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Sechstes Kapitel.

Der folgende Tag war der letzte des Jahres und ganz mit jenem gelben, blendenden Lichte gefüllt, welches entsteht, wenn die Sonne ruhig durch einen dünnen Wolkenüberzug scheint. Mit diesem Licht ist immer völlige Stille in der Luft verbunden; auch lag der am vorigen Abend gefallene Schnee in tiefer Ruhe auf den Dächern und Zweigen der Bäume. Am zweiten Tage des Jahres wollten die Gäste abreisen; nur Frau von Hain wollte noch eine Woche länger bleiben, um Mathildens Geburtsfest abzuwarten.

Wie das Wichtigste immer am längsten aufgeschoben wird, so hatte auch Hortense noch nicht den Ahnensaal gesehen, und seine feierliche Besichtigung war nun auf den heutigen Abend festgesetzt. Jetzt war es drei Uhr; also währte es noch drei Stunden bis zum Mittagessen, welches seit der Anwesenheit der Gäste auf französische Art eingenommen wurde, damit die Herren nicht in der Jagd gestört würden, die besonders Herr von Bayer eifrig und mit Glück trieb. Alexander ging meistens mit; heute hatte er jedoch zu schreiben, und Edgar, der vom vorigen Abende her über Kopfschmerz klagte, war an seine Stelle getreten. Beide Herren waren seit dem Morgen fort, und noch nicht wieder zurück, Frau von Bayer und Frau von Hain mit zweien von den Kindern spazieren gefahren, während Herr Altheim die übrigen unterrichtete. Hortense hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, Mathilde stand in dem ihrigen einsam am Fenster, welches nach Abend ging. Die Bewölkung hatte sich getheilt, und die Sonne stand schon ganz tief, aber in hellem Glanze. Die Fläche breitete sich bis zu dem fernen Waldsaume aus; der Schnee bedeckte sie glatt und jetzt in den röthlichen Strahlen leuchtend. Von der Seite kam der Weg aus dem Forste her, den die Jäger hingegangen waren; ihre Fußstapfen waren nicht verweht, und Mathildens Augen folgten der einsamen Spur. Es war heute zum ersten Male, daß sie allein war und ungestört an Tasso denken konnte. Sie wiederholte sich einige Stellen, und Edgars Ton war ihr so tief in der Seele geblieben, daß sie sich ihn ganz zurückrufen konnte und noch einmal die volle, unbeschreibliche Bewegung empfand, welche gestern bei dem Hören sie ergriffen hatte. Dann dachte sie an Hortense und konnte sie heute nicht anklagen. »Wenn er in diesem Tone zu ihr gesprochen hat,« sagte sie leise vor sich hin, »ach, da war es kaum möglich, daß sie widerstand. Ich hab' es zwar noch nicht gehört; er liebt sie auch nicht so, als sie ihn liebt, aber das ist auch natürlich. Ein Mann wie er – welche Frau kann dem genügen? Wie mag ich ihm unbedeutend erscheinen! Nun, ich kann es nicht anders verlangen; es können nicht alle Männer so nachsichtig sein wie Alexander, besonders Männer wie Edgar.«

Mathilde wußte nicht, wie ihr geschah, als hier plötzlich eine tiefe Wehmuth sie überkam. Sie war von Natur durchaus nicht weichlich, und ihre Erziehung war ganz dazu geeignet gewesen, diese innere Gesundheit, welche von der ihres Körpers noch unterstützt wurde, zu erhalten. Daß man in Thränen schwelgen könne, war ihr gänzlich fremd, und so erschien sie sich jetzt thöricht und kindisch. »Warum weine ich denn ohne Ursache?« fragte sie sich und strich die Thränen hastig von den laugen Wimpern; aber immer neue drangen hervor, sie konnte sie nicht mehr abwischen; noch einen Augenblick kämpfte sie, dann riß die schmerzlichsüße Empfindung sie unaufhaltsam hin, und sie legte das Gesicht in die Hände und weinte laut.

O, die Seligkeit zu weinen, in den Thränen zu vergehen, sich nicht mehr zu halten, nicht mehr bezwingen zu wollen, Mensch zu sein – zu weinen – es rettet vor Verzweiflung, vor Wahnsinn; es rettet Seelen, die sonst verloren wären; es lischt die brennenden Schriftzeichen von Sünden aus; es wäscht rein und tauft zu einem neuen Bunde. Aber wenn eine Liebe zu uns kommt, die uns verlocken will, gegen die wir kämpfen sollen, und sie findet uns weinend, dann wehe uns, sie hat überwunden.

Mathilde wußte das nicht und ahnte nicht die Gefahr, welche schon ganz nahe lauerte. Der Druck, welchen sie diese Tage her auf dem Herzen gefühlt hatte, war in den Thränen zerronnen wie Gewitterschwüle im Regen, und als sie den Kopf erhob, glich sie einer erquickten Blume. »Das thut ja wohl, so zu weinen,« sagte sie, als habe sie eine sehr freudige Entdeckung gemacht; dann aber fiel ihr ein: man könnte es ihr ansehen. Sie ging zum Spiegel und fand allerdings, daß ihre Augen geröthet waren. Hastig nahm sie ein Tuch, tauchte es ein und legte es auf die Augenlieder, bis sie fühlte, daß diese wieder kühl wurden. Dann ging sie beruhigt an das Fenster, und indem sie nun mit stillem Herzen in die Abendröthe blickte, dachte sie wieder an Tasso und fühlte jetzt, wo sie in den Thränen sich gleichsam rein gebadet hatte, erst recht die sonnenwarme Schönheit dieser Dichtung, von welcher ihr ganzes Wesen durchdrungen wurde. So stand sie der leuchtenden Abendröthe gegenüber, eine zweite leuchtende Erscheinung, in den dunklen Rahmen des offenen Fensters eingefaßt, wie jene in die braunen Wolken und Bäume, und bemerkte nicht, daß die Jäger herangekommen und auf dem zugefrornen Graben geblieben waren, um sie zu betrachten. Endlich winselte Alexanders schöne Diana zärtlich zu ihr in die Höhe, und sie sah hinunter und entdeckte die Männer, welche in ihrer Jagdkleidung sich ganz malerisch und sehr zu ihrem Vortheile ausnahmen. Sie war überrascht, aber nicht erschrocken, und wollte eben fragen, ob sie Glück gehabt, als Herr von Bayer schon einen Hasen an den Läufen in die Höhe hielt.

