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Ungeheuer

Dr. Hell blieb nicht der einzige an Bord, zu dem Horst und Friedel sich schnell hingezogen fühlten. Oft genug traf man sie auf der Brücke an. Kapitän Winkler stand ihren Fragen gern Rede und Antwort. Namentlich Horst verfolgte alle mit der Führung des Dampfers zusammenhängenden Vorgänge mit unermüdlicher Lernbegierde. War er auch Reedersohn und an sich auf Schiffen nicht unbekannt, so hatte doch das verantwortungsreiche Handeln auf der Brücke eines Dampfers auf weiter Fahrt, das sich im Bereich von Kompaß, Maschinentelegraph und Kartenhaus zumeist abspielt, einen ungebrochenen Reiz auch für ihn.

Ein zweiter Magnet ward des Kapitäns Vertrauter von mancher früheren Fahrt, der alte Karsten. Mit ihm im Kreis von ein paar andren, meist jüngeren Kameraden der Besatzung während der Freiwache auf dem Vordeck zu hocken, wenn er als alter Fahrensmann sein Seemannsgar n spann oder zu schwermütigen Schifferweisen das Matrosenklavier erklingen ließ, blieb der jungen »Riffpiraten« liebster Zeitvertreib.

Die Aufgaben des »Pinguin« waren mit den letzten Fängen zunächst beendet. Keinerlei Aufenthalt hemmte seinen Lauf in den Osten. Schon bald sichtete der Ausguck backbord voraus die Brandung des ausgedehnten Leverigde-Riffs, auf dem halben Weg zwischen den Tonga-Inseln und der Cook-Gruppe. Der Ruf »Land voraus!« bringt noch immer auf jedem Schiff alles, was Zeit und Beine hat, an die Reeling. Aber diesmal fiel der Dampfer, anstatt, wie sonst, auf das Land zuzuhalten, nach Steuerbord ab, um nicht zu nah in das gefährliche Fahrwasser hineinzugeraten, das den riesigen Korallenblock umgibt, der das Riff ausmacht. Dort gab's ja auch nichts zu holen oder zu sehen. Gischt und Brandung, einige Meilen lang, blieben die einzigen Zeugen der gefährlichen Bänke.

Plötzlich sah Horst, und zu gleicher Zeit Friedel und die meisten der Neugierigen an der Reeling, zwischen Schiff und Brandung einen einzelnen Wasserstrahl hochschießen, wie eine stäubende Fontäne. Schon scholl der Ruf: »Dort bläst ein Wal!« Merkwürdigerweise schien es nur einer zu sein, während sonst meist eine ganze »Schule« zusammen auftritt.

In kurzen Zwischenräumen stieß er seinen Atem aus. »Er richtet sich auf langes Tauchen«, stellte Karsten fest, der einigen »Pottwalverstand« hatte, wie er sagte. »Wenn er so lang und so oft bläst, dann hat er vor, hinunterzugehen. Möchte wissen, warum er sich hier in der Nähe des Riffs so allein herumtreibt, kalkuliere aber, er wird seine Gründe haben.«

Der dunkle Körper verschwand, mit einem mächtigen Ruck ging der Wal zu Grund. »Pinguin« hatte gestoppt, um den nahen Riesen des Ozeans nicht durch den Gang der Maschinen zu verstören. Aber umsonst wartete man eine Weile auf sein neues Emportauchen. Doch kaum ging die Weisung: »Halbe Kraft voraus!« wieder durch das Sprachrohr zur Maschine, als Kapitän Winkler auch schon wieder Gegenbefehl gab. Überrascht wandten sich aller Blicke in der Richtung des Riffs. Hart vor der Brandung war unversehens der mächtige Kopf des Wales wieder emporgeschossen. Senkrecht verschwand er bereits von neuem in der Tiefe … Da war etwas los, fühlte jeder unwillkürlich.

Kaum waren Gläser zur Hand, als der Riese schon wieder hoch kam. Erregt peitschte seine Schwanzflosse den Wasserspiegel. Ein neuer Anlauf – und hinab! Kein Zweifel, da ward ein verschwiegener Kampf gekämpft am Riffgrund in der Tiefe.

Erregte Rufe hallten auf einmal durcheinander. Dann folgten alle Beobachtenden lautlos dem neuen merkwürdigen Schauspiel, das drüben anhob.

