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Dreizehntes Kapitel.

Es waren zwei Monate seit Alexanders Tode verflossen, und im Hause der Frau von Hain wurde Alles zu einer Reise Mathildens vorbereitet.

Mathilde war gleich nach dem schrecklichen Ereignisse zu ihrer Mutter gebracht worden und bis jetzt dageblieben. Edgar und Heinrich allein waren der Leiche zu der Grabstätte gefolgt, welche sie im Walde an einer einsamen Stelle, wo Alexander mit Mathilden und Heinrich bei ihren Spazierritten manchmal abgestiegen war, gewählt hatten. Herr Faß hatte gegen diese Wahl nichts eingewendet; der arme Mann war so erschrocken und unglücklich, als man nur sein kann, und feierte die Hochzeit seiner Tochter nicht in Goczyn, sondern in seinem alten Hause im Städtchen, und auch da nicht mit rechter Freude. Nach dem Begräbniß war Heinrich Mathilden gefolgt, Edgar nach der Residenz zurückgekehrt.

Edgar war heftig erschüttert. Als er zum ersten Male Herrn von Bayer wiedersah, bedurfte er einiger Minuten, um sich so weit zu fassen, daß er sprechen konnte. Auch Herr von Bayer konnte seiner Bewegung kaum gebieten und fragte nur, gleichsam wider Willen dazu getrieben, nach den näheren Umständen dieser That, welche so ungeahnt und darum doppelt entsetzlich war.

»Hat er denn niemals etwas geäußert, woraus Sie hätten schließen können, daß er diesen Gedanken hegte?« fragte er heftig.

»Nie;« antwortete Edgar. »Er war nicht glücklich, das wußten Sie, wie wir Alle; aber mir ist selbst die Möglichkeit eines solchen Entschlusses von ihm nicht eingefallen.«

»Er entschuldigte aber doch den Selbstmord?«

»Wie er Vieles entschuldigte, ohne es zu vertheidigen. Er sprach überhaupt nur im Allgemeinen davon, nur als von einer Erscheinung im innern Gebiete der Menschheit. Nie wandten wir uns von solchen Gesprächen auf uns selber zurück. Ich verliere mich in dem Nachsinnen über das, was ihn getrieben hat.«

»Sie liebten seine Frau, Aarhausen?«

»Davon wußt' er noch nichts.«

»Wissen Sie das?«

»Mein Leben dafür. Hält' er es gewußt, so würden seine letzten Worte meine Vereinigung mit ihr bestimmt haben.«

»Wär' es denn wegen des Verkaufes gewesen? Aber dazu konnt' er ja nicht gezwungen sein, mochten die Sachen auch noch so schlimm stehen.«

»Er glaubte es zu sein;« antwortete Edgar und theilte dem auf- und niederschreitenden Freunde die Geschichte des Verkaufes mit, ohne den Antheil, welchen er selber daran gehabt hatte, zu verschweigen. Edgar war zu stolz, um etwas, das er gethan hatte, jemals zu verheimlichen, besonders wenn es etwas Tadelnswerthes war. Er erwartete dann mit Kaltblütigkeit Vorwürfe, Mißdeutungen, Alles, was nur folgen konnte, und dieses Mal wurde ihm nichts erspart. Herr von Bayer, der nur sehr selten, aber dann auch ordentlich heftig wurde, warf ihm in den schonungslosesten Ausdrücken seine Selbstsucht vor und verließ ihn endlich, indem er sich so ziemlich ganz von ihm lossagte. »Hätten Sie mir nur ein Wort gesagt,« schloß er, »ich hätte Alles gethan, und mir wäre auch Alles gelungen. Jetzt nutzt es nichts, daß ich es erfahren habe, und auch Sie brauchen mich nicht, ich sage Ihnen also Lebewohl.«

Einige Tage später erhielt Edgar von Hortensen, die auf dem Lande wohnte, folgenden Brief:

 

»Wenn Sie die Schriftzüge der Hand erkennen, die Sie sich vor einem halben Jahre erbaten und seit einem dunklen Abende nicht mehr gefaßt haben, so erschrecken Sie nicht; es ist zum letzten Male, daß Sie diese Züge sehen, und Sie sollen keine Vorwürfe darinnen lesen.

