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Das Zauberriff

In Haus Neuland, unter den Palmen am Strand von Mua'ava, wurden die beiden so wirklich gastfreundlich aufgenommen, als seien sie alte Bekannte. Selbst der als Norddeutscher langsamer auftauende Horst fühlte sich von Anfang an heimisch. Friedel aber saß wie im Traum der schlanken Frau gegenüber, unter deren erstem Blick er gewußt hatte, woher Hartmut das Tiefblau seiner Augen kam. Ach, und wie wohl war ihm gewesen, als ihn die blonde Frau gleich nach der Begrüßung nebst Horst mütterlich um die Schulter genommen mit den Worten: »Kinder, in Deutschland müßt' ich vielleicht Sie zu euch sagen, hier aber seid ihr stellvertretend meine beiden großen Jungen!« Wie warm es doch jedesmal über ihn hinging, wenn er sich mit dem traulichen Du angeredet hörte. Das auf der Reise wohl nötig gewesene »Herr-Spielen« hatte ihm doch mächtig schwer im Magen gelegen, schon infolge der unvermeidlichen Steifheit aller Formen, die seiner Natur zuwider war. Friedel wußte wohl, daß er dies Heimisch-werden-dürfen dem fernen Kameraden in Deutschland verdankte; der mußte wohl in seinen Briefen von ihnen und ihrer Fahrt, über die er freilich genau unterrichtet war, nicht wenig nur geplaudert haben, daß diese beiden Menschen auf Haus Neuland so mit allen seinen und Horsts Verhältnissen vertraut waren.

Auch Frau Herta schloß Friedel von Anfang an ins Herz und hörte mit sehnsuchtstarken Augen zu, wie er von jenem Nachmittag auf schutzheckenumsäumter Westerwaldtrift erzählte, sah ihres fernen Jungen Schlankheit auf den Basaltquadern sich voll der gleichen Sehnsucht gegen den verdämmernden Westen wenden, trank als Mutter jeden Zug in sich hinein, den der Freund malte, und hörte voll innersten Verstehens und Stolz zugleich, wie in Friedel unter ihres Hartmut Worten die Sehnsucht nach der Ferne aufgestanden sei und gewachsen zu bewußtem Planen.

»Und nun steht ihr mitten in der Erfüllung,« fiel Vater Stein, der mit Horst in der Tür der Veranda stand, ein, »und vor euch liegt die Weite, die zur Nähe geworden ist, greifbar. Ihr zwei könnt euch wahrhaftig rundumschauen und fragen: Herz, was begehrst du?« Da begann Friedel von der Aufgabe zu sprechen, die sein Vater ihnen angedeutet, deren Umfang und Ziel sie aber erst ahnten, jedoch nicht kannten, solange ihnen die namenlose Karte noch Rätsel aufgab. »Die zeigt mir doch mal her!« bat Reinhard Stein, betrachtete sie und meinte: »Ja freilich, da seht ihr recht; das ist unsere Bucht, und die verlängerten Seiten des Aufrisses vom Königsgrab weisen auf Mua'ava, in die Richtung Manono und nach Mulifarnua.« – »Aber was soll der mehrzackige Stern auf dem Riff?« – »Hm,« lächelte Vater Stein, »was sagte doch dein Vater, Friedel? Ihr sollt sehen lernen und beobachten. Der Stern steht auf der richtigen Stelle. Lernt also dort das Sehen!«

»Eins freilich werdet ihr nicht mehr sehen,« fügte er noch hinzu, »dazu hättet ihr schon müssen im Oktober kommen, aber selbst wir haben ihn im letzten Oktober nicht gesehen, den Palolo!« – »Den Palolo?« fragten die beiden wie aus einem Munde so erstaunt und ahnungsvoll, daß Frau Herta laut auflachte. »Jawohl, Jungs, aber davon zu erzählen heben wir uns erst mal auf. Ihr seid hoffentlich noch oft unsere Gäste.« Da flog ein froher Blick Friedels zu Frau Herta hinüber. »Hier sein dürfen – wie ist das schön!« stand in ihm geschrieben.

