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Am Eingang zur Unterwelt

Mit den Ereignissen des vorhergehenden Tages war die Kurve abenteuerlichen Erlebens für die beiden Vettern steilan gestiegen. Rätsel der allertiefsten Tiefe klafften, wo die Faust des Riesen heraufstieß durch bergeshohe Wasser, Feuer emporschleuderte, Inseln entstehen ließ und verzischend zurücksank in vielleicht wieder Jahrhunderte lange oder unmeßbare Stille.

Jeder an Bord des »Pinguin« stand mit allen Sinnen im Banne des Erlebten. Solche Einträge wies das Schiffsjournal und Logbuch noch nirgends auf, wie Kapitän Winkler sie über diesen Tag zu machen hatte.

So erregt und doch eigentümlich tastend zugleich spann sich auch noch selten die wissenschaftliche Erörterung unter den Mitgliedern der Expedition weiter, als diesen Tags über die durchlebte Katastrophe. Horst hörte, von Friedel und Pidder aus des Geretteten Kabine zurückkehrend, schon an den ersten Sätzen, daß es die Grundfrage war, die ihn schon so oft bewegt: die Frage nach der Inselentstehung, die der gestrige Tag neu aufgeworfen. Das ganze Rätsel der Landbildung in dem großen Raum zwischen den Küsten Ostasiens, Australiens und des ganzen Amerika. Noch waren ja die Gelehrten nicht ausgestorben, die annehmen zu müssen gemeint, daß ein ungeheurer Zusammenstoß mit einem Himmelskörper, einem etwa früher bestandenen, dann von der Erde angezogenen und auf sie gestürzten zweiten Mond, weite ursprüngliche Festlandgebiete chaotisch zerschlagen habe, wobei durch das Schmelzen seines Eiskernes die Weiten des Stillen Ozeans sich mit ihren Wassern gefüllt haben mochten. Mit stärkeren Gründen freilich ließ sich die andere Theorie der Entstehung der Südsee-Inselwelt stützen, die, wie auch Vater Körner neulich noch vertrat, mit eruptiven Wirkungen aus dem Erdinnern heraus arbeitete, die an der einen Stelle, wie ihr Erlebnis doch zu beweisen schien, hochgehobenes Land zeitigen und doch sehr wohl zu gleicher Zeit der Anlaß zu ebenso starken Landsenkungen an anderer Stelle sein konnte. Wenn nur nicht auch dann so vieles dunkel und widerspruchsvoll geblieben wäre!

Horst hörte gespannt auf das Für und Wider der Meinungen, die sich kreuzten, und empfand sehr deutlich, daß auch hier trotz aller einleuchtenden Gründe, Beobachtungen, ja Erlebnisse immer noch das Nichtwissen bei weitem das Wissen überwog. Man stand zu nah der Grenze des menschlich Ergründbaren. Aber – wie es bei seinem regen Auffassungssinn gar nicht anders sein konnte – gerade die Unausgeglichenheit des Für und Wider reizte ihn so, daß er die Frage nicht los wurde. Erst recht nicht jetzt, nach solchem Erleben. Doch lernte er auch bei all den Gesprächen das Eine mit immer größerer Deutlichkeit: daß nichts so verdunkelnd und erkenntnishemmend sich vor die zu erforschende Wirklichkeit dränge, als gelehrte Selbsttäuschung, die sich an der eigenen Theorie berauscht und darüber das erste Gebot wissenschaftlicher Arbeit vergißt: das Sehen. Nichts ist schlimmer, als wissenschaftliche Voreingenommenheit. Sie ist Dünkel in der höchsten Potenz. Dünkel aber ist Dummheit.

Übrigens schien es Horst, je länger er zuhörte, desto stärker so, als ob die ganze Debatte nur ein in stillschweigendem Einverständnis unternommener Versuch sei, unter der Wucht des rein menschlichen Tiefenerlebnisses, das sie doch alle erschüttert, wieder hervorzufinden zu den Bahnen und Forderungen des Alltags. Und es war doch so und blieb so, daß in jedem Auge ein so eigenartiges Erinnern stand und Kunde gab von Ungewöhnlichem, was hinter diesen Spähern der Seele durch die Gedanken rieseln mochte.

Friedel rief.

Der Gerettete war bei Bewußtsein. Und der vereinten Mühe der drei gelang eine langsame Verständigung. Pidder Karsten beherrschte das Kanaken-Englisch, das fast in allen Häfen der Südsee gesprochen wird; die beiden Vettern aber erkannten voller Überraschung, daß der Schiffbrüchige nicht sehr viel anders sprach, als der alte Va'oa.

