, denn sie dachte nicht anders, als daß eine Frau solche Verwandlung bewirkte. Adalbert aber sah tiefer und spürte, daß hier nichts Alltägliches am Werke war. Und als eines Tages Robespierre wieder von der Gottheit sprach, die sich den Menschen zum Tabernakel erwählt habe, fragte Adalbert vorsichtig:

»Ist es auch die Gottheit, die dich verwandelt hat?«

»Verwandelt?«

»Ja, denn allmählich bist du ein anderer Mensch geworden!«

Sofort sprang Mißtrauen in Robespierre auf. Er fragte hastig und mit einem tückischen Blinzeln in den verschwommenen Augen:

»Ein anderer Mensch, – was willst du damit sagen? Was habt ihr an mir entdeckt, das euch auffallend scheint!«

»Es ist, als ob du von uns fortgehen wolltest in eine andere Welt, die nur dir gehört, und in die wir keinen Einlaß finden!«

Robespierre seufzte tief auf, und das tückische Blinzeln wich dem Ausdruck der Trostlosigkeit.

»Eine andere Welt! Ach, Adalbert, ich möchte gar nicht aus dieser Welt fort, ich möchte sie nur befreien von allem Elend und aller Not. Ich möchte ihr Erlöser sein!«

»Wer könnte das?! Wem wäre solche Kraft gegeben!«

Robespierres Gesicht flammte in jäher Röte auf.

»Wer die Kraft zur großen Reinigung hat, hat auch die Kraft der Erlösung!«

Es war eine der geheimnisvollen Wendungen, die Adalbert nicht ganz verstand und die ihm den Freund manchesmal unheimlich erscheinen ließen. Er fragte zwischen Ernst und Scherz:

»Traust du dir solche Kraft zu?«

»Ich weiß es nicht. Nur sie weiß es. Sie wird es dem verkünden, der zum Vollstrecker berufen ist!«

Er bebte am ganzen Körper vor Erregung, sah mit weit aufgerissenen Augen ins Leere, als erblickte er eine Vision. Dann fiel er in den Sessel zurück, lag ein paar Sekunden wie leblos mit verdrehten Augen und knirschenden Zähnen, daß Adalbert sich in großer Angst über ihn beugte und ihn anrief. Der Kampf ging aber schnell vorüber, und Robespierre schien nichts mehr von allem zu wissen, was gesprochen worden und geschehen war, nahm ein Buch zur Hand, steckte es in die Tasche und sagte zu Adalbert:

»Wir wollen ein wenig spazieren gehen und uns zum Ausruhen eine Bank suchen, auf der wir lesen!«

Adalbert sprach mit Thurnes über diese seltsame Szene und fragte:

»Wer soll wohl diese geheimnisvolle sie sein, die den Welterlöser prophezeit?«

Thurnes hörte der ganzen Geschichte mit sichtlichem Mißfallen zu. Er war durchaus nicht für Mystik eingenommen und sagte ärgerlich:

»Es ist merkwürdig, daß dieser alberne Kram nicht aus den Menschen herauszubringen ist! Selbst ein Kopf wie Robespierre beschäftigt sich mit solchen Albernheiten! Nein, mir ist die Göttin der Vernunft lieber als diese unbestimmte »sie« …

Angelika hatte, scheinbar nur mit ihrem Kinde beschäftigt, aufmerksam dem Gespräch der Männer gelauscht. Sie war rot geworden und senkte den Kopf tiefer auf ihr Kind. Sie, die ehemalige Nonne, wußte ungefähr wer »sie« war und was den Männern verborgen blieb …

*


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