Horsts Aufmerksamkeit war derweil ganz durch die braune Gestalt gefesselt, die zwischen den Palmen durch von der Bucht her kam. Ein alter Samoaner in grauem Bart und Haar stelzte auf dürren Beinen daher, bekleidet mit einer alten Jacke europäischen Schnitts, darunter einzig sein Hüfttuch, die Lavalava. »Das ist mein alter Va'oa,« klärte sie der Pflanzer auf, »der mir schon, seit ich hier bin, eine treue Stütze ist. Ich konnte ihm einst in Not helfen, das hat ihn so anhänglich gemacht. Denn sonst ist der Samoaner zu stolz, um bei weißen Pflanzern Diener zu sein. Der aber hat meine zwei Buben geschaukelt wie ein Kindermädchen. – Talofa, Va'oa!« rief er dem Angelangten zu. »Fa'afetai, alii!« klang es vom Garten her. »Wir kommen zu dir!« Herr Stein trat mit beiden Jungen hinaus zu Va'oa: »Sie kommen aus Siamani, und der da, Va'oa« – damit schlug er Friedel froh auf die Schulter – »hat dort Hartmut gesehen und ist sein Freund!« Wie da das Antlitz des alten Samoaners leuchtete vor Freude. In samoanischer Würde hieß er feierlich die beiden willkommen. Wer Hartmuts Freund war, ward auch Va'oas Freund.

*

»Jetzt aber gradenwegs zum Stern!« steckte Horst am andern Morgen das Ziel des Tages. Das Rätsel des Zeichens über dem Riffeinlaß vor Mua'ava, das Vater Körners Karte aufwies, hatte sie ganz früh hinausgelockt. Zumal Herr Stein so verheißend gelächelt. Sie nahmen die Richtung, die der Stern wies: zum Riff. Durch die Erfahrungen der ersten Lagunenwanderung bereits gewitzigt, verzichteten sie sehr bald aufs Barfußlaufen und banden sich doppelt starke Bastsohlen unter die Füße, wie es auch die Eingeborenen tun, wenn sie aufs Riff wollen, sonst scheuern die scharfen Zacken und Kanten der Korallenbrocken sie sehr bald durch, wie mit Messern. So aber geschützt kamen die beiden rasch vorwärts, hielten sich auch gar nicht mehr auf, weder bei den Scharen schon wieder nach Lagunentieren suchender Eingeborener, noch bei den Steinreußen, in die ein anderer Schwarm die Atule-Fische trieb, noch bei neuen eigenen Funden fremder Form, allem möglichen Kleingetier, sondern strebten ohne Aufenthalt der Stelle zu, wo die Wasser der Lagune durch breiten Riffkanal mit dem freien Meer in Verbindung standen.

Von da sah man gerade in die Bucht hinein, wo die Boote jetzt auf dem Trockenen lagen, sah die Palmen dahinter und über dem vorspringenden Strand den hohen hellen Flaggenmast. Wo Haus Neuland stehen mochte, kräuselte Rauch über den Palmen empor und verlor sich bald gegen den Hintergrund der fernen Berge, vor denen wieder der saubere Kegel des Tofua die Wacht hielt, den sie schon von der andern Seite beim Ansteuern von Apia erschaut. Horst verglich den Verlauf der Küstenlinie mit der Lage der in der Apolinastraße stehenden Inseln und dem ragenden, dunkelwaldigen Sowai, als er plötzlich vom weitergewanderten Friedel jubelnd angerufen wurde: »Horst, Horst, der Zaubergarten

Dann sah er Friedel sich platt auf den Bauch legen und über die Kante einer Korallenbank vorgebeugt ins Wasser hinunterstarren. Mit wenigen Sprüngen war Horst an Friedels Seite. Ganz nah dem Riffeinlaß lag die Stelle, in der Leekante des Riffs, geschützt. Ruhig spiegelte sich der hier zurückgebliebene Rest der Flut.

