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Die Strudelhöhle

Da sollten »wir mal hinunter!« regte sich in Horst die Entdeckerlust. Aus Friedels Augen sprach der gleiche Wunsch.

»Ist leichter gesagt als getan!« dämpfte Dr. Hell und beugte sich über den scharfen Rand des Kalkfelsens, lauschte plötzlich erstaunt und winkte die Jungen neben sich.

Atemlose Stille …

Aber da drunten, deutlich hörbar, ein Rauschen von Wassern in abgründiger Liefe! – Sie ließen Gesteinbrocken hinabfallen, hörten aber keinen Aufschlag. Wahrscheinlich nahm das Gurgeln der Wasser den Schall weg. Immerhin, die Höhle mußte sehr tief sein.

»Von hier aus können wir kaum hinunter; aber wir wollen Muro'oa fragen, vielleicht gibt es noch einen andern Eingang. Versuchen können wir's ja einmal.« – Muro'oa sowohl wie sein Vater, ein alter Insulaner mit prächtig modelliertem Charakterkopf, wie sie nicht häufig sind unter den Rassen der Südsee, wohl aber unter den Maori von Neuseeland, erschraken sichtlich, als sie vom Vorhaben der drei hörten. »O Herr, laß es! Es ist unmöglich. Niemand ist je lebendig aus der Unterwelt zurückgekommen!«

Sie wunderten sich zunächst, wie fließend der Alte, der die Warnung des Sohnes mit einem ganzen Wortschwall unterstrich, Englisch sprach. Kein reines, aber doch mühelos zu verstehen. Als sich später ergab, daß er früher als Schiffszimmermann einige Jahre auf einem Walfänger gefahren war, hatten sie des Rätsels Lösung.

Schließlich fand sich Muro'oa doch wenigstens bereit, sie am nächsten Morgen zu einer andern Höhle zu führen, deren Eingang in halber Höhe der Wand Mukatea lag. Mit hineinzugehen lehnte er ab. Die Höhlen auf der Insel waren allesamt für die Insulaner » tabu« – heilig, gebannt, keiner durfte sie betreten. Der Ursprung des Bannes stammte natürlich noch aus vorchristlicher Zeit, aber er hatte sich als Volkssitte so rein erhalten, daß niemand dagegen verstieß.

Als sie, ausgerüstet mit allem Nötigen, und begleitet außer Muro'oa von zwei jungen Matrosen des »Pinguin«, am frühen Morgen dem Strand entlang wanderten, kreuzte ihren Weg ein ganz schwarz bemalter Eingeborener, der Muro'oa eine Weile aufhielt und sich in höchster Erregung und Erschütterung mit ihm besprach: der Vater seines ertrunkenen Gefährten, der das Zeichen der Trauer angelegt, wie es bei den Ältesten noch Sitte ist. Muro'oa schien durch die Begegnung etwas abergläubisch geworden zu sein und riet noch jetzt des öfteren von jedem Betreten der Höhlen ab. Das Wort » Po« spielte in seinen Warnungen eine große Rolle.

Sehr bald, nachdem der Warner am Eingang zurückgeblieben, empfing die Vordringenden tiefes Dunkel. Sie entzündeten die windsicheren Lichter, schickten, sobald sie merkten, daß der Gang sich gable, den einen Matrosen nochmals zurück und ließen draußen um einen Felsblock das Ende des leichten Lotdrahtes winden, den sie hinter sich abzurollen gedachten, in Erwartung noch öfterer Verzweigungen im Innern der Höhle. So war von vornherein der Rückweg gesichert.

Der Gang blieb eng. Sie mußten einer hinter dem andern gehen. Dr. Hell führte. Bald jedoch schon konnten sie geräumigere Grotten durchqueren, teils auf abschüssigem Boden schreitend, teils in steilem Klettern einige Meter aufwärts gelangend.