Was furchtbar und unerwartet in Ihr Leben getreten ist, habe ich durch Bayer erfahren, der Sie zugleich auf das Heftigste anschuldigte. Sie sollen selbst ein solches Ende geahnt haben. Ich kenne Sie, Edgar, wie Sie Ihren Bruder kannten, als Sie sagten: er würde seine Frau Ihnen vermacht haben, wenn er um Ihre Liebe gewußt hätte. Er hätte es gethan, und Sie dürfen ohne Vorwurf durch seinen Tod glücklich werden.

Werden Sie es denn. Ich gebe meine Ansprüche an Sie auf. – Oder habe ich etwa keine mehr? Bilde ich mir nur ein, Sie frei zu lassen, während Sie schon frei sind?

Ich glaube beinahe, daß es so ist, und doch möcht' ich so gerne auch noch etwas für Sie thun, ehe ich auf immer von Ihnen scheide. Was denn? Ihnen vergeben? O wie aus vollem Herzen; aber wer weiß, ob Sie sich Vorwürfe machen, und dann wäre ja die Vergebung unnütz. Und so bin ich wirklich so arm, daß ich nichts, nichts mehr für Sie habe?

Nein, ich segne Sie; Edgar, die Verlassene, die Sie so unaussprechlich geliebt hat und die von nun an einsam und hoffnungslos leben wird, die Verlassene segnet Sie. Seien Sie glücklich – mit einer Andern. Ich habe Ihr Herz nicht stillen können – möge Mathilde es können; mögen Sie mich nie vermissen! Schreiben Sie mir nicht: ich will nun nichts mehr in der Welt.«

 

Edgar las diesen Abschied mit ernster Aufmerksamkeit, aber er fühlte ihn nicht; er konnte nichts fühlen, als seine brennende Sehnsucht nach Mathilden, von welcher er durch Wilhelm Nachrichten erhielt, aber sonst sowol durch sein eigenes Gefühl, als auch durch ihr beharrliches Schweigen für den Augenblick gänzlich getrennt war. Hortensens letzte Worte buchstäblich nehmend, schrieb er nicht an sie: was hätte er ihr auch sagen sollen? Er überließ es ihr, ihre Liebe zu besiegen, oder als ein schmerzliches Glück zu hegen, und schloß sich mit der seinigen von der Welt ab, um über den Briefen Wilhelms zu brüten. Der Knabe schilderte den traurigen Zustand der Schwester mit eigener tiefer Trauer.

»Wir sehen sie fast gar nicht;« schrieb er; »sie ißt allein und wohnt in einer kleinen Stube am Ende des Hauses, die abgesondert liegt und auf einen schattigen Theil des Gartens sieht. Da sitzt sie oft den ganzen Tag am Fenster, ohne etwas zu thun, als starr hinauszusehen. Manchmal kommt sie heraus und einen Augenblick zu uns, wo wir gerade sind; aber dann spricht sie nur wenig Worte, und wir dürfen, auf Befehl meiner Mutter, nichts von Goczyn erwähnen; auch von Ihnen darf Keiner sprechen. Meine Mutter sagt: das erinnere die arme Schwester zu sehr an ihr Unglück. In die Kirche fährt sie jeden Sonntag und weint dann immer bitterlich. Ach, Keiner von uns kann froh sein, so lange wir sie so sehen; selbst meine jüngsten Geschwister spielen nur leise für sich hin. Ich schleiche mich mit Mariechen manchmal in die Gebüsche, dem Fenster gegenüber, um sie sitzen zu sehen; dann sieht sie blaß und still wie ein Schatten aus.«

In einem andern Briefe schrieb er:

 

»Ihre theilnahmlose Stille ist einer ängstlichen Unruhe gewichen; sie hat keine Rast mehr in ihrer Stube und wandert den ganzen Tag draußen auf den waldigen Anhöhen, und Abends bis in die Nacht hinein im Garten umher. Heinrich geht immer mit ihr und führt sie, wenn sie müde wird. Sie sprechen kein Wort mit einander, und er sieht fast so bleich aus, als sie. Meine Mutter härmt sich auch; ich habe sie schon zweimal weinen sehen. Ach, wie wird das enden!«

 