Was sie verstanden, war einer der nicht seltenen Südsee-Romane, nur in diesem Fall einzigartig gesteigert durch den Schiffbruch an jener neugeborenen Klippe. Muro'oa, wie sich der hellbraune Bursche nannte, hatte sich mit seinem Gefährten, dessen Leichnam von der Klippe abgespült sein mußte, auf der Fahrt von Mangaia nach einer Nachbarinsel befunden, war, schon vor einigen Tagen durch einen der in diesem Teil der Südsee so häufigen wie plötzlichen Stürme westwärts verschlagen, nach langen Entbehrungen zu guter Letzt in jenes Seebeben hineingeraten, unter dessen Flutwelle das Boot trotz seines Auslegers gekentert zu sein schien. Trotz aller Aussichtslosigkeit hatten sie sich aber an den Auslegerstangen festgehalten und sogar den Kiel des Bootes erklimmen können, als der Aufenthalt im Wasser unmöglich ward. Das Bewußtsein mußte zwar zwischendurch öfter ausgesetzt haben, zumal in der Nacht, denn die stete Erinnerung führte erst da weiter, wo er zu seinem Erstaunen auf festem Land wieder erwachte. Morgengrauen mochte es gewesen sein. Dann war er wieder in bleiernen Schlaf gefallen, bis die Sirene des Dampfers ihn geweckt. Das Rätsel, wie er auf die Klippe hinaufgekommen, vermochte er nicht zu lösen, Karsten wußte es aber einleuchtend zu machen, daß es nur geschehen sein könne, als zur Flutzeit die Klippen kaum über den Wasserspiegel hervorgeragt hätten.

Während Pidder gleich dem Kapitän berichten ging, fragten Horst und Friedel nach Dr. Hell, um ihn zu bitten, beim Kapitän für ein Anlaufen der Heimatinsel des Geretteten einzutreten. Sie fanden ihn aber erst nach längerem Suchen in der Funkenbude, wo er dem Funkentelegraphen-Gast einen ausführlichen Bericht über die Untersee-Katastrophe diktierte, den dieser über Pango-Pango, die amerikanische, und Tafaigata, die deutsche Großfunkstation auf den Samoa-Inseln, nach der Heimat weitergab. Er wehrte nicht, als Horst bat, einen Gruß anzufügen in einem Sondertelegramm an Vater Stein und Frau Hertha. »Und Hartmut«, setzte Friedel hinzu. Dr. Hell war im Bilde und teilte in wenigen Sätzen Sachverhalt und Rettung des »Pinguin« nach Haus Neuland mit. Inzwischen nahm der Funkentelegraphen-Gast wieder einen neuen Funkspruch ab. Vereinzelte Funksprüche von beiden Großstationen lagen bereits vor, die erkennen ließen, bis auf welche Entfernungen die Katastrophe beobachtet worden sei. Fast alle in Fahrt befindlichen Dampfer mit Funkentelegraphie-Einrichtung hatten sich bereits gemeldet. Aber alles bisher Bekannte war durchaus unbestimmt geblieben.

Beim Kapitän stieß Dr. Hell mit dem Anliegen, das die Jungen von dem Geretteten zu ihm getrieben hatte, auf selbstverständliche Bereitwilligkeit. »Natürlich, wo soll denn der arme Teufel sonst hin?! Mangaia liegt ja kaum ab von unserer Fahrtrichtung, wo wir doch nun einmal gezwungen« wurden, Ostkurs zu steuern.«

Das »Gezwungen« bekam in des Kapitäns Mund einen eigenen Ton. Horst sah auf. Und spürte: Der Hüne hat Ähnliches gefühlt wie ich, hat auch als Führer gemerkt, daß er » geführt« ward.

»Allerdings,« fuhr der Kapitän fort, »einen Hafen finden wir dort nicht. Nicht einmal einen Durchlaß für Boote hat das Riff. Na, wollen sehen, ob der Sohn der Insel da nicht irgendwie Rat weiß.«

Also nahm »Pinguin« Kurs auf die Insel Mangaia von der Harvey-Gruppe, die der große Weltumsegler Cook als erster entdeckt.

Nach Anweisung Muro'oas, der glänzenden Auges seine Heimat aus den Wellen tauchen sah, die noch einmal wiederzusehen er im tagelangen Ringen mit den Wellen schon aufgegeben, hielt der Dampfer auf die Nordwestecke der Insel zu, wo über Riff und Lagune hinweg auf schmalem Strandstreifen das Dorf Oneroa auszumachen war. Dahinter stiegen steile Kalkfelsen zur Höhe. Terrassenförmig baute sich die Insel auf. Im Innern schienen Hügel zu liegen. Aber der Abfall der Küste nach dem Meer offenbarte deutlich in seiner Bildung, daß das Gestein früher unter dem Meeresspiegel gelegen haben mußte, denn nur dort, konnte es entstanden sein: Korallenkalk! Mangaia bot das anschauliche Bild einer gehobenen Koralleninsel.