Friedel strampelte vor Entzücken mit den Beinen, ohne auch nur den Kopf zu heben, als er den Schatten Horsts neben sich ins Wasser fallen sah. »Jetzt kann ich sagen: Heureka! Mensch, da guck nur! Da guck nur! Wunderbar – ein Zaubergarten!« Auch Horsts Augen weiteten sich vor Staunen, als er sich neben Friedel niederbeugte; und bald lag er ebenso ausgestreckt und sah lautlos dem Wunderweben in der mäßigen Tiefe des kaum bewegten Wassers zu. Allerdings, wahrhaftig, ein Zaubergarten! In einer Pracht ohnegleichen dehnt sich wie seltenster Blumen prangendes Gefild ein Teil des lebendigen Riffs. Steinkorallen von verschiedenstem Bau türmen sich da unter dem Wasserspiegel zu kleinen Bergen, Burgen, schroffen Hängen, Zacken und Gewölben; umkleidet, wie mit hochzeitlichen Schleiern geziert, von schwellenden, flutenden, durchsichtigen Häuten, denen die Sonne die Pracht aller ihrer Farben geliehen. Sternkorallen und lederartige Gebilde, Becherformen und von Mäanderbändern überzogene Kuppeln drängen sich dazwischen. Feingliedrige Blattkorallen verästeln sich farbenschimmernd zwischen den härteren Linien ihrer steinernen Schwestern. Hauchzart getönt die einen, sprühend von Farbenglut die andern. Strahlend, als seien es Blüten, leuchten von jedem Stock die Ränder der Mundöffnungen von Hunderten einzelner Korallentierchen. Im ständigen leisen Strom des Wassers fluten die weichen Hautgebilde hin und her, spielen nie gesehene Farbentöne miteinander; smaragdene Arme eines Schlangensterns Lasten über tiefrote Nachbarpracht; durchsichtige Krabben klettern langbeinig durchs steinerne Geäst; schwerfällige Einsiedlerkrebse tragen ihre Mietshäuser durch die Gründe. Aus dunklen Grotten schlängeln sich die bleichen Fangarme verborgener Sauger. Blitzschnelle Schwärme winziger Fischlein jagen durchs Labyrinth des Zaubergartens.

Atemlos still schauten die beiden Beobachter zu.

.

Immer mehr Getier hält die Luft wieder für rein und zeigt spielend seine Farben, Fische zumal, die vorhin leicht erschreckend ihre Schlupfwinkel gesucht. Metallisch schimmernd schießen sie durchs Blickfeld, kommen neckisch durch ungeahnte Höhlungen, verhoffen, leise mit den formfremden Flossen rudernd, in die Runde und zum Wasserspiegel, ihre großen Augen scheinen unbeweglich vor starrem Glotzen, ein Zittern durchläuft den Leib, seine Farben wechseln. Ein Blitz – weg sind sie. Andere kommen; wie blauer Stahl mit goldnen Ringen gibt sich ihre Rundung. Kehrt – und weg! Durchsichtig bis in alle Einzelheiten und darum mit jedem Hintergrund anders durchscheinend, oft auch überhaupt kaum zu sehen, so geschützt ist er, schwimmt ein Einsamer langsam vor der bunten Pracht vorüber. Unbeirrt um das Jagen und Haschen der plumpen oder schlanken Vielflosser liegen die langsamen Schnecken auf ihrem Kriegspfad zwischen den Korallenstöcken. Auch sie in Farbenpracht, dem Leben und Weben des ganzen Zaubergartens angeschmiegt.

Allmählich schmerzten aber doch die scharfen Kanten der Riffblöcke, auf denen die jungen Entdecker hingestreckt lagen. Mit roten Köpfen fanden sie sich zur Welt zurück, noch ganz benommen vom Anblick des Blumenhags unter dem Meeresspiegel. Weiter und weiter schien er sich zu dehnen. Sie folgten eine Weile am Rand des Korallengartens und machten sich dann spornstreichs nach Haus Neuland auf, zu erzählen, was sie gefunden. Denn dieser Fund mußte doch der Sinn des Sternes sein, den der Vater übers Riff gezeichnet. Sie trafen Herrn Stein gerade, als er von der Pflanzung gekommen war und sich umgezogen hatte. Er lachte. »Schon gefunden? – Stimmt, Jungens. Ist eine der wenigen Stellen, wo solch ein Zaubergarten, wie sie vor dem Riff die ganze Küste säumen, sich innerhalb der Riffbuchten verirrt hat. Hängt zweifellos mit der Strömung zusammen, die auch dorthin durch den nahen Riffeinlaß stets frisches Meerwasser führt. Denn das ist Lebensbedingung solchen Zaubergartens. – Aber was ihr seht, ist nur ein Teil. Ihr sollt mehr sehen.· Aber selbst suchen; wißt ja, der Stern bedeutet eine Aufgabe