Zugleich empfand der Knabe mit dem ersten Schmerze seines Lebens eine kindliche Sehnsucht nach der ersten Erscheinung seines Lebens; er hatte den Glauben, Edgar würde gewiß die Schwester trösten können, und jeder Brief schloß mit dem bangen Wunsche, daß er bei ihnen sein möchte. Einem Anderen gegenüber hätte Edgar mit mancher Entschuldigung geantwortet; aber dem Knaben konnte er nichts Unwahres sagen, er begnügte sich daher mit der Versicherung: er könne nicht kommen, so gern er es auch möchte, und bat ihn nur immer wieder, ihm recht ausführlich über die Schwester zu schreiben. So waren, wie wir schon sagten, zwei Monate vergangen; da schrieb Wilhelm in der höchsten Bangigkeit, in der ängstlichsten Bewegung: Mathilde wolle fort, wolle nach Venedig.

 

»Sie hat der Mutter unter tausend Thränen erklärt, sie halte es nicht mehr aus, die Luft erstickte sie. Die Mutter hat ihr Alles vorgestellt, ihre geschwächte Gesundheit, die lange Reise, die Angst, in der sie uns zurückließe; sie blieb dabei, sie könnte es hier nicht aushalten. Heute hat sie so gebeten, daß die Mutter einwilligte; aber mit welcher Bekümmerniß! Als Mathilde hinaus war, sagte die Mutter weinend: ›wenn Edgar käme!‹ Ich fragte: ›Nicht wahr, der könnte die Schwester zurückhalten?‹ und die Mutter antwortete: ›ja.‹ Aber als ich fragte, warum sie Ihnen das nicht schriebe, sagte sie: ›das kann ich nicht.‹ Nun weiß ich nicht, warum die Mutter Sie nicht bitten kann, zu kommen; aber ich kann es und thue es hiermit. Ach ja, kommen Sie und zwar recht schnell; denn Mathilde will in einigen Tagen fort, und Heinrich soll mit ihr. Wenn Sie nichts können, dann kann Niemand etwas, und wir sehen sie nicht mehr wieder; denn sie stirbt in der Ferne.«

 

Nachdem Edgar dieses Mal nur mit Mühe und auf wenige Tage Urlaub erhalten, reis'te er in der heftigsten Aufregung ab. – Was war es, was Mathilde forttrieb? Eigene Reue? Heinrichs stumme Verfolgung? Doch dieser sollte sie ja begleiten. Hatte er denn schon von Alexanders Vermächtniß Gebrauch gemacht, und wollte Mathilde es erfüllen und, um das zu können, Edgars Nähe ganz fliehen? Durch den Wunsch der Frau von Hain gleichsam berechtigt, versprach Edgar sich theuer, Mathilde nicht, oder doch nur als seine Verlobte reisen zu lassen.

Daß der Weg sich endlos auszudehnen schien, brauchen wir nicht zu sagen. Endlich war der Ungeduldige im Städtchen Goczyn angelangt, und nun konnte er einem Zuge zu dem Grabe des Bruders nicht widerstehen. Er gab dem Postillon eine Stelle an, wo er auf ihn warten solle, und ging, das Schloß vermeidend, auf einem einsamen Fußsteige in den Wald. Die Grabstätte lag ziemlich tief darinnen; es war eine umbüschte Rasenstelle, mit einer uralten Eiche an einem Ende. An dem ehrwürdigen Baume, umfaßt von den herabgewachsenen Aesten, erhob sich der einfache Rasenhügel, auf welchem Edgar jetzt ein Steinkreuz fand. Dieses Denkmal war in Uebereinstimmung mit der Umgebung ganz schlicht zugehauen; in den Stein gegraben las man darauf die Bitte: »Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.« Der Hügel wie das Kreuz waren mit schönen und noch ganz frischen Kränzen geschmückt. »Sollte Mathilde hier gewesen sein?« dachte Edgar; da hörte er schwerfällige Tritte, und der alte Henne kam mit einer Gießkanne aus der Richtung des Schlosses her. »Sind Sie da, gnädiger Herr?« fragte er, ohne sich weiter überrascht zu zeigen. »Wie Du siehst, Alter;« erwiderte Edgar; »aber was willst Du denn hier?« – »Ich komme die Kränze begießen, welche die gnädige Frau gestern hier gelassen hat;« antwortete der Alte und that, wie er sagte. »Sie war also hier?« fragte Edgar. »Ja,« antwortete Henne, »und die Frau Mutter und der junge Herr auch. Sie kamen Alle zusammen; dann ließen sie die gnädige Frau allein hier und gingen auf dem Fußsteige auf und nieder. Ich stand da drinnen und sah der gnädigen Frau zu. Hat die doch hier gekniet und geweint, als ob ihr das Herz brechen wollte. Und gnädiger Herr, wie sie aussieht! Sie kommt auch nicht mehr wieder von da, wo sie hingeht. Na, und Meine geht auch mit. Da war kein Haltens. Na, da's für die gnädige Frau ist – die alte Hillen soll mir kochen – so wird sich's wol machen.«