»Das ist meine ganze Beute, gnädige Frau,« sagte er kläglich, »nichts als einen Hasen, der noch dazu nicht einmal feist ist; und der Mensch hat ihrer drei,« setzte er hinzu und wies auf Edgar, »und einen Rehbock außerdem, ein wahres Unthier, das den Jäger beinahe zu Boden drückt.« – »Was sagen Sie dazu?« fragte Edgar. »Alles Schmeichelhafte, was man einem glücklichen Jäger nur sagen kann,« antwortete Mathilde; »aber Sie sehen angegriffen aus, sind Sie nicht wohl?« – »Nein,« sagte Edgar unmuthig, »und ich verliere schon die Geduld; mir ist nichts widerwärtiger als Kranksein.«

Herr von Bayer lachte. »Sie haben vollkommen Recht, wenn Sie die Geduld verlieren, beinahe vierundzwanzig Stunden Kopfweh – das ist unerlaubt; aber finden Sie nicht, daß der ganze Auftritt hier etwas ungemein Ritterhaftes hat? Das graue Schloß – die schöne Herrin dort oben – wir rüstigen Jäger hier unten – meinen Sie nicht?«

Edgar lächelte mit bitterer Ironie und sagte: »Ja, wir sind Ritter.«

»Nun,« sagte Herr von Bayer ganz ruhig, »wir könnten im Nothfalle schon dafür gelten. Es werden manche von den ehrlichen Jungen in den Eisenröcken nicht besser ausgesehen haben, als wir, und wenn Sie denn durchaus bei Ihrem spöttischen Lachen bleiben, so bleibe ich dabei, daß dieses wenigstens ein Bild aus der Ritterzeit ist, und zwar ein ächtes und liebliches.« Und Herr von Bayer deutete auf das Fenster.

Edgar sah zu Mathilden auf; sie wurde über und über roth, hielt aber die scherzhafte Prüfung muthig aus. Uebrigens erschien sie in dem schwarzseidenen Kleide, welches hoch hinaufging, in den weiten Aermeln, die auf ihre ruhenden Hände niederfielen, und dem kleinen, weißen Kragen, der ihren Hals eng umschloß, wirklich so fremdartig lieblich, daß Edgar sie mit unverstelltem Wohlgefallen betrachtete und dies auch herzlich ausgesprochen haben würde, wenn nicht der Jäger mit dem Rehbocke und vielen Redensarten dazu gekommen wäre. Zugleich hörte Mathilde im Vorsaale ihre Mutter, und anmuthig den Kopf neigend, schloß sie langsam das Fenster und verschwand im Zimmer.

Edgar gab dem Jäger die Hasen und ging in das seine. Er fühlte sich wirklich unwohl und hätte sich gern auf das Sopha geworfen, aber er war heute noch gar nicht bei Hortensen gewesen, und wollte sowol ihre Sehnsucht nicht täuschen, als auch sie nicht besorgt machen, was immer quälend für ihn war. So wechselte er denn, sich gleichsam zu jeder Bewegung zwingend, die Kleider und ging zu ihr. Wie er es erwartet, hatte sie sich schon lebhaft nach ihm gesehnt, und empfing ihn mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Er erwiederte diese, so gut er konnte, und Hortense war an diesem Abend auch so schön, daß es fast unmöglich gewesen wäre, nicht von ihr erregt zu werden; aber es war ihm doch zu Muthe, wie an einem schönen, nur zu heißen Tage. Die Sonne glüht herrlich, und der Himmel und die Blumen brennen in Pracht, aber auf die Länge ermüdet dieser Glanz und man sucht den Schatten, um zu ruhen. Auch Edgar sehnte sich nach Ruhe und wünschte recht aufrichtig: Hortense möchte auf eine Stunde Mathildens stilles Wesen haben. »Es ist nicht interessant,« dachte er, »aber man könnte dabei selber still sein.« Hortensen konnte diese Lauigkeit nicht lange entgehen; sie hatte sie noch nie an ihm bemerkt und fing nun in rasch entbrannter Eifersucht an, ihm Vorwürfe zu machen. Als er, um diesen zu entgehen, ihr die Wahrheit sagte, ließ sie ihm in anderer Art keine Ruhe. Es ist wahr, sie wurde still, aber so ängstlich still, daß es ihn peinigen mußte, um so mehr, als sie das Auge nicht von ihm verwandte. Mit einem Wort, er war zu glücklich, und wenn ihr blendender Reiz ihm nicht Fesseln angelegt hätte, er würde dieses Glück schwerlich bis zur Stunde der allgemeinen Vereinigung ausgehalten haben.

Während ihm so zur halben Pein gereichte, was ein Anderer vielleicht für das höchste Glück gehalten hätte, mußte auch Alexander eine Prüfung überstehen, die aber von der, welche Edgarn durch die schöne Frau bereitet wurde, so verschieden war, wie die stürmende Romantik nur immer von der schmunzelnden Behaglichkeit des Lebens sein kann. Es hatte gerade fünf Uhr geschlagen, als in dem Thorweg, der unter dem Ahnensaale durch in den Schloßhof führte, ein gewaltiges Rasseln laut wurde und gleich darauf ein hübscher Halbwagen, in dem ein dicker Mann saß, in übergroßer Eile vor die Thür gefahren kam, wozu der Kutscher, ein großer, linkischer Bursche, fürchterlich mit der Peitsche knallte. Das Fuhrwerk, welches sich so geräuschvoll ankündigte, hatte etwas Lächerliches; der Wagen war von eleganter Form und einfach dunkelgrün lackirt, aber mit himmelblauem Tuche und orangefarbigen Borten ausgeschlagen; das Geschirr war glänzend, aber zu weit für die ganz magern Pferde, die wiederum für den leichten Wagen viel zu groß waren. Der Kutscher endlich hatte einen schönen Ueberrock, der aber ursprünglich für einen Menschen von viel kleinerem Format angefertigt worden und daher seinem gegenwärtigen Träger überall zu kurz war, was besonders an den Aermeln bemerklich wurde; dazu trug der Mensch keine Handschuhe, eine beschmutzte Weste und ein zerrissenes Tuch. Dennoch schien der Mann, der in dem Wagen saß, sich als Besitzer aller dieser Herrlichkeit sehr wolgefällig zu zu fühlen; denn als der Bediente herbeieilte und mehrere Augenblicke bedurfte, um den wolgenährten Bürger zu erkennen, wartete dieser nicht nur den Ausruf: »ih, was Tausend, Herr Faß!« behaglich schweigend ab, sondern brach auch, als er ihn vernommen, in ein Gelächter der innigsten Befriedigung aus.

»Ja, ja,« sagte er, als er sich satt gelacht hatte, »Herr Faß; – 's ist Herr Faß und Niemand anders. Sie hätten's wol nicht vermuthet, als Sie den Wagen sahen, daß der Herr Faß drinnen säße? Ja, er ist mein, und andre Dinge sind auch noch mein – und Alles richtig bezahlt. Ja, ja, es kommt wunderbar in der Welt – na, sehen Sie sich nur den Wagen an – ist's nicht ein charmant Wägelchen – he?« – Johann gab seine Bewunderung darüber zu erkennen; Herr Faß fragte: ob der gnädige Herr zu Hause sei; bat, als er die bejahende Antwort erhielt, ihn zu melden, und folgte dem gewandt voraneilenden Johann, nachdem er auf der ersten Stufe der Treppe stehen geblieben war, um sich noch einmal nach seinem Wagen umzusehen.