Begeistert war Friedel sogleich dabei, sie näher zu bestimmen. »Ich werde alle Arten von Korallen und Korallentieren, die ich dort erschaue, zusammenstellen und beschreiben; später finde ich dann schon die Namen dazu. Jetzt vorerst will ich nur sehen!« – »Und ich werde genau die Lage in einer Karte festlegen, den Riffeinlaß ausloten bei verschiedenstem Wasserstand. Die Karte ist dann meine Arbeit!« steckte sich Horst sein Ziel. – »Jedenfalls, Jungens, stelle ich euch von heute ab mein kleines Boot zur Verfügung,« erfreute sie Vater Stein überraschend, »es ist geschickter, als das, welches sie in Mulifanua drüben haben, denn Va'oa hat seine Bauart bestimmt, und der kennt sich aus. Und wenn ihr ihn drum angeht, fährt er auch mit euch hinaus. Allein dürft ihr mir nicht durch die Brandung und jenseits des Riffs. Ich selbst möchte deshalb nicht mit, weil ihr allein arbeiten und beobachten sollt. Auch habe ich jetzt meine Kakaoschößlinge zu beschneiden. Das ist eine Arbeit, die nur Europäerhand richtig auszuführen vermag. Weder Samoanern noch Chinesen, noch weniger melanesischen Arbeitern, kann man sie anvertrauen. An sich freilich, Kerls, ging ich von Herzen gern mit. Ich habe selbst Hunger nach solchem Schauen wunderreichster Schönheit, und das doppelt, wenn ich eure Jugend so vor Eifer glühen sehe.«

Frau Herta hielt die beiden bis zum Abend fest. Va'oa ward für den Plan gewonnen, die Jungen mit dem Boot hinauszubegleiten, vors Riff – o le papanga – zum Korallengrund.

Die Verständigung mit dem Alten ging recht gut. Va'oa konnte auf seine Weise Deutsch durch die Übung langer Jahre gemeinsamen Lebens mit Herrn Stein.

Schon am nächsten Tag segelten sie bei beginnender Ebbe mit ihrem kleinen, aber ausgezeichnet ruhig liegenden Boot aus der Lagune heraus durch den Riffeinlaß hinaus ins freie Meer. Noch konnten sie sich dem Riff von außen her nicht nähern, die Brandung stand noch zu stark zwischen den Korallenfelsen.

So hörten sie Va'oa zu, der erfolgreich zu plaudern versuchte und ihnen erzählte von dem kleinen alii ma'a, dem kleinen Herrn Stein, wie er Hartmut nannte, dessen Namen er mit seinen Samoanerlippen nicht auszusprechen vermochte, wie er ihn fischen gelehrt und Halsketten machen, wie sie die Häuptlinge tragen, von feinen weißen Muscheln, Pottwalzähnen oder roten Suwabohnen, wie er ihm Märchen erzählt –

»Märchen?«

»Märchen meines braunen Volkes von Samoa«, sagte andächtig Va'oa, prüfte den Wind, zog das Schot des Segels und ließ das Boot treiben. Dann fragte er nach einigem Überlegen: »Kennt ihr in eurem Lande Siamani die Geschichte von Tulivaepupula?.« – »Nein, Va'oa.«

Da setzte er sich eine Weile stumm hin, mit gefurchter Stirn, als denke er über vieles nach; versuchte wohl bei sich, ob er sein Märchen auch erzählen könne in der Sprache der Fa'avesi, und begann schließlich, mit Stocken und Pausen. Aber die beiden verstanden. Und wenn Friedel später Va'oas Märchen wiedergab, erzählte er es – so viel hatte er verstanden und behalten –, erzählte er es so:

Es war einmal ein Menschenfresser Tulivaepupula, »Das blutige Schienbein«, der wohnte am Ende der Welt, in Mulifanua. Dorthin kamen Laupanini und Laupanana, zwei kleine Buben. Aber da sie zu neugierig waren, kriegte sie der Menschenfresser zu fassen, stellte sie über den Herd und sprach: »Nun ringt miteinander. Wer zuerst ins Feuer fällt, den werde ich zuerst fressen.« Als er aber ging, um den Kessel zu holen, liefen die beiden Brüder davon. Wütend suchte sie der Menschenfresser. Aber er fand sie nicht.