Edgar hatte nachdenkend zugehört; jetzt sagte er: »Lebe wohl, Alter, ich muß fort.« – »Wollen Sie zur gnädigen Frau?« fragte Henne. Edgar bejahte; der Alte fuhr fort: »wollen Sie sie nur trösten, oder ihr auch zureden, daß sie hier bleibt?« – »Beides, wenn ich kann;« antwortete Edgar und wollte gehen; der Gärtner folgte ihm aber und sagte: »ich glaube, Sie erhalten sie nicht hier; es leidet sie nicht so nahe bei Goczyn.« – »Ich glaube, Du hast Recht;« sagte Edgar; »möcht' ich selber doch nicht nahe wohnen.« – »Gnädiger Herr,« sagte Henne, und trat Edgarn geheimnißvoll nahe, »es ist auch nicht mehr geheuer im Schlosse; der Herr hat keine Ruhe und – ich mag's hier nicht sagen – aber Sie werden wol wissen, was ich meine.« Edgar lächelte trübe. »Der Herr hat Ruhe genug;« sagte er. »Meinen Sie, daß ihm vergeben ist?« fragte der Alte zweifelhaft und ängstlich; »es ist doch eine schwere Sünde!« – »Gott hat unendliche Vergebung, Alter;« antwortete Edgar, den diese Sorge des alten Dieners rührte; »wir wollen darauf hoffen, so lange wir dürfen.« – »Ich bete alle Abende für des Herrn Seele,« sagte der Alte, »thun Sie's nicht auch?«

Edgar wandte sich zurück nach dem Grabe; die Aeste hüllten es schon in blasses Dunkel. Draußen war noch Abendroth, aber hier so tief im Walde selbst auf der Nasenstelle schon Dämmerung. An der Eiche standen die Blätter still, die Halme des Grases waren ohne Bewegung, aber ein leises Schwirren und Summen von Insekten ging durch den Wald. Edgar trat zu dem Kreuze und sah auf die Stätte nieder, wo der sterbliche Leib des Bruders verweste.

»Wenn mein Gebet Dir helfen kann,« sagte er gedämpft, »so thu' ich's. Vergieb ihm, Gott! Er sei, wo Licht ist. Vergieb auch uns. Wenn meine Liebe eine Schuld ist, so vergieb sie mir. Das Leben ist ein wunderbares Räthsel; laß uns einst die Lösung finden; laß uns zum Lichte kommen. Mich dürstet lange danach. Aber erst will ich Mathilden. Dann gebiete und führe mich – wohin – das bleibe bei Dir, der Du uns mit ewiger Sehnsucht geschaffen hast!«

Edgar bückte sich und brach eine Rosenknospe von einem der Kranze; dann wandte er sich zu Henne und gab ihm die Hand. Der Alte küßte sie, sagte: »Gott behüte Sie, gnädiger Herr!« und sie gingen auf verschiedenen Wegen aus dem Walde. Draußen wartete schon der Postillon, und Edgar fuhr nun der Nacht gleichsam entgegen und bald in ihren Schatten. Diese waren zuerst von den Sternen erleuchtet; dann aber kamen Wolken aus dem Abend an, sogen den Glanz ein und bedeckten den Himmel. Edgar bemerkte das kaum: er dachte an das Wiedersehen.

Es war bald Morgen, als er auf dem Gute der Frau von Hain ankam. Er ließ in einiger Entfernung von dem Hause halten und ausspannen, und ging bei dem verlassenen Wagen langsam auf und nieder. Die Dämmerung brach trübe durch die Wolken. Er sah und hörte Alles erwachen; die Hähne, die Krähen, die Menschen. Einige von diesen kamen nach und nach mit Geräthschaften oder mit Karren verwundert an ihm vorbei. Auch auf dem Hofe der Frau von Hain rührte sich das Gesinde. Endlich war es fünf Uhr, und Edgar schickte hinein und ließ Wilhelm wecken.