Senkrecht war der Wal ganzleibs aus dem Wasser herausgeschnellt. Helle Streifen hoben sich deutlich jetzt von seinem dunklen, massigen Kopf ab, liefen fast bis zur Hälfte des riesigen Leibes. Gischtend schlugen die Wogen über ihm beim Zurückfallen zusammen. Schon sprang er von neuem. Deutlicher erfaßten die Gläser das Bild. Zwischen dem zahnbewehrten Unterkiefer, der fast rechtwinklig abstand, und dem Vorderkopf hing eine helle Masse, von der alle jene Streifen ausgingen wie weitgreifende Arme.

»Ein Krake!« rief Karsten im Erkennen.

Rundum im Kreis jagte jetzt der Wal. Deutlich sah man nun die Fangarme des Polypen, der sich des Riesen erwehrte und seine Saugnäpfe immer wieder, mit den Armen züngelnd, am schliefrigen Leib seines Gegners anzusetzen suchte. Einer lag unbeweglich über der eckigen Stirn und verdeckte scheinbar die Ausstoßöffnung, denn der Wal blies nicht mehr. Ein anderer tastete wild nach der Stelle, wo das kleine Auge des Riesen sitzen mochte. Aber die genaue Beobachtung aller Einzelheiten blieb erschwert durch die schnellen Wendungen der kämpfenden Ungeheuer; beide Riesen ihrer Art.

Eine ganze Weile dauerte schon dies Ringen auf Leben und Tod, dies Jagen durch Gischt und Schaum. Immer wieder schnellte sich der Pottwal hoch, ganz übers Wasser, und riß den Tintenfisch mit sich. Mehr als einmal ward zwischen den wütend züngelnden Polypenarmen das Riesenauge des Kraken sichtbar, am äußersten Ende seines unförmigen Leibes. Durchs Glas, wenn auch nur augenblickslang, ließ sich deutlich der Ausdruck wahnsinniger Wut und unerbittlichsten Hasses aus diesem fast halbmetergroßen Auge lesen.

Dunkel färbte sich mehr und mehr der Gischt um die Kämpfenden. Der Krake versuchte sein letztes Mittel, natürlich ohne Erfolg, wo ihn einmal die Kiefer des Wals gepackt hatten … Auch im unsichtigen, gefärbten Wasser hielt er fest, was er hatte.

Bald schon wurden seine Bewegungen ruhiger. Nur die Schwanzflosse spielte wie triumphierend mit den Wellen … Der Kampf schien entschieden. Die Fangarme des Polypen erlahmten und glitten vom Leib des Riesen hinunter. Die Beute mit sich schleifend, entschwand der Sieger den Blicken. Schon waren die Haie zur Stelle. Blitzschnell durchschnitten ihre Rückenflossen die See. Wo ein Aas ist, da sammeln sich die Haie.

*

Noch des Abends, als Friedel und Horst mit Karsten und einigen andern in einem Winkel der Aufbauten zusammensaßen, bildete natürlich dieses seltene Erlebnis reichlichen Gesprächsstoff. Karsten wußte, daß sie mehr als einmal die Spuren solcher Kraken in Walmägen gefunden und daß gerade die treibenden Reste solcher Polypen für die Walfischfänger einen guten »Spermgrund« anzeigten; sein »Pottwalverstand« behauptete gleicherweise steif und fest, der Riese überwältige den einmal ergriffenen Kraken durch Betäubung mit dem Walrat, der den Vorderteil seines Schädels füllt; jedenfalls wußte er noch mehr solcher Abenteuer der Riesen des Ozeans, bei deren nicht wenigen er selbst Zeuge gewesen zu sein beteuerte. Was Friedel und Horst von Ba'oa gehört über die Kämpfe der Insulaner von Manono mit Riesenkraken, fand mannigfache, schier unglaublich klingende Ergänzung.

Kein Wunder schließlich, daß bei solchen Gesprächen über die wehrhaften Ungeheuer der See auch das Wort »Seeschlange« fiel. Professor Allwiß zwar, der sich mit Dr. Hell und Friedels Vater zu der Gruppe gesellt, lachte laut auf. Und selbst als Karsten im Ton des Überzeugtseins durch eigenes Erleben von einem Tag erzählte, wo sie einst bei den Bermudas nach tollem Orkan jenes Fabelwesen gesichtet, sich durchs Wasser schlängelnd mit den Ringelwindungen seines Leibes, hocherhobenen langen Halses, darauf der platte Kopf von vorweltlicher Gestalt gesessen, erklärte er alles für »Hundstagsphantasie« und »unwissenschaftlichen Blödsinn«, so daß der Alte schwergekränkt schwieg.