Endlich sah er sie in der Ferne laufen wie zwei kleine Pünktchen. »Nun wollte ich doch gleich, ein Wald von lauter rotem Zuckerrohr stellte sich ihnen in den Weg, dann hätte ich sie!« rief der Menschenfresser. Der Zuckerrohrwald stand sofort da. Aber er hatte die Buben nicht. Denn sie schlüpften geschickt hintereinander unten durch. Da rief Tulivaepupula: »Ich wollte, es käme ein Fluß von den Bergen bis ans Meer und sperrte ihnen den Weg. Dann hätte ich sie!« Sofort fing ein Fluß an zu rauschen und wuchs. Und Laupanini und Laupanana standen an seinem Ufer und konnten nicht hinüber und wußten keinen Rat. Da brach Laupanini eine Brotfrucht ab, schnitzelte hurtig den Kern heraus und hing die Schale wieder an den Ast. Dann kletterten die Brüder in das leere Gehäuse und versteckten sich.

Da kam Tulivaepupula. Er lief mit vollen Backen schnaubend am Ufer hinauf und hinunter. Aber er fand die Buben nicht. Er fing an zu schimpfen und zu wüten. Hast du nicht gesehen, stieß er sich den Schädel dabei hart an einer großen Brotfrucht. »Lumpending!« wetterte er los, riß sie herunter und schleuderte sie wütend über den Fluß. Drüben zersprang Schale und die beiden Brüder sprangen heraus, machten ihm eine lange Nase und liefen wie der Wind davon.

Als der Menschenfresser sich von seinem Erstaunen erholt hatte, schrie er wütend: »Nun wollte ich bloß, ein großer Berg wüchse auf, über den sie nicht hinüber könnten. Dann hätte ich sie.«

Der Berg wuchs auf. Und Laupanini und Laupanana sprachen: »Guck mal den Berg. Was sollen wir eigentlich hier unten bleiben, komm, wir klettern hinauf!« Das taten sie, und als Tulivaepupula keuchend unten ankam und sich vor Seitenstechen den Bauch hielt, saßen die Brüder lustig schon auf der Spitze des Berges und bammelten mit den Beinen. Tulivaepupula schwitzte: wie sollte er jetzt die Kerle herunterkriegen? Er versuchte es mit allerlei Listen, legte Schweinebraten, Fische und Erdäpfel hin und lauerte drauf, daß die Rangen es sich holen kommen würden. Denen stieg auch der Duft in die Nase, und Laupanini befestigte ein Tau am Bein seines Bruders und ließ ihn bei Nacht hinab. Als Laupanana unten ankam, machte er »i, i« wie eine Ratte, damit der Menschenfresser nichts merkte, raffte schnell Schweinebraten und alle andern Herrlichkeiten zusammen, und sein Bruder zog ihn wieder hinauf. Sie ließen sich's wohl sein da droben, aber Tulivaepupula knurrte, als er am andern Morgen sah, daß die Speisen geholt waren. Nun blieb er die nächste Nacht wach und lauerte. Und als Laupanana wieder herunter kam, griff er ihn. »So, mein Junge,« sagte er mit gierig rollenden Augen, »dich hab' ich, jetzt wirst du gefressen!« – »Lieber Herr Menschenfresser,« fing da Laupanana an zu betteln, »das tu doch bloß nicht, bitte, bitte, nicht!« – »Nix da, du wirst gefressen!« – »Aber das wär« doch dumm von dir.« Tulivaepupula wollte nicht gern für dumm gelten und fragte: »Oha, wieso?« Da sagte Laupanana: »Da fühl' doch nur, an mir ist wenig dran, ich bin doch der Jüngere. Aber Laupanini oben auf dem Berg, der ist schon dick. Weißt du was? Halte mal dein Bein her, ich binde das Tau dran. Dann zieht dich Laupanini in die Höhe und denkt, ich hinge daran. Wenn du aber oben-bist, dann hast du ihn. Und bei ihm lohnt sich's.« Da war Tulivaepupula einverstanden. Als er aber von Laupanini bis beinahe auf die Spitze des Berges gezogen war, da rief Laupanana: »Laupani–ni, laß das Tau los! Tulivaepupula hängt dran!« Da ließ der ältere Bruder das Tau los und der Menschenfresser stürzte ab und war mausetot. Die beiden Buben aber gingen nach seinem Hause und erbten alles, was er hatte. Die Kinder aber in Mua'ava und den Dörfern ringsum kamen und tanzten und sangen dazu. »Tot ist Tulivaepupula! Tot ist Tulivaepupula!«