Der Knabe kam und drückte sich fest an Edgar, der ihn küßte. Dann führte er den schmerzlich Erwarteten in den Garten, wo er nun ausführlicher von der Schwester erzählte, während Edgar mit Spannung zuhörte und Beide zwischen den Beeten auf und nieder gingen. Der Morgen wurde warm, obgleich nicht heiter, die Blumen dufteten unter dem Thau.

Als sie wol zwei Stunden so gegangen waren, sagte Wilhelm: »Nun ist die Mutter wach, und ich werde ihr sagen, daß Sie hier sind.« Er ging; Edgar bog in einen schattigen Akaziengang ein und stand vor Heinrich.

Sie maßen sich mit einem finsteren Blicke, dann fragte Edgar: »wußtest Du, daß ich hier bin?« – »Nein,« antwortete Heinrich; »aber ich erwartete Dich. Du kommst auf Wunsch der Frau von Hain?« – »Ja,« sagte Edgar, »und stehe an jedem Tage zu Deinen, Befehl.«

Heinrich antwortete nicht; aber er kehrte um und ging neben Edgar den Akaziengang hinunter. Als sie am Ende waren, sagte Edgar ungeduldig: »was willst Du noch von mir?«

Der Jüngling fuhr mit der Hand über die düstere Stirne und sagte: »Ich habe jetzt kein Recht mehr, Mathildens Neigung entgegenzutreten. Wenn Du ihre Einwilligung erhältst, reise ich ab.« – »Du glaubst wahrscheinlich, ich werde sie nicht erhalten?« antwortete Edgar; »Du hast Dich der letzten Worte Alexanders bedient, und meinst, Deiner Sache gewiß zu sein; aber Du irrst.« – »Mathilde hat die letzten Worte Alexanders nicht gelesen,« sagte Heinrich kalt. »Sie wird sie auch nie lesen. Ich will nichts von ihr; ich habe auch nicht mit ihr gesprochen. Wie sie entscheide – es ist ihr freier Wille.«

Wilhelm kam und bat, Edgar möge frühstücken kommen; die Mutter habe schon erfahren, daß er da sei, und wolle nur erst mit der Schwester sprechen. Edgar folgte dem Knaben in das Haus, wo im Wohnzimmer das Frühstück bereit stand; Heinrich war zurückgeblieben.

Bald trat Frau von Hain ein. Sie winkte Wilhelm, sich zu entfernen, und reichte Edgarn die Hand. Er hielt sie fest und sagte bewegt: »gnädige Frau, Sie sind nicht länger meine Feindin.«

»Ich war es immer nur aus Pflicht;« versetzte sie, indem sie ihn einlud, sich neben sie zu setzen. »Jetzt hat die Lage der Dinge sich geändert – furchtbar geändert.« Sie schauderte leicht zusammen.

»Und ich darf hoffen?« fragte Edgar.

»Wenn es von mir abhinge, Alles,« antwortete Frau von Hain, »denn mein Kind geht mir jetzt über jede Bedenklichkeit; aber ich fürchte, daß Sie bei Mathilden einen Widerstand finden werden, der nicht zu überwinden ist.«

»Ueberlassen Sie mir das, gnädige Frau;« sagte Edgar mit seinem alten Lächeln.

»Ich scherze nicht, Herr von Aarhausen,« sagte Frau von Hain etwas unwillig; »sie will Sie nicht sehen.«

»Sie will mich nicht sehen?« fragte Edgar; »und aus welchem Grunde?«

»Sie gab keinen an;« antwortete Frau von Hain; »sie faltete bittend die Hände und sagte: ›ich kann nicht.‹«

»Sie soll;« sagte Edgar bestimmt. Er bat um Schreibzeug und schrieb auf ein kleines Blatt:

 

»Sie wollen mich nicht sehen, Mathilde; ich erkläre Ihnen hiermit, daß ich Sie sehen muß und nicht eher von hier weiche, als bis ich Sie wiedergesehen habe. Wenn Sie wollen, so mag es zum letzten Male sein; aber sein muß es.«

 

Er gab das Blatt der Frau von Hain und sagte: »wollen Sie so gütig sein, es Mathilden zu übergeben?«

Frau von Hain ging; er wartete eine Viertelstunde. Dann öffnete Frau von Hain die Thür und sagte: »Kommen Sie.«

»Noch einen Augenblick;« sagte er. Er war blaß geworden und wollte sich erst fassen.