Alexander saß bei einem Briefe, als Herr Faß, nachdem Johann ihn mit einem, mit Mühe unterdrückten Lächeln angemeldet hatte, in das Zimmer kam und mit Vertraulichkeit auf Alexander zuging. Dieser erinnerte sich seiner noch von der Zeit her, wo der alte Oheim ihn bisweilen zu sich einlud und dann dem Neffen als einen Vocativus Damals nicht nur in grammatischer Bedeutung (als Fall der Anrede), sondern auch als Charakterisierung eines Typus: ein durchtriebener Bursche, ein ›Blitzkerl‹, ein ›Teufelskerl‹. zu rühmen pflegte. Alexander hatte jedoch nie Lust gehabt, sich selbst zu überzeugen, in wiefern der wohlbeleibte Butterhändler dieses Lob verdiene, und machte so gewissermaßen erst heute seine Bekanntschaft. Herr Faß aber schien die Sache ganz anders und Alexandern als einen alten Bekannten zu betrachten, denn, wie gesagt, er ging mit Vertraulichkeit auf ihn zu, ergriff seine Hand und schüttelte sie so herzlich, als nur ein Vetter dem andern die Hand schütteln konnte; dann steckte er die seinige in die Weste, sah Alexandern mit einer pfiffigen Miene an und sagte: »Na, liebster Herr von Aarhausen, wie geht's Ihnen denn?«

Alexander hatte keinen Humor, das Lächerliche dieser Begrüßung ging an ihm verloren, und er antwortete im kältesten Tone: »ich danke Ihnen, Herr Faß, darf ich wissen, was mir die Ehre verschafft, Sie hier zu sehen?«

»Ja, das können Sie nicht wissen;« sagte Herr Faß und fing an herzlich zu lachen.

»Wenn Sie nicht die Güte haben, es mir zu sagen;« erwiederte Alexander, dessen Geduld schon auf dem besten Wege war, der Ungeduld Platz zu machen. Zugleich deutete er höflich auf einen Lehnstuhl.

Herr Faß setzte sich sogleich und füllte den weiten Raum des Stuhles behaglich aus. Seine Weste war dabei in die Höhe gerückt, er zog sie wieder über seine Rundung herunter, steckte die Hand wieder hinein, sah Alexandern abermals pfiffig an und schwieg.

Doch nur einen Augenblick, denn im nächsten fragte er deutlich und wohlgefällig, so daß Alexander nicht glauben konnte, geträumt zu haben: »was würden Sie wol sagen, wenn ich gekommen wäre, Ihnen Ihre Herrschaft abzukaufen?«

»Sie?« fragte Alexander zurück.

»Ja, ich;« antwortete der dicke Mann mit einem triumphirenden Lächeln; »ich kann's – ich hab's Geld, und ich will sie kaufen. Na, was sagen Sie dazu?«

»Daß ich Sie bitte, sich eine andere zu kaufen;« erwiederte Alexander kalt.

»Sagen Sie das nicht, liebster Herr von Aarhausen;« rief der Butterhändler mit einem gutmüthigen Gesicht; »Sie thun sich den größten Schaden. Die Güter gelten nichts, kein Mensch kauft jetzt so eine Herrschaft. Sie haben Schulden drauf, mehr als gut ist, ich weiß das ja Alles von dem seligen Herrn Oberstwachtmeister. Wir haben oft Spaß mitsammen gemacht, daß ich sie 'mal kaufen sollte; meine Frau war eine vornehme Kaufmannstochter, sie hatte funfzehntausend Thaler baar; na, das Kapitälchen hab' ich denn auf zwanzigtausend gebracht. Nun aber meine Frau, die war's denn vornehm gewöhnt und hatte immer ein Lüstchen nach einem Gute; ich sagte aber: mein Kind, warte noch, wir haben's noch nicht; über's Warten ist sie nun gestorben, aber meine Tochter, die ist gerade so. Immer oben hinaus.« Und der gute Mann lachte über seine Tochter.

»In der That,« sagte Alexander, und zerdrückte eine Stange Siegellack, die er vom Schreibtische genommen hatte.

»Ein närrisches Ding,« fuhr Herr Faß fort; »hat Bücher gelesen und spricht nun nach der Art, wie die Leute drinnen reden. So ist sie ordentlich vernarrt in das Schloß hier; der Johann hat's uns 'mal gezeigt, als Sie nicht hier waren, für ein gut Trinkgeld, versteht sich; ich verlange so was nicht umsonst. Na, ich muß gestehen, mir ist das neue Haus vom Herrn Apotheker lieber; aber das Mädchen ist einmal vernarrt drein, und so will ich's kaufen.«

»Von dem Vermögen Ihrer Frau?« fragte Alexander.

»Nein, das nicht;« erwiederte Herr Faß, der diese Frage als einen witzigen Einfall belachte, »aber von den achtzigtausend Thalern, die ich von meiner Frauen Tante geerbt habe. Meine zwanzig dazu, macht hunderttausend. Hundertachtzig biet' ich Ihnen: ich behalte Goczyn und die beiden größten Vorwerke, und die andern kaufen mir zwei gute Freunde wieder ab.« – Nachdem er einen Kaufmann und einen Seifensieder genannt hatte, fuhr er fort: »Uebrigens riskiren Sie gar nichts; ich stehe für Alles, und Sie haben nichts zu thun, als das Geld, das Ihnen noch bleibt, in die Tasche zu stecken, und, wo Sie wollen, herrlich und in Freuden zu leben.«

Mit Mühe hatte Alexander ihn bis hierher sprechen lassen. Jetzt stand er auf und sagte ruhig: »Sie entschuldigen, Herr Faß! Ich habe vor dem Essen noch wichtige Geschäfte.« – »Sie wollen nicht?« rief der Bürger, der noch sitzen geblieben war. »Nein;« sagte Alexander in einem Tone, der den tödtlichsten Haß erwecken konnte.

Der Bürger stand auf, zog sich nochmals seine Weste herunter und sagte: »Es thut nichts, ich habe mir's gedacht, daß Sie das erste Mal nicht dran wollen würden. Ich kann mir's auch denken, daß Sie nicht gern verkaufen wollen. Sie werden aber müssen; ich hab' es dem Mädchen versprochen, und es wird nicht anders werden. Uebrigens ist mein Preis ein schöner Preis für jetzige Zeit, und er soll auch bleiben; ich werd' es nie vergessen, daß ich des seligen Herrn guter Freund gewesen bin. Leben Sie recht gesund, liebster Herr von Aarhausen!« und mit einem nochmaligen Lachen nahm er Abschied, nachdem er Alexanders Hand gesucht, aber wegen dessen Stellung nicht gut hatte ergreifen können.