Plötzlich verhielt der Führer den Schritt. Der Boden hörte auf. Eine schroffe Tiefe! Drüben schien die Höhle wieder eben. Sie überwanden in vorsichtigem Klettern den Absturz und standen in geräumiger Wölbung. Helltönend warfen die Wände jeden Laut zurück, spielten vielfältig mit den Menschenworten, die hier vielleicht zum erstenmal ertönten, in ständigem Echo Fangball.

Nach kurzem Aufenthalt setzten die fünf ihren Entdeckungsgang fort durch den größten der weiterführenden Gänge, der ihnen in ungefährer Richtung nach dem » Tungua o le Po« zu weisen schien. Aber er ward bald so eng, daß sie nur gebückt gehen, ja sich zuletzt liegend vorwärts zwängen mußten, vorsichtig ihre Gerätschaften und den Mundvorrat nach sich schleifend. Der Beulen setzte es genug ab durch unvermutet herabhängende Ansätze zu Tropfsteinbildungen. Endlich gab's wieder Luft.

Horst hielt sich hart hinter Dr. Hell und konnte fast besser sehen als er, was in den Umkreis von dessen Laterne kam, da die Gestalt des Vordermanns ihm das Licht selbst verdeckte, dessen helle Flamme seinen Träger selbst oft unangenehm blendete.

Voller Überraschung schrie er plötzlich auf. Im Dunkel voraus hatte er hohe, helle Reflexe tanzen sehen.

Da kam der Schrei auch schon tönend zurück, klangreich, mit tiefem Nachhall. Alle lauschten.

Dr. Hell schaltete eine kleine, aber hochkerzige Lampe ein, die mit ihrer Blende als Scheinwerfer wirkte, und leuchtete voraus.

Stumm standen die fünf. Tief atmend. Im Zauber eines neuen Wunders der Tiefe.

Man meinte in einem Dom zu stehen. Hohe Säulen weißgelben Tropfsteins blitzten unterm hellen Lichtkegel auf. In dämmernder Höhe verlor sich, steinernen Vorhängen und Kulissen gleich, der Formenreichtum der Stalaktiten. Dort wuchteten vom Boden auf Sockel und Brücken, Schlichte und Groteske, dazwischen ein blitzender Wasserspiegel. Dr. Hell ging einige Schritte vor, und schon durchstrahlte das Licht seiner Lampe die seitlichen Wände, als wären sie aus Alabaster, so dünnwandig zart boten sich die Gebilde dem Auge dar. Flüsternd nur tauschten die Entdecker ihre Freude miteinander: »Da, sieh!« »Du!« »Dort!« …

Mit einemmal schlug tönend eine Glocke an … Und verstummte. Noch einmal … Dieser Klang! Der Wunder größtes hier unten!

Nun rauschte es auf wie Orgelklang. Fast im Akkord. Dr. Hell war es, der den Tropfsteinsäulen die Wunderklänge entlockte. Jeder Schlag gebar einen Harfenton

Der Boden erwies sich viel weiter hinauf feucht, als der Wasserspiegel des brackigen Tümpels stand. Deutlich war eine Flutmarke am weißen Gestein zu sehen. Horst stutzte. Sollten sie schon so tief hinabgestiegen sein und auf gleicher Ebene mit dem Meeresspiegel stehen?

Ping … klang es durch eine plötzliche Stille wie ein leiser Schlag auf eine Messingplatte Ping … pingpang … Tropfenfall! Der ewige Baumeister, der dies Werk der steinernen Orgel geschaffen!

Sie mußten sich doch schließlich trennen von dem seltenen Dom. Ein mühsames Klettern begann, nachdem sie endlich einen weiterführenden Gang gefunden. Merklich empfanden sie Müdigkeit nach dem häufigen gebückten Vorwärtstasten. Sobald es der Raum erlaubte, stärkten sie sich aus dem mitgenommenen Mundvorrat. – Weiter! Da stand neu vor ihnen ein gähnendes Dunkel und lockte. Lockte, als ob noch irgend etwas Besonderes in der Nacht wohne, die die Leuchte nur zeitweise in zitternde Helligkeit tauchte.