Frau von Hain sah seine Bewegung mit tiefer Theilnahme. Er näherte sich ihr jetzt und zog ihre Hand an die Lippen. Sie gingen durch das Haus; vor der Thür von Mathildens Zimmer stand Frau von Hain still, sagte leise: »Gott gebe Ihren Worten Kraft!« und verließ ihn.

Er klopfte an und öffnete. Das Zimmer war lang und düster und hatte nur ein Fenster. An diesem saß Mathilde; sie stand auf, aber sie sprach nicht, sondern neigte nur, ohne aufzublicken, den Kopf. Dann stand sie zitternd da und schien zu erwarten, daß er spreche.

Er näherte sich ihr wie damals im Garten und sagte nichts als: »Mathilde.«

Ihre Lippen zogen sich schmerzlich zusammen; aber sie rang gewaltsam nach Kraft und sagte endlich leise: »Sie haben darauf bestanden, mich zu sehen; ich habe Ihnen nachgegeben; darf ich Sie bitten, unsere Unterredung nicht in die Länge zu ziehen?«

»Ich werde Ihnen gehorchen;« antwortete er. »Sie haben mich nicht sehen wollen, darf ich wissen, warum?«

»Weil ich Sie nie wiedersehen wollte;« sagte sie kaum hörbar.

»Nie!« wiederholte Edgar. »Und was habe ich gethan, um das zu verschulden?«

»Wir haben es Beide verschuldet;« antwortete Mathilde.

»Weil wir uns geliebt haben?« fragte Edgar; »unmöglich, Mathilde! Wenn es eine Schuld war, so ist es jetzt keine mehr; Sie sind durch Alexanders Tod frei.«

»Und ich sollte von seinem entsetzlichen Tode Vortheil ziehen?« fragte sie schaudernd. »O, nimmermehr!«

»Glauben Sie denn nicht, daß er vergeben haben würde, wenn er unsere Liebe gekannt hätte?« fragte Edgar.

»O wenn er es gewußt hätte!« rief sie. »Er hätte vergeben, und ich dürfte Ihnen angehören. Aber jetzt, wo er belogen, hintergangen, gestorben ist, jetzt dürfen wir nicht glücklich sein.«

»Wir haben ihn nicht belogen,« antwortete Edgar; »denn er hat uns nie gefragt. Hätte er es gethan, so hätte ich ihm die Wahrheit gesagt, wie ich es auch so thun wollte. Oder glauben Sie, ich habe eine heimliche Liebe gewollt? Wahrlich nicht. Offen wollte ich vor ihn hintreten und ihn bitten, Sie mir zu geben. Er hätt' es gethan.«

Sie sagte weinend: »Aber jetzt trennt uns die Schuld.«

»Nicht die Schuld, Mathilde,« versetzte er; »nur ein Wahn, nur Ihr Wille. Und können Sie das wollen? das Unglück eines Menschen? Alexander ist todt, ich lebe, muß noch leben, wenn ich nicht zu seinem Mittel greifen will, und Sie wissen, ich will bis zum Ende aushalten. Und dennoch wollen Sie mich ihm opfern? Mathilde, ich bedarf Ihrer, er nicht. Ihm nutzt es nicht, wenn Sie mich verwerfen, und mir – ich will nicht daran denken; Sie können es nicht thun.«

Mathilde hielt die Hände krampfhaft gefaltet, sah auf den Boden nieder und schluchzte. Edgar machte eine leise Bewegung, um ihr näher zu treten; da fuhr sie angsthaft zurück, und er blieb stehen, indem seine Stirne sich leicht verfinsterte.