Das Boot begann nun doch zu schwanken, als Va'oa selbst den Tanz der Kinder singend in seinem Eifer darzustellen sich mühte. Seine beiden Zuhörer hatten Tränen in den Augen, so mußten sie lachen über diese Geschichte vom samoanischen Max und Moritz und ihrem dramatischen Schluß vor ihren Augen.

»Und seht ihr den Tofua dahinten?« setzte der Alte verschmitzt hinzu. »Das ist der Berg, von dem Tulivaepupula abstürzte und den Hals brach.« Dann lachte er selbst mit ihnen, daß seine Bartzipfel wippten und sein runzeliges Gesicht in tausend Fältchen strahlte. Sie wollten noch mehr hören, aber Va'oas sprachformende Kraft war nach dieser Leistung vorerst erschöpft.

Horst half ihm das Segel in den Wind bringen, und sie gingen langsam ans Riff heran. Die Macht der See war verebbt. Das Niedrigwasser ließ kaum Bewegung aufkommen. Hoch ragte die Außenkante des Riffs über die Wellen, ein weiter Schuttdamm von toten Korallenfelsen und Brocken, an denen die See sich seit Jahrtausenden donnernd zur Flutzeit bricht. Va'oa hielt auf eine Stelle nahe dem Ausgang des Risskanals zu, wo durch einen scharfen Bogen der Risslinie deutlich eine Leekante gebildet war. Flach fiel vom Damm aus das Riff hier langsam ab. Vorsichtig ließ Va'oa das Boot auf der leichten Dünung nähertreiben. Während er sich zum Gleichgewichthalten auf die Steuerbordseite wuchtete, schauten die Jungen backbord über den Bootsrand.

Und wieder hoben sich aus geringer Tiefe die Wunder eines Zaubergartens zu ihren Augen empor. Farbiger noch als der gestern geschaute, großzügiger noch in seinen Formen. »Die reine Meerschaft!« wie Friedel bewundernd unwillkürlich bildete angesichts der Berge und Täler aus Millionen Korallentierchen geschichtet, da dicht unter dem Meeresspiegel. Noch immer fiel die See. Über die Lagune hinschauend sahen sie des öfteren Springfische – von Va'oa jedesmal leidenschaftlich mit dem Ausruf »Uisila!« begrüßt – einige Meter weit über das flache Wasser setzen.

Sie wandten das Boot und fuhren nun der Luvkante entlang. Jetzt lag der Zaubergarten unter ihm auf der schiefen Ebene des Risssockels in größerer Tiefe. Daß sie ihn trotzdem bis in die Einzelheiten deutlich sahen, verdankten sie der Hilfe Va'oas; aus mitgenommenem Behälter spritzte er Palmöl auf die Wellen – schon wurde das Wasser sichtiger und gab die Bilder größerer Tiefe frei. Da erkannten Horst und Friedel, daß der Wundergarten von gestern nur Spielzeug war gegenüber den »Meerschaften«, über denen ihr Boot schwamm. Wie zwischen Steingarten und Park, so klaffte der Unterschied zwischen dem gestern und jetzt Erschauten. Meterbreite Blattkorallen klebten an der Riffläche zwischen Löcherkorallen von wuchtigster Größe. Weniger Formen und Farben waren es wohl, aber alles ins Große gesteigert. Vervielfacht zudem schien die Welt der Fische und Weichtiere, die diese Meerschaft hier bevölkerten. Hunderte von Korallenpolypen in Farben, wie sie kein Maler zusammenzustellen wagen würde, ja könnte, klebten im Kalkgeäst lebender und toter Bänke; Fische mit tückischer Gestalt drehten in Höhlungen oder glotzten kaltäugig empor zum über ihnen gleitenden dunklen Bootsleibe.