Alexander blieb in einem Unwillen zurück, den man schwerlich beschreiben könnte. Es konnte nicht leicht einen Menschen geben, der so durch und durch vornehm gewesen wäre, als Alexander. Nie, nicht im vertraulichsten Verhältnisse, nicht einmal sich selber gegenüber, ließ er sich gehen; immer war er derselbe, stolz gehalten, fein in der kleinsten Bewegung. Ein unedler Ausdruck war noch nicht über seine Lippen gekommen; aber eben so unfähig war er eines gewöhnlichen Gedankens. Bei ihm war das Vornehme nicht blos Form, es war sein innerstes Wesen selber, und diese vollkommene Uebereinstimmung der Empfindung mit dem Ausdrucke war es auch, was seiner Erscheinung das Ausgezeichnete gab, welchem den ersten Platz einzuräumen man sich unwillkührlich versucht fühlte. Daß er gegen die neu entstehenden Bildungen der Gesellschaft sich unveränderlich abschloß, daß er nur wenige Freunde hatte, und selbst nicht mit diesen, sondern nur mit seinen Brüdern vertraulich war, kann nach dieser Schilderung nur natürlich erscheinen; auch war es ihm bisher gelungen, sich vor Allem, was ihn widerwärtig berührt haben würde, bis auf gelegentliches leichtes Vorüberstreifen zu schützen, und heute war die plumpe Vertraulichkeit wie ein alter Bekannter in dieses Leben, welches er völlig gesichert glaubte, getreten, und es sollte nicht einmal dabei bleiben. Der Wille, sich in dem ehrwürdigen Besitzthum dieses vertrauten Schlosses häuslich niederzulassen, war von dem Eindringling so unbefangen ausgesprochen worden, als habe er ein unbestrittenes Recht, ihn zu hegen. Alexander sagte sich umsonst, daß er diesem Willen ja nur den seinigen entgegenstellen dürfe; er konnte den Unwillen, der ihn ohne Ruhe durch das Zimmer trieb, nicht bemeistern und sich nicht wieder in die heitere Stimmung, die er den Tag über gehabt, zurückversetzen. Immer wieder mußte es mit einem zürnenden Blick seine Verhältnisse überfliegen, ob in ihnen irgend eine Lücke sei, durch welche einzudringen der anmaßende Bürger so sicher glauben könne; immer erschienen sie ihm festgeschlossen, um die Worte, die er hatte hören müssen, gänzlich zu verachten. Die ganze Herrschaft war schon zu den Zeiten seines Großvaters verpachtet gewesen an einen Mann, dem allgemein vertraut wurde, und der in einem herzlich ehrerbietigen Verhältnisse zu seinem Pachtherrn lange Jahre friedlich auf einem der nächsten Güter gelebt und das reiche Besitzthum ganz wie sein eigenes betrachtet und verwaltet hatte. Als Alexanders Oheim dem Vater folgte, war Alles unverändert geblieben, bis der alte Pächter endlich starb. Nun trat sein Enkelsohn in seine Stelle, ein junger Mann, der bis jetzt scheinbar ganz auf dem betretenen Wege geblieben war, dem man jedoch von mancher Seite mehr Verstand, aber weniger Rechtlichkeit als dem alten Pächter zutraute. Alexander hatte schon einige leise Warnungen über ihn erhalten, sie jedoch unbeachtet gelassen, sowol weil ihm alles Mißtrauen zuwider war, als auch weil diejenigen, welche warnten, selber eingestehen mußten, daß sie für ihre Befürchtungen keinen andern Grund hätten, als eine vorgefaßte ungünstige Meinung von dem Charakter des jungen Mannes. So blieb denn Alles wie es war. Alexander betrachtete die Pachtung so gut als erblich in jener Familie, und sah auch jetzt auf den Vertrag, der in drei Jahren erneuert werden sollte, mit dem Gedanken hin, daß schon in ihm ein hinlängliches Bollwerk gegen jeden weitern Versuch des Bürgers und seiner romantischen Tochter vorhanden sei. War auch die Pachtsumme gering gegen den ehemaligen Ertrag der Herrschaft, so reichte sie doch zu den Zinsen der Schulden, so wie zur Führung eines nicht glänzenden, aber völlig bequemen Haushaltes vollständig hin, und mehr wollte Alexander nicht.

Mit diesen Gedanken hatte er es denn auch allmälich dahin gebracht, daß er den Brief, welcher der letzte von denen war, die Edgar mit nach der Residenz nehmen sollte, vollenden und dann fast ganz befreit von dem stürmenden Eindruck in den Eßsaal treten konnte, wo die hellste Erleuchtung, ein schönes Gefühl von sorglichem Walten, welches hier thätig gewesen, erweckte. In der That hatte Mathilde für diesen Abend selber die Tafel angeordnet und ihr mit Früchten und Blumen ein reizendes Ansehen gegeben. Der Saal, welcher seine dunkel getäfelten Wände um diesen blendenden Tisch her ausbreitete, war ebenfalls geschmückt: grüne Kränze wechselten mit Kerzen, die in den Wandleuchtern bald höher, bald tiefer schwebten und brannten, und schöne Gewächse bildeten an passenden Stellen anmuthige Gruppen, während in der warmen Luft duftende Rauchwölkchen sich leise zerstreuten. Als Alexander seiner holden Frau seine frohe Ueberraschung aussprach, sagte sie: »ich wollte dem gütigen vergangenen Jahre danken und das neue festlich empfangen, damit es mir auch so viel Glück bringe.« Alexander sah ihr dankend in die schönen Augen, als Edgar hinzutrat und bedeutungsvoll sagte: »ich glaube, Du hast sehr gut gethan.« – »Nicht wahr?« fragte Alexander, der ihn sogleich verstand; zugleich bemerkte er aber, wie angegriffen Edgar aussehe, und fragte: »Bist Du krank?« – »Müde;« sagte Edgar halblächelnd; »und was ist Dir?« – »Siehst Du es noch?« fragte Alexander; »ich will Dir es nachher sagen.« Sie mußten eilen, sich zu setzen; Alexander nahm seinen gewöhnlichen Platz zwischen seiner Schwiegermutter und Frau von Bayer ein; Edgar flüsterte Herrn von Bayer zu: »tauschen wir heut einmal?« – »Was fällt Ihnen ein?« erwiederte dieser; »ich soll doch nicht neben meiner Frau sitzen?« – »Das ist wahr,« sagte Edgar, »daran hatte ich nicht gedacht.« Er nahm sich zusammen und setzte sich zwischen Frau von Bayer und Hortensen, welche ihn noch immer ängstlich ansah, während er sich in den ersten Minuten nur mit seiner Suppe beschäftigte, und zwar anscheinend so vertieft in den Teller war, daß Frau von Bayer bemerkte: er scheine die letzte Mahlzeit im Jahre als ein äußerst wichtiges Geschäft ansehen und betreiben zu wollen. Lächelnd sah er auf und sagte: »Gnädige Frau, wenn Sie, wie ich, acht Stunden auf der Jagd zugebracht hätten, Sie würden das Essen nicht so leichtsinnig behandeln.« – »Gewiß;« seufzte Herr von Bayer vom andern Ende des Tisches her; »ich habe jammervollen Hunger.« – »Sowol der Jammer als der Hunger soll gestillt werden, lieber Freund,« sagte Alexander; »einstweilen sehen Sie sich die Blumen an.« – »Schön,« erwiederte Herr von Bayer, »sehr schön; aber ich werde sie erst recht betrachten können, wenn ich satt bin.« – »Nun, so essen Sie,« sagte Alexander, »die Schüssel kommt eben zu Ihnen.«