Das Riff belebte sich. Die ganze Dorfschaft schien zuletzt versammelt, um den seltenen Dampfer anzustaunen, der, da Kapitän Winkler die Tiefenverhältnisse kannte, bis dicht unters Riff heranging. Auf einmal drüben ein Schrei, ein Jubelruf, und ein endloser Palaver des Völkchens der hundert braunen Leiber, das da das Korallenriff unsicher machte – Muro'oa war entdeckt!

Ein Hin und Her in rarotonganischer Mundart der Eingeborenen, ein Wortschwall der Freude. Und ein Trauerklagen zugleich, als Muro'oa vollendet. Inzwischen hatten Kameraden von ihm bereits ein Boot übers Riff getragen und setzten vom Land ab.

Kapitän Winkler aber prüfte Wind und Strömung, besprach sich mit dem verstehend nickenden und ihm erklärenden Kanaken und meinte dann zu den Herren, die um ihn standen: »Ich finde überraschenderweise hier dennoch die Möglichkeit, zu ankern. Grund ist keiner, aber eine ablandige Strömung, die mir gestattet, mich vor lange Kette zu legen nach Ausbringung des Ankers auf dem Riff. Dann werde ich versuchen, unter dem Landschutz der Insel in Ruhe unsre Havarie zu beseitigen. Mit zwei Tagen rechne ich. Wer von den Herren sich den Betrieb da binnen mal anschauen will, hat volle Freiheit.«

Horst, Friedel und Dr. Hell waren gleich Feuer und Flamme. Und die natürliche Freundlichkeit, mit der der Gerettete, der sehr wohl inzwischen erfahren, wer ihn auf der Klippe erspäht, sie einlud, Gäste im Hause seines Vaters zu sein, machte die Erwartung und Freude voll. Die andern Herren brauchten länger zu einem Entschluß.

Unterdessen waren die drei mit Muro'oa schon im ersten Kanu zum Anlegedamm gerudert, den die Inselbewohner vom Riff ein kleines Stück ins Meer gebaut. Lange war's noch nicht her, daß es geschehen. Voller Erwarten betraten zumal Horst und Friedel den neuen unbekannten Inselboden.

Schon ein Blick vom Riffrand über die Lagune ließ sie erkennen, daß da etwas Besonderes vorgehen müsse. Zwar standen noch viele auf dem Riff, um den Heimkehrenden zu begrüßen und die Anstalten des Dampfers zu beobachten, der seinen Anker auszubooten sich anschickte, aber auch mitten auf der Lagune lagen Boote. Emsig wurden von ihnen Fische ins Wasser geworfen. Die Ausbeute war ungeheuer gewesen, als die Flutwelle über das Riff kam. Nicht ohne Schaden zu tun war sie bis weit zwischen die Hütten vorgedrungen, und ihre Spuren noch unverkennbar. Unter dem in die Lagune gespülten Reichtum waren auch einige der Lieblingsfische der braunen Bevölkerung: Haie, Leckerbissen auf Mangaia, und ein seltener obendrein. Diese fütterten die Kanaken von den Booten aus. »Bis sie sind satt und legen sich auf Grund. Dann wir schlingen einen Strick um Schwanz und sie ziehen hoch. Denn er kann nichts mehr tun, so voll ist er satt.« Wollte Muro'oa seine Gäste foppen? Fast sah es so aus. Aber am Abend konnten sie Zeugen sein, daß er die Wahrheit gesprochen.

Inzwischen hatten sie sich, nachdem die Lagune schnell überquert war, dem Hause Muro'oas genähert. Wohl konnte dieser Händedruck und Nasenreibung tauschen mit den voller Freude herbeieilenden Nachbarn. Aber sein Vater und sein Bruder, mit denen er zusammen wohnte, waren am Morgen erst nach Irirua, dem andern, auf der Ostseite in tiefem, fruchtbarem Tal gelegenen Dorf gewandert, um dort Kunde zu suchen von ihm, dem seit über einer Woche Verschollenen.