Plötzlich verschwand jede Sicht nach unten.

Zugleich setzte das Boot mit leichtem Stoß auf einen weichen Körper auf. Va'oa war hochgesprungen und beugte sich über Bord. »Fa'eme. Fa'eme!« schrie er und machte einen mächtigen Krach mit allem Gerät, dessen er habhaft werden konnte. Ohne lange zu überlegen, stimmten die Jungen mit ein. Dann sahen sie, wie sich der flache dunkle Teppich auf den sie aufgelaufen waren, zur Seite schob und in der Tiefe verschwand. Was es war, blieb ihnen noch ein Rätsel, Va'oa kannte von allen diesen Tieren naturgemäß die Namen nur in seiner Sprache. Sehr gefährlich konnte es nicht gewesen sein, denn der Alte lachte bald wieder sorglos und traf Anstalten zur Heimkehr.

Noch einmal glitt das Auge hin über die Wunder der Tiefe. Scharen schwarzweiß getigerter Fische folgten dem Boot, eine große Muräne lauerte mit katzenschnäuzigem Maul in dunkler Bodenhöhlung. Als Va'oa das Segel aufzog und das Boot Fahrt machte, verwischten sich die Bilder.

Ehe sie in den Riffkanal einbogen, ward Horst gewahr, wie über der Stelle ungefähr, wo sie auf jenes unbekannte Tier aufgefahren waren, zwei dreieckige, steif hochstehende Flossen in schnelle« Wendungen die See durchschnitten. »Naiufi«, bestätigte Va'oa mit Kopfnicken. Dann fiel ihm auch der Name ein, den der Alii ma'a brauchte: »'ai, 'ai!« rief er Horst zu. Der hatte es schon selbst erraten. Va'oa aber kam wieder ins Radebrechen und Palavern, erzählte von großen Tintenfischen, die in Manono drüben gefangen würden, oft Menschen angriffen und in die Tiefe zögen. Dann aber hatte er es immer wieder mit »Fa'eme« zu tun, dem Ungeheuer von vorhin, bis Friedel, der mit allem Getier im allgemeinen recht gut Bescheid wußte, eine Ahnung aufging, daß damit wohl ein großer platter Rochen gemeint sein müsse.

Herr Stein bestätigte bei der Ankunft diese Vermutung. »Fa'eme? Ja, das ist der sogenannte Teufelsrochen. Nicht sehr häufig; meist von Haien begleitet. Hat aber oft riesige Maße. Wir haben schon welche bis zu acht Metern im Geviert gesehen. Sie kommen aus großen Liefen herauf.« Vater Stein hatte es nicht leicht den Tag. Die beiden überfielen ihn mit soviel Fragen, die ihnen die Fahrt mit ihren Entdeckungen auf die Zunge gelegt, daß es spät wurde, bis sie Haus Neuland verließen. Voll Stolz wanderten sie den nächtlichen Strand entlang auf Mulifanua zu. Was der Vater von ihnen wollte, hatte begonnen, Gestalt zu gewinnen in diesen beiden letzten Tagen. Alles wohl mal auftauchende Heimweh wußte der großen Freude weichen, der Freude, Mitarbeiten zu dürfen und zeigen zu können, daß man sehen gelernt und zu lauschen verstand auf den Pulsschlag des Lebens. Dabei gedachte Friedel des Kleinlebens der entdeckten Wundergärten. Horsts Gedanken aber griffen über die Vermessungen, die er plante, weiter hinaus: Jahrtausende altes Leben mußte in diesen Riffen stecken, die die Kalktierchen gebaut; wann mochten sie entstanden sein und wie sich gebildet haben?

Drüben am Riff schäumte jetzt weiß und leuchtend durch die Nacht die volle Brandung und sang eine urmächtige Begleitung zur Melodie der Gedanken der beiden jungen einsamen Wanderer am Strand.


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