»Ich habe in zwei Monaten viel bei Ihnen verloren, wenn Sie mir nicht einmal die Annäherung des Bruders erlauben;« sagte er; »doch ich will von Ihnen ertragen, was ich von keiner andern Frau ertragen würde. Mathilde, wenn ein Mann liebte, so bin ich es. Glauben Sie mir, es ist ein seltenes Geschick, einen großen Stolz sich so zu unterwerfen. Prüfen Sie erst, ehe Sie es um eingebildeter Verpflichtungen willen von sich weisen. Alexander hat Sie nie geliebt; als er todt war, fanden wir das Bild einer Andern auf seiner Brust.«

»Ich weiß es;« sagte Mathilde mit müder Stimme.

»Also wäre die Treue, die Sie ihm halten wollen, lächerlich;« fuhr Edgar fort. »Weiß Gott, ich hab' ihn geliebt, und sein Name soll uns heilig sein: aber um seinetwillen aufgeopfert zu werden, verdien' ich nicht, so wie er Ihr Entsagen nicht verdient. Ihre Mutter selber, Mathilde, hat mich zu Ihnen geführt; so fehlt kein Segen. Sie sind meine erste Liebe, und meine einzige Hoffnung auf Glück liegt in Ihrer Hand. Nun entscheiden Sie.«

»Ich kann nicht die Ihrige werden;« antwortete Mathilde tonlos.

»Wirklich?« fragte Edgar. Sein Ton war von der flehendsten Leidenschaft in die feindlichste Kälte verwandelt. Er trat Mathilden einen Schritt näher und nahm die feinste gesellige Haltung an.

»Sie entschuldigen, gnädige Frau, daß ich Sie so lange belästigt habe;« sagte er höflich. »Ich hatte die Anmaßung, zu glauben, daß ich Ihnen nicht ganz gleichgültig sei; Sie haben mich aber so vollkommen davon geheilt, daß Sie keinen Rückfall zu befürchten haben. Ich habe die Ehre mich zu empfehlen.«

Er verbeugte sich und ging. Aus dem Wohnzimmer trat Frau von Hain ihm ängstlich fragend entgegen.

»Sie sehen einen Abgewiesenen;« sagte er leicht; »Ihre Frau Tochter will der Welt das Beispiel einer heroischen Treue geben. Ich bewundere alles Große viel zu sehr, als daß ich nicht vor diesem Vorsatz hätte zurücktreten sollen.«

»Herr von Aarhausen,« sagte die ernste, blasse Mutter, »entscheiden Sie noch nichts; bleiben Sie noch; ich gehe zu ihr; sie muß sich neuen Bitten fügen.«

»Ich danke, gnädige Frau,« antwortete Edgar; »einmal ist genug. Ich liebe nicht, mich aufzudrängen.«

»So habe ich meine Tochter verloren!« sagte Frau von Hain, mit Ergebung, aber auch mit tiefem Schmerze.

»Nicht doch, gnädige Frau;« sagte Edgar; »vergessen Sie denn, wer Ihre Frau Tochter begleitet? Sie dürfen Alles von dieser Reise hoffen.«

»Leben Sie wohl;« sagte Frau von Hain würdevoll. Er ging, das Anspannen zu bestellen. Wilhelm, der die Stimmen gehört hatte und herunterkam, wollte ihm nach; die Mutter verbot es ihm. Er fragte ängstlich; sie antwortete gefaßt: »Deine Schwester wird reisen; das Weitere überlassen wir Gott.«

Edgar wartete, hastig auf und abgehend, auf das Bereitsein des Wagens; da kam Heinrich von der Seite her und sah, daß die Pferde herausgebracht wurden. Eine Gluth des Triumphes fuhr über das Gesicht des Jünglings; er blieb stehen und heftete sein dunkles Auge mit Befriedigung auf Edgar, aber eben so stolz blickte dieser ihn an.

»Du denkst, Du kannst mich höhnen;« sagte er auf englisch; »aber Du irrst. Ich bin nicht gebeugt, weil eine Frau mich nicht haben will. Nimm sie, ich überlasse Dir alle meine Ansprüche, und werde mich zu trösten wissen.«

»Du zeigst, daß Du ihrer nie würdig gewesen wärest;« antwortete Heinrich kalt. Er ging in das Haus, eilte zu Mathilden. Als er eintrat, rollte draußen der Wagen. Mathilde saß bleich und still auf dem Sopha. »Er fährt?« fragte sie. »Ja, Mathilde!« antwortete Heinrich in gehobenem Tone. »So bitte, Gott, daß er mich sterben lasse!« sagte Mathilde.


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