Edgar hatte unterdessen sein Glas gefüllt und geleert und die Gläser seiner Nachbarinnen Herrn Altheim hingehalten, der vor einer Bowle Ananaspunsch saß. Als Edgar Hortensen das ihrige gefüllt darreichte, traf ihn ein Strahl aus ihrem Auge so glühend mild, daß sein Auge ihr unwillkührlich den Blick, den es nur in den besten Stunden hatte, zurückgab. Auf ihrem Gesicht leuchtete davon ein leises Roth auf, so zart, als das im Innern einer blassen Rose; es zeigte ihm, wie es in ihr vor seinem Blicke Morgen geworden sei, wenn gleich für die Andern es Abend war. Er wandte sich halb von ihr, goß sein Glas wieder voll, wies die Schüssel von sich, wandte sich dann wieder ganz zu Hortensen und zeigte ihr das Glas, indem er auf englisch leise sagte: »der Ihre!« Dann trank er den dunkelrothen süßen Wein, und sie hatte auch ihr Glas genommen, trank einen Tropfen und küßte den hellen Rand des Glases, weil sie den Geliebten hier nicht küssen durfte. Edgar sah den Kuß und sagte es ihr mit seinem Blicke; er fühlte sich wieder zu ihr hingezogen, und hätte sie diesen Zug still gewähren lassen, er wäre mächtig genug gewesen, ihr den schönen Mann auf lange Zeit zu sichern; aber sie machte diesen wieder undankbar, indem sie ihn zu reich machte. Er hatte ihre Hand zu einem flüchtigen Drucke gesucht, sie hielt die seinige fest, und er sah, daß Mathilde das bemerkte und sich erröthend abwandte. Ein sonderbarer Unmuth ergriff ihn; er hätte in diesem Augenblick viel darum gegeben, wenn weder Mathilde noch Frau von Hain etwas von seiner Verbindung gewußt hätten; beide erschienen ihm wie strenge Richterinnen, deren Ausspruch er nicht verspotten konnte, weil er im innersten Herzen fühlte, daß sie Recht hätten. Er zog seine Hand aus der Hortensens und sah finster vor sich hin, indem er die Speisen zurückwies und nur den Wein häufig genoß. Nur von Zeit zu Zeit warf er einige Worte in die allgemeine Unterhaltung, welche besonders durch heitre Scherze mit den ältesten Kindern, die an der Tafel Theil nehmen durften, fröhlich wurde. Dann fühlte er Mitleid mit Hortensen, welche seit seiner unerklärlichen Veränderung immer blässer geworden war. »Ich wollte, Sie wären ohne Vorwurf mein,« sagte er kaum hörbar zu ihr. Es war zum ersten Male, daß er eine Reue aussprach; die Thränen fielen hell aus Hortensens Augen herunter. »Warum das nun wieder?« flüsterte er jetzt zornig; »sollen Alle wieder uns ansehen?« – »Ich bin freilich eine Thörin;« erwiederte Hortense, und ein Gefühl von heftigem Unwillen nahm auch in ihrer Seele die Stelle des Schmerzes ein. »Und ich ein Thor;« murmelte Edgar, und doch hatte sie, seit er sie erzürnt wußte, wieder neuen Reiz für ihn.

Man stand auf und ging in das Gesellschaftszimmer, an welches die Bibliothek stieß. Hier bedeckten dunkle Tapeten die Wände. Alexander meinte immer, in solches Schloß gehöre keine helle Farbe, und so kam es, daß die Zimmer bei Tage alle etwas Düsteres hatten, was sich nur vor den abendlichen Lichtern erheiterte. Was jedoch zum Behagen irgend beitragen konnte, war reichlich vorhanden; auch hier standen, von schönen Lampen beleuchtet, die bequemsten Sitze, die Tische zur Hand und in zierlichen Gefäßen die ersten Hyacinthen. Wem es dennoch hier nicht gefiel, für den waren die Thüren zur Bibliothek geöffnet, welche gleichfalls erleuchtet war und eine reiche Auswahl von Altem und Neuem darbot, wovon bis jetzt aber nur Herr von Altheim nebst seinem ältesten Zögling Wilhelm Gebrauch gemacht hatte.

Es war heute fast um eine Stunde später gegessen worden, den langen Sylvesterabend etwas abzukürzen. Nicht daß man in den vergangenen Tagen nicht auch schon bis Mitternacht aufgeblieben wäre: es war öfter als einmal vorgekommen, und die Zeit war bei der geheimnißvollen Stunde nie schleichend angelangt; aber heute war man gewissermaßen dazu verpflichtet, und so konnte der Abend sich doch etwas dehnen. Deshalb hatte man später gegessen und war länger bei Tisch geblieben, und doch waren noch mehr als drei Stunden bis zu dem Augenblicke, der zwei Jahre von einander trennen sollte.

Herr von Bayer kam zu Edgar und sagte, indem er auf Hortense blickte, die schweigend bei ihrer Arbeit saß: »Bewölkung da wie draußen.«

Edgar zuckte mit den Schultern und nahm ein Buch in die Höhe.