Mitten im Gang hielten sie plötzlich inne. Fast alle zugleich. Dumpfes Rauschen drang ihnen entgegen. Weiter! Stärker schwoll es an Halt! Dunkel zu Füßen vor ihnen, in dem auch der Laternenschein keine jenseitige Wand mehr fand. Aber ein sonniges Gleißen aus der Höhe, ein zitternder Lichtstrahl, der drunten einen wilden Tanz anhob in nachtdunkler Tiefe auf gurgelnden Wassern

Rua o le Po – die Höhle der Unterwelt

Horst, Friedel und Dr. Hell wußten sofort beim ersten Blick zur Höhe, daß sie unter der Pforte standen, an die sie gestern Muro'oa geführt. »Noch keiner ist lebend wieder herausgekommen«, raunte der Klang seiner Worte aus dem Gurgeln der Wasser. – Von neuem schaltete Dr. Hell seine Scheinwerferlampe ein. Sie sahen sich auf schmaler Terrasse. Etwa haushoch über der brodelnden Tiefe. Hinunter gab es keine Möglichkeit. Ebensowenig hinauf. Auf der kleinen Plattform endete der Gang. Wie auf hohem Altan standen sie zwischen Decke und Boden.

Wilder wurde das Brausen zu Füßen. Wie starke Mineralquellen sprudelte das Wasser hoch, hier und dort leise nur strömend, als sickerte es mehr herauf; an andern Stellen wie von einer Kraft gestoßen und gepreßt, in ständigem Schwall, wie eine Glocke von Glas zu schauen. »Das Meer!« sagte Dr. Hell. »Draußen hat die Flut begonnen und drückt die Wasser mit Macht herein durch geheime Gänge und Brüche im Gestein.« – »Und wenn die Ebbe kommt, müssen also die Strudel sich umkehren?« fragte Horst. – »Freilich! Das ist das Rätsel der Strudelhöhle: Der Ozean draußen speist im ewigen Spiel von Ebbe und Flut diese Unterwelt. Was die Flut heraufdrückt, saugt die Ebbe wieder strudelnd zurück.«

Die Flut bannte die Entdecker in den Gang zwischen Unterwelt und Dom. Denn als sie dort wieder anlangten, ergab sich, daß der Grund des Domes sich ebenfalls unter der steigenden Flut gefüllt hatte und nicht mehr überschreitbar war. So kam es, daß die Sonne schon gesunken war, als die Höhlenforscher am wieder aufgespulten Draht zurück zum Ausgang fanden.

Nicht ohne ein Grausen zuletzt und Ahnen von Zusammenhängen. Als sie nach beginnender Ebbe den wieder gesunkenen Wasserspiegel im Doch durchwateten, fanden sie zwischen den Wundergebilden des Tropfsteins eine halbverweste Leiche. Es ließ sich leicht vermuten, daß irgendwie eine Verbindung bestehen müsse vom Dom aus nach der Totenhöhle. Und vom Dom zum Meer, was man ja schon bemerkt, so daß die Flut die Toten flottzumachen und die Ebbe sie nach und nach mitzunehmen vermochte, vielleicht in den Ozean, vielleicht auch nur, um sie in andern Winkeln und Gängen modern zu lassen.

Rua tapu … Rua Po.

Reich des Todes Unterwelt!

*

An der Wand Mukatea wartete voller Besorgnis nicht nur Muro'oa, sondern auch sein Vater auf die fremden Männer, die den Bann des Tabu gebrochen. Während die beiden Matrosen schnell an Bord geschickt wurden mit den Gerätschaften, erfüllten die andern Friedels Bitte und erstiegen im schnell zunehmenden Dämmern die Höhe der Wand vollends.