Dr. Hell aber meinte, unter Zustimmung auch von Friedels Vater, daß die Wissenschaft die Frage nach jenen, vielleicht ja fälschlich Seeschlange genannten, aber doch keineswegs nur einmal bezeugten unbekannte Rätselwesen offen lassen müsse. »Denn wir können jedenfalls noch nicht beweisen, daß es nicht existiert.« – »Aber wir müßten doch Spuren von ihm gefunden haben bei unsrer bisherigen Tiefseeforschung«, trumpfte Professor Allwiß auf.

»Dat is sicher,« knurrte Karstens Baß, »so sicher, wie dat ich mit 'nem Schmetterlingsnetz Spuren von ein Elefant ausmachen müßte.« Da hatte er die Lacher auf seiner Seite.

Professor Körner aber blieb ernst. »Karsten hat auf seine Weise etwas ganz Richtiges gesagt. Nicht nur sind unsre Tiefenfänge, so viel ihrer auch schon gemacht wurden, doch nur wie verschwindende Stichproben im Vergleich zu den ungeheuren Weiten und Tiefen der Ozeane – wie auch alle unsre Lotungen doch nur annäherungsweise ein wirkliches Bild der Bodengestaltung des Grundes geben –; sondern auch die Mittel, mit denen wir fangen, bleiben, so groß unsre Netze auch sein mögen, klein, zu klein, als daß wir die Spuren etwa – ich setze den Fall hypothetisch, Kollege – vorhandener, ungleich größerer, geschweige denn solch riesiger Tiefseebewohner mit ihnen entdecken könnten. Daß also unsre Netze schweigen, bedeutet bei ihrer Kleinheit deshalb noch gar kein Urteil über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit unbekannter Tiefseebewohner solcher Ausmaße.«

Karsten aber hatte die Sache satt, fing an, auf seiner Ziehharmonika zu spielen und machte so der Debatte ein Ende. Ein paar Lieder klangen über das Schweigen der Weiten hin. Funkelnde Sternbilder leuchteten klar und glitzernd. Aus den Wellen grüßte ab und an ihr Spiegelbild in kurzem, mildem Glanz.

Als die Professoren mit Dr. Hell den Kreis ihrer Kollegen auf dem Achterdeck aufsuchten, atmete Karsten tief und seufzte. »De Klugsnakers können mi gestohlen blieven. Wat miner Modder Sohn mit eignen Oogen sehn het … ähem, ehä«, räusperte er sich ausgiebig und brummte fort: »Freilich, dortau muß man up en richtiges Schip wesen sein, aber nich up so en lausigen Dampfer; sowat kommt all von sowat. Et is allens 'n neumodischen Kram, die Tiefseeprofessors und die Dampfers … Ja ja, Jung, dat glöv man nur!« beteuerte er, als er Friedels protestierendes Gesicht gewahrte. – »Aber warum fahrt Ihr denn da mit so einem lausigen Dampfer, Karsten?« fragte der etwas spitz. – »Bloß von wegen dem Käppen,« sagte der Alte, der in Gegenwart der beiden Jungen immer ein bißchen zwischen Mundart und Hochdeutsch hin und her lavierte, und wies mit dem Daumen rückwärts zur Brücke, »wo der is, da muß Pidder Karsten auch sein, dat is ne lange Geschichte. Wenn ju gut tut up die Weiterreis, denn verteil ick ju di ook mal. Andermal. Dat aber bleibt wohr: Dats die lausigen Dampfers die eigentliche Seefahrt tot macht hebben. Was en richtiges Schiff is, das führt Masten un Takelwerk un –«

Es kam wie Rührung über den »alten Fahrensmann, und die Jungen saßen mit brennenden Augen bis tief in die Nacht neben ihm, über sich den strahlenden Südseehimmel und vor sich das glimmende Fünkchen der nie ausgehenden Piepe des einstigen Segelschiffsmaaten. Mit dem »verfluchtigen Gepumper« fing er an, »daß man nie eine ruhige Stunde hat auf dem lausigen Dampferkasten, immer spukt im Raum drunten die olle Maschine.« –

Und träumte sich dann wieder einmal hinein in die Zeit seiner Jugend, unter den weißen Schwingen vollgebraßter Segel, die ihn durch alle Weltmeere getragen. Don Stunden des Stururs und der Stille begann sein Erinnern zu reden. Und den beiden, die seinen Mären lauschten, war es, als ob er selbst nimmer wüßte, welche darunter die schönsten gewesen.