»Und was hat denn die Wolken zusammengetrieben?« fragte Herr von Bayer; »Ihre Laune?«

»Ja.«

»So? Und Ihr Grund, launisch zu sein?«

»Ich kann es nicht leiden, wenn man jeden Augenblick den ganzen Tisch zu seinem Vertrauten macht.«

»Das haben Sie aber heute gethan!«

»Und was hat man erfahren?«

»Daß Sie sehr übler Laune waren.«

»Das ist seit zehn Jahren ein öffentliches Geheimniß.«

»Das ist wahr. Sie sind manchmal so unausstehlich – Sie nehmen mir das nicht übel?«

»Wie könnt' ich das?«

»Daß ich wirklich nicht weiß, wie Sie dabei so liebenswürdig sein können. Wissen Sie es?«

»Vielleicht.«

»So lehren Sie mich's, Freund.«

»Wozu? Sie haben Ihr Theil.«

»Ja, eine Frau. Sie sind ein glücklicher Mensch, Aarhausen; Sie haben noch alle, die frei sind, oder – sich frei machen.«

»Nein, Sie sind ein glücklicher Mensch, Bayer; Sie haben etwas Bestimmtes, Sicherheit, Ruhe.«

»Wo sind Ihnen diese Gedanken gekommen?«

»Heute bei'm Tische. Wie allerliebst war der aufgeputzt. Das kann nur eine Hausfrau.«

»Sie hätten Ihre Schwägerin heirathen sollen,«

»Ich weiß nicht recht, wie ich das hätte anfangen sollen.«

»Nichts war leichter, lieber Freund; Sie schoben bei der Trauung Ihren Bruder weg und traten an seine Stelle.«

»Damals hatte ich den Tisch noch nicht gesehen.«

»Lassen Sie sich's auch nicht leid thun. In der Ehe ist es langweilig, vorher bestimmt zu wissen, wie Alles kommen und gehen wird; man erlebt nichts mehr, höchstens Kindergeschrei, zerbrochenes Porzellan, verdorbene Braten. Was können Sie dagegen nicht Alles erleben! Sie können Nebenbuhler bekommen, Duelle; Sie können sich selbst anderweitig verlieben – treu bleiben; der Mann kann sterben.«

»Das verhüte der Himmel!«

»Was fällt Ihnen ein. Wenn er stirbt, wem gehört da die Frau, als Ihnen?«

»Eben darum; der Himmel wolle mich gnädig bewahren!«

»Ich begreife Sie nicht. Sie sprechen eben vom Glück der Häuslichkeit –«

»Aber nicht mit einer Frau, die mich liebt. Wenn ich heirathe, will ich Ruhe haben.«

»Und die läßt die schöne Frau Ihnen nicht?«

»Wenn Sie das nicht Ruhe nennen, bald in Gluth erstickt, bald von Thränenschauern durchregnet zu werden.«

»Sie haben Recht. Gott sei Dank, bei meiner Frau hab' ich von dergleichen nicht zu leiden; aber auch die kleine Frau scheint daran nicht zu denken,«

»Nein, Alexander hat vernünftiger gewählt, als wir Alle. Es ist ein liebenswürdiges Geschöpf.«

»Schön, Sie haben sich bekehrt.«

»Vollkommen. Man muß aber auch solche verschleierte Wesen länger kennen.«

»Verschleiert, ja, das ist sie. Die Bescheidenheit ist ihr Schleier, und jede Schönheit würde gewinnen, wenn sie ihn trüge; aber wie wenige Frauen wissen das, werfen ihn ab, geben sich allen lüsternen Blicken Preis –«

»Frieden, lieber Freund, um des Himmels willen! Wo soll man sicher sein, wenn Sie sogar anfangen, in Bildern zu reden. Uebrigens winkt Ihre Frau Ihnen, Sie sollen ihr die Noten umdrehen.«

»Das ist auch so etwas von der ehelichen Glückseligkeit; nehmen Sie sich's zu Herzen.«

»Ich heirathe keine Frau, die musikalisch ist.«

Herr von Bayer wollte gehen, wandte sich aber noch einmal zurück. »Hören Sie, Aarhausen, mir bleibt's nicht auf der Zunge – Sie haben Recht mit der Gluth und den Thränenschauern, aber eigentlich taugen Sie nicht viel.«

»So wenig als Sie wollen;« erwiederte Edgar.

Herr von Bayer ging und erfüllte die Pflicht eines artigen Ehemannes. Seine Frau spielte lächelnd sein Lieblingsstück, und rief dann Hortensen zu einem glänzenden Rondo, welches beide Damen vortrefflich eingeübt hatten. Dann fragte Hortense mit Gleichgültigkeit Edgarn, ob er singen wolle. Er verneinte es scharf; sie verlor sich, ohne empfindlich zu scheinen, sogleich in die reizenden Melodieen eines Notturno, aus welchem die zärtlichste Sehnsucht seufzte. Alle hörten ihr mit wahrem Entzücken zu; Edgar aber wurde innerlich so heftig, daß er am liebsten die Noten zerrissen hätte. Nicht daß er gefürchtet hätte, sie wirklich zu verlieren, dazu kannte er seine Macht zu gut, aber sie sollte auch nicht wagen, den Schein anzunehmen, als könne sie frei sein. Auch wußte er sie gleich zu bestrafen. Nachdem er ihr im falschesten Tone Artigkeiten über ihr Spiel gesagt, bat er Herrn von Bayer zu singen und schien die kecksten Lieder gerade am liebsten zu hören. Herr von Bayer, der ein großes Talent für den komischen Gesang hatte, ließ sich nicht bitten, verband die verschiedensten Lieder bald sprechend, bald spielend, durch die burleskesten Uebergänge, und ließ sich überhaupt in seiner Laune ganz frei gehen, so daß er den Minuten die schnellsten Flügel anheftete. Endlich nachdem er sich müde gesungen, nahm er, wie er sagte, um sich auszuruhen, eine Posse zur Hand, und las sie mit unübertrefflicher Lebendigkeit vor. Seine Bemühungen waren jedoch in einer Art vergeblich; er konnte wol die Zeit, aber nicht die Schatten von drei Stirnen vertreiben; nur die Kinder hörten ihm zwar schüchtern, aber mit leuchtenden Augen zu. Doch war schon mit der Vertreibung der Zeit viel gewonnen; die Uhr zeigte die nahe eilfte Stunde, und die Wanderung nach dem Ahnensaale lag nun nicht mehr, wie nach dem Essen, fern im Nebel. Die Kinder wurden, außer Wilhelm, zu Bette geschickt; und Mathilde machte den Thee, den man heiß trank, um sich vor den Schauern des alten Saales zu verwahren; zugleich griff man nach den malerischen Ansichten, die in Heften dalagen. Edgar blickte so starr in das eine, daß Frau von Bayer neugierig wurde und von der Seite auch hineinsah. »Ach, Sie sind wieder in Venedig,« rief sie, als sie den Markusplatz erkannte. »Venedig!« wiederholte Edgar gepreßt; »ich wollte, Sie hätten den Namen nicht ausgesprochen.« – »Nun, das ist einzig,« sagte sie lachend; »Sie starren wie gebannt auf das Kupfer und können die Unterschrift nicht hören.« – »Eben, ich hatte vergessen, daß ich hier sei, und Sie wecken mich auf,« sagte Edgar. »Sehr artig, wahrhaftig!« rief sie; »ich dächte, Sie wären lange genug dagewesen.« Herr von Bayer las in Edgars Zügen eine peinliche Erregung; Niemand war rücksichtsvoller als er, so wenig man es ihm zugetraut hätte; er ließ den Scherz, den er machen wollte, augenblicklich fallen und sagte: »Sie haben in Venedig viel gelebt?« Edgar fuhr sich mit der Hand über die Stirn; »ich wollte, ich könnte immer so leben.« – »Mit der fremden Welt?« fragte Frau von Hain in dem ernsten Tone, der ihr eigenthümlich war. »Mit den Todten;« erwiederte Edgar; »das Treiben der Lebenden war für mich nicht da. Ich las Venedigs Geschichte. Die öden Paläste bevölkerten sich mir. Ich träumte, wie ein Knabe von den Römern träumt. So vergingen meine Tage.«

»Und wenn es Nacht wurde?« fragte die ernste Frau.

