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Über den Traum

Eine Geige, pianissimo e con sordino allein vom wehenden Gedanken gespielt – das ist der Traum.

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Wäre der Schlaf der Bruder des Todes, so wäre der Traum ein Vorgeschmack vom Jenseits. Dann enthielte er einen Beweis für die Unsterblichkeit.

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Der Traum ist wie ein bei Tage eingefangener Sonnenstrahl, abgetrennt vom Meer des Lichtes, der im Dunkeln sehnsüchtig nach Glanz zu glühen beginnt. Seine Atome sind kleine Flitterstäubchen vom rauschenden Mantel des Lebens verweht, die nachts ihren schimmernden Reigen anheben.

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Man träumt nicht von den tiefsten Seelenerschütterungen, die der Tag gebracht – diese tauchen erst später, nach Jahren, wieder auf –, sondern nur das Unscheinbare, oft nur mit halbem Blick Gestreifte, mit einem Ohr Gehörte wird das Motiv des Traumes.

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Die Redewendung: »Es hat solchen Eindruck auf mich gemacht, daß ich die ganze Nacht davon geträumt habe«, ist fast immer eine grobe Lüge. Auch das »Mir träumte einst –« der Poeten ist immer ein bißchen Schwindel.

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Die heißesten Tränen sind die im Traum geweinten. Sie fallen auf ein schuldloses Herz, denn nur im Traum sind wir ohne Schuld.

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Es gibt Menschen, die auch im Wachen auf jemand böse bleiben, der sie im Traum gekränkt hat.

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Je gesunder ein Schlaf, desto traumloser ist er.

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Bei weitem die meisten Träume entstehen im Augenblick des Erwachens. Das dann plötzlich ungehemmte Gehirn ist blitzartiger Anschlüsse in Sekundenteilen fähig. Ein einziger Sinnenreiz im »unbesetzten Gehirn« kann blitzschnell zugleich Anfang und Ende eines langen Traumes werden.

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Im Traum ist das Bewußtsein für Zeit und Raum abgeblendet. Der Traum kennt keinen Atlas und keinen Kalender. Oder weiß jemand Tag, Stunde, Ort, Datum oder Jahreszeit, während er träumt? Noch niemand hat im Traum eine Postkarte richtig mit Wohnung und Datum adressiert. Wach ist allein das Ich, auch das verdoppelte, versächlichte und von uns getrennte. Im Traum schafft sich die Seele ihren eigenen Spiegel.

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Ein wunderlicher Mosaikarbeiter ist der Traum, aber seine Steinchen stammen alle aus den Brüchen der Erfahrung.

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Die zarteste Schwingung der Seele ist der Traum. Es ist, als wenn ein müder Falter mit seinen Flügeln über Nervensaiten streift.

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Der Traum ist ein Zauberer der Verjüngung. Unter seinem Zeltdach sehen wir uns alle jung. Er läßt alles wieder sein, wie einst. Da leben, die wir liebten und die uns genommen, und sitzen unter der alten Heimatseiche.

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Das Fliegen im Traum ist umgedeutetes Atmungsgefühl. Der Traum des ruckartigen Absturzes ist deshalb so häufig, weil ein stoßartiges Muskelzucken beim Erwachen Thema und Gegenthema, Durchführung und Ende der Traumsonate gleichzeitig darstellt. Ist das Gehirn ohne Hemmung, so schießt eben das Weberschiffchen des Gedankens wie rasend auf und nieder. So träumen Abstürzende und Sterbende in den Sekunden des Fallens ihr ganzes Leben noch einmal.

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Der Traum ist ein guter Erzieher: er zeigt uns, wessen wir unter Umständen fähig sind. Er lehrt uns unsere Möglichkeiten.

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Das Abiturientenexamen noch einmal machen zu müssen, ist ein sehr häufiger Traum. Merkwürdigerweise kennen ihn die nicht, welche durchgefallen sind. Diese Katastrophe haben wir alle gefürchtet. Wo sie nicht eintrat, bleibt eine geheime Kraftspannung zurück, die, wie alles Unerledigte, im Traum lebendig wird.

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Sind die Ganglien wie phosphoreszierende Sterne am Himmel unserer Seele aufgehängt, die sich Kunde geben durch Strahlen vom Geschehen und Handeln des ruhenden oder tätigen Ichs, so ist der Schlafvorgang wie das Heraufziehen von Wolken, welche die himmlischen Meisterlaternchen verdunkeln und abdämpfen. Aber hinter den Wolken züngelt und zittert der Traum.

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