Die trotzigen, voll harter Tat! Da die schrille Pfeife des Steuermanns »alle Mann« hinaufjagte in die Rahen, im Orkan bei Kap Horn, die vereisten Segel zu bergen, die wie Bretter standen, starr und stur … Wo Hein Gehrung, sein Freund, über Bord ging und er selbst die Pferde nicht mehr unter sich fühlte, so waren seine Beine steif und klamm. Und doch ward das Kap bezwungen und der Sturm durchtrotzt in Männertat und Gottesführung.

Oder ob jene andern die schönsten gewesen, die liebsten, jene Stunden und Tage und Wochen im Passat, an Deck verträumt, auf dem gerollten Tauwerk liegend, den Blick verloren zwischen den weißen, sonnigen und beschatteten Segelflächen hinauf ins Fernenblau der Unendlichkeit, das selten nur ein weißer Vogel weit klafternd durchquerte. Und Stille … Stille, nur betont noch durch das leise Rauschen der Flut die Bordwand entlang, kielhin vom Bug zum Heck, nur betont noch durch das Janken und Knarren im laufenden Gut, wenn der Wind etwas schralte oder Atem geholt … Die tausend Gedanken, die durchs Denken glitten wie die Delphine vorm Bug und die Tümmler um den Kiel … und dann wieder solch unendlich seligem Nichtmehrdenken Platz gaben, verrinnendem Träumen durchsonnter Stunden …

»Das waren Zeiten, Kinnings, dortaumalen,« nickköpte der Alte und schien aller Unbill, Langeweile und Widrigkeit, von Flauten so gut wie stetem Kreuzen und allem andern, was dem Fahrensmann querein kommt, wenn »Rasmus« seine Mucken zeigt, schier vergessen zu haben, »na, ick segg ju bloß: dor sah man nich aus as ein Swinegel wie düssentags, wenn man bloß die Rauchfahne miteins über Deck weht. So'n Segelschip, dat 's 'n Salon, aberst so'n Dampfer, dat 's 'ne Swinkate, stinkt meindag nach Maschinenschweiß, da kann kein Tobak gegen an … Neumodischen Kram! … Twf!« Voll Ingrimm spuckte Pidder Karsten über die Reeling, da ihm beim schnellen Ziehen der Sutter zwischen die Zähne geraten war. Als aber Horst ihm offenbarte, was ihm schon die ganzen Lage im Kopf herumging, sprang er auf und machte Augen wie Spiegeleier: »Jungs, wollt ju mich tom Narren holen?«

»Wahrhaftig nicht, Pidder. Aber ich glaube wirklich, daß die Dampfer bald ohne Schornstein fahren werden, und dann wüßten sie eigentlich Öler heißen. Und nicht nur das. Es kommt sicher nochmal eine Zeit, wo man Schiffe bauen kann, die bis auf den Grund zu tauchen vermögen. Heut geht's noch nicht wegen dem Wasserdruck und manchem andern, aber kommen wird das Tiefseeboot doch, so gut wie das Luftschiff gekommen ist und das Flugzeug. Dann aber, Pidder, brauchen wir nicht mehr stundenlang die Netze aufzuwinden, um hinterher einen kärglichen Blick auf tote Tiefseetiere zu werfen; – dann beobachten wir drunten in der Liefe selbst das ganze unterseeische Feuerwerk vom Kleinen bis zum Großen. Erst dann gibt's Wissen – und vielleicht, Pidder, finden wir auch dann deine Seeschlange wieder!«

Pidder Karsten kam noch nicht zu sich. Zwar der Gedanke, daß er dann doch recht behalten würde mit der Seeschlange, schien versöhnlich, aber – »Nee, Jungs, da lat man die Finger von!« kopfschüttelte er und entwich, »dat wär Düvelswerk!«


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