»Wenn es Nacht wurde,« antwortete Edgar, »fuhr ich auf den Lagunen. Mein Gondolier störte mich nicht; seine Geliebte war ihm gestorben, und er schwieg, weil er an sie dachte; so war ich allein zwischen dem Himmel und dem Wasser; die Kirchen und Klöster sah ich von Weitem dämmernd: feine Musik schlich sich wol herüber. Es waren wunderbare Nächte; ich konnte mir manchmal einbilden, ich könne auch noch einmal etwas thun.«

»Und können Sie das nicht?« fragte Frau von Bayer.

»O gewiß,« sagte Edgar kalt; »man kann Alles. Ja, ich kann viel thun, – Rekruten einüben, mich an die Spitze der Schwadron werfen, wenn es Krieg und der Rittmeister todtgeschossen werden sollte; ich kann auch für das Vaterland sterben, wie es heißt. O ja, ich kann viel thun!«

»Und was giebt es Höheres, als den Tod für das Vaterland?« fragte Herr Altheim; »was können Sie mehr wollen?«

»Was ich mehr wollen kann?« wiederholte Edgar und warf dem jungen Mann den vollen verachtenden Blick seines stolzen und jetzt flammenden Auges zu; »was unsre Zeit nicht geben kann, weil sie mit kleinlicher Gerechtigkeit Alle betheiligen soll – Kränze um die Stirn eines Einzigen, eine Stelle, wo nur ich stände, Herrschaft über Tausende, Haß und Liebe von Tausenden, ein Geschick, wie es oft in einer Nacht sich aus der Dunkelheit enthüllte und aus der Höhe Strahlen warf – das wollt' ich wollen – wenn jetzt noch ein solches in der Welt wäre. Aber das giebt es nicht mehr.«

»Nirgends mehr?« fragte Frau von Hain.

»Nirgends;« antwortete Edgar. »Die Zeit, in welcher der Mann galt, ist vorüber. Jetzt giebt es nur Größe in Massen, Gleichheit. Die Höhen sind abgetragen worden, um die Tiefen zu füllen. Es ist Alles Gemeingut; die Völker handeln, Monopole werden nicht mehr geduldet, die Einzelnen können nur noch auf dem Papiere herrschen. Wer nicht schreibt, muß thun, was an seiner Stelle eben zu thun ist. Nun sagen Sie mir meine Aussichten.«

»In der Zukunft giebt es keine;« sagte Alexander, der mit schmerzlichem Antheile zugehört hatte; »darum stehe bei der Vergangenheit.«

»Und sinke mit ihr?« fragte Edgar. »Ich habe auch schon daran gedacht; in Venedig rief es mich aus jeder Säule zum Tode, – das Leben sei öde. Aber ich will der Zeit nicht den Triumph gönnen, daß Sie mich bezwungen habe. Sie hat uns gezwungen, uns're uralten Rechte, in denen wir, über die Menge herrschend, wohnten, zu verlassen – gut, ich bin mitten in das Gewühl ihrer Menschen getreten, und ich will dastehen; ich will das Leben bis an's Ende durchmachen, und sehe ich dann, daß es nichts hatte, was der Mühe werth war, nun, so kann ich es ja um so besser verachten.«

»Und Alles, was es geben kann?« fragte Hortense, nun zum ersten Male sprechend, und ihre Stimme klang, als ob die Seele, aus der sie kam, bitterlich weine.

»Alles!« sagte Edgar bitter. Er sah vor sich nieder; seine Lippen zuckten; Hortense stand langsam auf und trat an ein Fenster. Alle Andern schwiegen tief bewegt. Ein Leben hatte sich vor ihnen enthüllt und ihnen die tiefe Wunde gezeigt, aus der es innerlich verblutete. Bis jetzt hatte es immer stolz und ruhig vor ihnen gestanden; die Lippen, die sich zu solchen wunderbaren Tönen öffnen konnten, verschmähten von Leiden zu erzählen und lächelten, und nur in einzelnen Augenblicken hatte die Bitterkeit dieses Lächelns Edgars Freunde veranlaßt, sich flüchtig die Frage zu thun: ob er etwa nicht glücklich und seine bisweilen seltsame Laune nicht der Ausbruch innerer Stürme sei? Aber schon am nächsten Tage wieder erschien er so sicher, so seine Umgebungen mit Ruhe überschauend, daß sie diese Vermuthungen immer wieder aufgaben und ihn in seinem ruhigen Gange mit Antheil, aber ohne Sorge betrachteten. Edgar war reich an Freunden; er zählte die Ausgezeichnetsten darunter, weil er stolz war und man es der Mühe werth hielt, ihn zu suchen. Dazu blieb er stets, wie er einmal gewesen war; wenn er sich hatte finden lassen, war man seiner sicher. So bot ihm Mancher die Hand, der sie sonst nicht zu reichen pflegte, und er nahm sie, als wenn es ganz einfach sei, daß ihm dieses Zeichen werde. Auch von denen, die ihn jetzt gehört hatten, war Keiner, der nicht den ernstesten Antheil an ihm genommen hätte, und so mußte es einen tiefen Eindruck machen, daß er seinen finstern Schmerz zum ersten und vielleicht auch zum letzten Male aussprach: denn sie wußten, dieser habe wild toben müssen, um Edgarn zu zwingen, daß er ihn für Augenblicke frei gab, sie wußten aber auch, daß Edgar ihn bald wieder bezwungen haben und wieder fest in den stillen Kerker der Brust verschließen werde. Zugleich sagten sie sich: ihm werde dann die Erinnerung an die Stunde, in welcher der Schmerz stärker als er gewesen, vielleicht peinlich sein, und so trat Keiner ihm mit ausgesprochener Theilnahme nahe, sondern man bereitete sich scheinbar ganz unbefangen zu der Wanderung in das Reich, welches die alte Zeit in dem einsamen Theile des Schlosses noch hatte und mit den Weisen unter den Vögeln, den Eulen, theilte. Nur Hortense und Mathilde konnten sich nicht beherrschen; Beide weinten leise, Hortense um ihre Liebe, die dem Geliebten so wenig galt, Mathilde um das Leiden des Mannes, der ihr so hoch erschien. Edgar ahnte diese Thränen, die ihm flossen; er trat zu Mathilden hin, wo sie im Schatten stand und ihren Mantel genommen hatte. Er nahm ihr den Mantel ab, gab ihn ihr um, beugte sich dann nieder und sah ihr in das Gesicht. Sie wandte es halb ab, und hüllte sich den Kopf dicht in einen schwarzen Schleier.