Die drei merkten es ihm an, wie gern er sofort dem Vater entgegen wollte, und sagten ihm zu, ihn zu begleiten. Verklärt ward Muro'oa ihrer Absicht inne. Aber ohne seine Gastlichkeit zu zeigen, ließ er sie nicht aus des Vaters Hause, das sie heute doch zum erstenmal betraten. Es war weniger der Wohlgeschmack der Speisen, der Horsts und der andern Überraschung begründete, als vielmehr die kunstvolle Arbeit, mit der sie alle Geschirre, Geräte und Matten geschmückt fanden; Schnitzereien und Webekunst, wie sie sie selbst auf Samoa kaum gesehen. Während Muro'oa selbst, gegen die Sitte, die solche Tätigkeit ja nur der Frau gestattet, sich ihre Bewirtung angelegen sein ließ, hatten sie Zeit, ihre Beobachtungen auszutauschen: eigentümlich, daß in der Sprache dieser Inselbevölkerung so häufig k und ng erklangen, während nur selten ein f oder h aus dem schnellen Palaver herauszuhören gewesen war. Eigentümlich durchaus diese weiße, turbanartige Kopfbedeckung aus Tuch, die die meisten Männer, vornehme Gestalten, durchweg kaum dunkler als Südeuropäer, trugen. Aber wo blieben die Frauen? Wenige nur waren auf dem Riff zu sehen gewesen.

Als sie dann bald mit Muro'oa die schroff über dem Dorf abfallende Kalkwand Mukatea erklommen und auf der plattenbelegten, mit schwarzen und weißen Kieseln sorgfältig ausgesteinten Straße über die nächsten Terrassen ins Innere der Insel schlenderten, sahen sie den Grund: hier oben waren die Frauen, auch Muro'oas Schwester. Die Bebauung des Landes ist auf Mangaia Frauenberuf. Wie der der Männer das Fischen. Schmuck sahen die Äckerchen aus. Sorgfältig und gut bearbeitet. – Schon blieb die nächste Terrasse unter ihnen zurück. Die Hügel begannen. Neunzig, auch hundert Meter mochte der höchste wohl über der See liegen. Kärgliches niederes Gestrüpp stand an den Böschungen. Nur hier und dort Palmen oder überhaupt größere Bäume. Erst noch tiefer nach innen begann wieder der grüne Inselzauber.

Aber da zögerte Dr. Hell im Weiterschreiten. Kleine weiße Steinpyramiden ließen einen besonderen Pfad abzweigen. » Rua tapu«, sagte Muro'oa und führte die Gäste, als er ihre fragenden Mienen sah, den neuen Pfad seitab. Sie kamen bald schon zurück. Rua tapu war ja nicht weit, die tiefe Höhle, in die seit Jahrhunderte« die Eingeborenen ihre Toten warfen.

»Daß die aber nie voll wird?!« hatte Friedel auszusetzen, dem diese Art der Bestattung erheblich zuwider war. »Die See wird wohl von unten her dafür sorgen, daß es immer wieder Platz gibt«, entgegnete Dr. Hell zur Überraschung seiner beiden jungen Freunde. »Ja, gebt mal acht,« fuhr er fort, »ich glaube, wir finden hier noch mehr Höhlen. Und bei diesen Korallenkalkbildungen liegt es durchaus nahe, daß, eine entsprechende Tiefe der Höhlen vorausgesetzt, Verbindung nach See zu besteht.«

Als ob es Muro'oa auf sofortige Bestätigung der von ihm allerdings nicht verstandenen Worte angekommen wäre, deutete er kurz darauf nach der andern Seite. Zwischen den Hügeln in einer Falte gähnte eine neue Höhlenöffnung, die noch stärker als Rua tapu durch Steinpyramiden vor menschlicher Annäherung geschützt war. Steinpyramiden bannen. Ihr Ort ist unbetretbar. Auch Muro'oa kostete es deutliche Überwindung, näherzutreten. Wie betend und beschwörend murmelte er einige unverständliche Worte vor sich hin und sagte dann mit tiefer, geheimnisvoller Stimme: » Tungua ole Po«, »Der Eingang zur Unterwelt« …

Da schrillte vom Weg voraus ein Ruf. Wie erlöst sprang Muro'oa auf, lief, stürmte förmlich fort. Dort kam sein Vater und traute seinen alten Augen nicht.

Die Freunde überließen die beiden ihrer Wiedersehensfreude und blieben vor der dunklen, abgrundtiefen Öffnung der Höhle stehen. Das Schwarz der schattenden Tiefe hob sich hart gegen den sonnbeschienenen zackigen Rand ab, fernher klang die Brandung und formte unversehens im Ohr wieder den geheimnisvollen Namen, voll von Rätseln der Liefe da unten: » Tungua o le Po«.


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