»Ich fürchte mich, daß eine Eule mir an das Haar fliegen könnte,« sagte sie mit einer Stimme, in welcher die Thränen zitterten. – »Sie weinen!« sagte er; »warum, Mathilde?« – Sie antwortete nicht, ihre Thränen flossen schneller. »Weinen Sie nicht, es thut mir weh;« sagte er; »seien Sie ruhig, ich bitte Sie.« – Alexander hatte geschellt, die Bedienten mit Fackeln standen an der Thür. Edgar nahm Mathildens Arm und ließ die Andern, Herrn von Bayer mit Hortensen, vorausgehen. Langsam folgte er, er schien Mathilden Zeit lassen zu wollen, sich zu fassen, ihm war es schon völlig gelungen; sie fühlte das und wurde allmälich auch wieder ruhiger. Er faßte sanft die Hand, die auf seinem Arme ruhte, und sagte: »Der Schmerz hat nur in Augenblicken Gewalt; eigentlich ist er der Seele unterworfen. Auch mir fehlte nur heute die Kraft, Sie werden mich nicht oft so sehen.« – »Ich habe Alles gefühlt, was Sie sagten;« antwortete Mathilde leise. »Ich habe Sie verkannt,« sagte er; »mir hat lange der Sinn für Ihr reines Wesen gefehlt; Sie sind gegen Heinrich sehr gütig, darf auch ich etwas von Ihnen hoffen?« – »Wenn ich Ihnen etwas sein kann –« sagte Mathilde, und das Herz schlug ihr heftig, »aber ich kann das nicht glauben.« Es wurde mit einemmale dunkel um sie her. Mathilde bemerkte es nicht, Edgar aber sah, daß die Andern schon um die Ecke des Ganges gebogen waren, und führte Mathilden rascher vorwärts. Als auch sie an die Ecke kamen und die Fackeln ihnen wieder leuchteten, sagte er: »Seien Sie meine Freundin, oder wollen Sie meine Schwester sein? Sie werden mir dann noch mehr geben.« Sie lispelte leise unverständliche Worte; er schonte sie, denn er fühlte, daß dieses plötzliche Nahetreten, welches durch sein früheres Benehmen so wenig vorbereitet worden war, sie bewegen mußte; so drang er nicht auf Antwort, sondern deutete im Vorübergehen auf ein Fenster und sagte: »Sie wissen, daß meine Eltern hier wohnten?« Als sie bejahte, fuhr er fort: »Aus diesem Fenster wäre ich einst beinahe hinausgestürzt, wenn nicht Alexander mich mit fast übernatürlicher Kraft festgehalten hätte, bis Hülfe kam.« Mathilde sah sich fast erschrocken nach dem Fenster um, an dem sie schon vorüber waren; jetzt kamen sie an den geheimnißvollen Theil des Schlosses und traten durch eine hohe, schmale Thür in die alterthümlichen Räume, wo die graue Zeit, welche die Männer in Harnischen gesehen und das Rasseln der großen Schwerter gehört hatte, wohnte und die Eintretenden wol hätte mit Schauern schütteln können, wären sie nicht Kinder aus alten, ihr wol bekannten Häusern gewesen. So aber saß sie in ernstem Schweigen, und sie gingen auch schweigend durch ihr Geräth und Alles, was ihr gehörte und von Alexander sorgfältig gesammelt worden war, hindurch und immer weiter, bis endlich die Thüren zum Ahnensaale sich mit einem feierlichen Klange aufthaten und eine dumpfe Luft, wie ein Gruß von den Todten, welche sie zu besuchen kamen, sie anwehte. Langsam schritten die Bedienten voran; die Bilder an den Wänden erschienen bei dem Lichte der Fackeln und verschwanden wieder in der Dunkelheit, die hinter den schweigend Vorwärtsgehenden zurückblieb; die Fenster ließen den Blick in die wolkige Nacht frei, in welcher das Meiste dunkel war. Edgar sagte tief gedämpft: »solche Nächte kenn' ich; als Knabe hab' ich sie hier in Schauern, die ich liebte, verbracht. Am Tage las ich hier die alten Chroniken, welche in dem nahen Zimmer stehen. Was träumt' ich da!«

Man war an das Ende des Saales gekommen, Alexander hielt Frau von Hain an; auch die Uebrigen blieben stehen, blickten zurück und konnten sich eines leisen Grauens nicht erwehren. Alexander hatte den Dienern gewinkt, und zahlreiche Kerzen, welche schon in Armleuchtern bereit standen, wurden angezündet; zugleich erschien Johann mit einem dampfenden Theekessel, und bereitete geschickt den Punsch, während Alexander die Bilder erklärte. Es waren einige von den Fürsten Odalinski, den frühern Besitzern des Schlosses, darunter, und besonders von diesen waren schauerliche Nachrichten verzeichnet, die Alexander nun erzählte und so gewissermaßen die düstern Gestalten belebte. Edgar und Mathilde kannten dieses Alles schon; sie folgten den Andern in einiger Entfernung. Edgar sagte: »Ich werde bei Ihnen die Verstellung von mir legen; wollen Sie Geduld mit mir haben?« – Mathilde erhob die Augen zu ihm, er las ihre ganze Seele darin. »Ich danke Ihnen,« sagte er; »verurtheilen Sie mich nicht, wenn ich es auch verdiene.« Sein Auge ruhte bei diesen Worten auf Hortensen, die vor ihm ging; Mathilde verstand ihn und sagte leise: »ich kann nie Ihre Richterin sein.« – »Nein, seien Sie es nicht!« sagte er; »bedauern Sie, was Sie nie kennen werden; die Leidenschaft und die Reue.« –

Die Mitternacht war ganz nahe; ehrerbietig sagte Johann es seinem Herrn; schweigend traten Alle um den Tisch, wo die rauchenden Gläser bereit standen. Langsam schlug die Schloßuhr. »Der Zukunft!« sagte Alexander ernst; die Gläser tönten leise, Edgar stand bei Mathilden. »Der Zukunft!« wiederholte er. Sie sah zu ihm auf, er wagte es, neigte sich, seine Lippen berührten ihre Stirn, die Uhr that den letzten Schlag, und das neue Jahr war angebrochen.


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