Fern über der Kimmung ging der Mond auf. Hart zu Füßen aus der Tiefe scholl ein melodischer Singfang aus den zerstreuten Hütten des Dorfes. Dunkel vor dem Riff draußen lag der »Pinguin«. Nur einige Bordfenster leuchteten bereits außer den Positionslaternen. Nach der offenen See hin glänzte Flammenschein über niedrigen Auslegerbooten und tanzte mit der Dünung auf und nieder. Dort stellten die Männer von Oneroa fliegenden Fischen nach, deren Grund dort war, und richteten ihre Netze, die aufkommenden zu fangen wie Vögel. In der Luft. Muro'oa erzählte es, nachdem die drei von ihrer Fahrt zur Strudelhöhle dem ängstlich lauschenden Vater und Sohn berichtet. Das Gespräch verstummte …

Der ganze Zauber von Südseeweite und Südsee-Märchennacht glitt zwischen die Männer auf hoher Felsenwand; redete aus der Brandung zu Füßen und dem ewigen Lied raschelnder Palmwedel am Rande der Äcker hinter ihnen auf den Terrassen; und strich wie mit magischer Gewalt aus dem Silberschein des Mondes über die Wellen her, in breitem Band. Voll hob der Hüter der Nacht sein Antlitz leuchtend über See und Land und Weite, mild lächelnd, märchenhaft.

Da brach in eigentümlich geheimnistiefem Ton der alte Roratungu, Muro'oas Vater, das Schweigen.

»Ihr Fremdlinge, die ihr unsre Gäste wäret, scheidet morgen wieder von uns. Oro hat euch behütet. Ihr durftet die Strudel sehen in Rua Po und seid nicht gestorben. Hört! Ich will euch erzählen ein Märchen meines Volkes. Wen Oro liebt, versteht die Sprache der Tiefe und der Höhe.

Es war einst ein Mädchen meines Volkes, das hieß Sina. Diese hatte Tulau'ena sehr lieb, und er sie. Als er aber einmal lange Tage auf Fischfang fortblieb, stellte ihr sein Nebenbuhler nach, und sie floh in die Hügel. Er aber lauerte ihr auf, sie zu töten, da sie Tulau'ena lieber hatte. In ihrer Verzweiflung stürzte sie sich in die Strudelhöhle, denn sie wollte lieber sterben, als in des Verfolgers Hände fallen. Als Tulau'ena heimkehrte, fand er sie nirgends und hatte nicht Ruhe noch Rast. Je länger er wartete und suchte, desto größer ward seine Liebe. Schließlich machte er sich auf zur Mutter des Lebens und des Todes, Matamolali, tief im Innern der Erde, und beschwor sie, daß sie ihm sage, wo Sina sei. Sie führte ihn an den Strom des Todes in der Höhle Po, und er sah Sina im Zug der Toten. Traurig winkte sie ihm von fern. Da bat er Matamolali, daß sie Sina heraushole zu neuem Leben aus dem Todeswasser. Matamolali schwieg.

Als er aber immer wieder in sie drang und nicht abließ, sagte sie zu ihm: ›Du weißt nicht, was du willst. Die Liebe hat dich blind gemacht! Womit wolltest du Sina denn lösen?‹ Da antwortete Tulau'ena: ›Mit allem, was ich habe, und wenn es mein Leben wäre!‹ Da schaute ihn Matamolali lange an und sprach: ›Ich sehe, deine Liebe ist echt. Sina wird leben, aber du mußt dein Opfer bringen.‹

Matamolali ging wieder zur Tiefe an das Todeswasser und sah in seinem Strudel zunächst krummbuckelige Gestalten vorbeitreiben, dann Menschen mit morschen Gliedern, kranken Gebeinen, Lahme, Blinde, und zuletzt einen langen Zug wohlgestalteter Männer. Endlich nahte auch der Zug der Jungfrauen, und wieder kam als letzte Sina. Da rief Matamolali das Mädchen an: ›Liebling, bringe mir bitte dein Halsband her!‹ – ›Hier‹, flüsterte Sina und reichte es hin. – ›Du sollst es mir hierher bringen!‹ befahl die Alte. – ›O verzeiht,‹ rief das Mädchen, ›ich muß fort, die andern warten auf mich.‹ – ›Du bringst es sofort hierher!‹ zürnte die Alte, und als Sina wirklich herankam, ergriff Matamolali sie schnell bei der Hand, zog sie aus dem Todeswasser heraus und brachte sie eilends zu Vaiola, dem Lebensquell, tauchte sie unter, schlug sie, tauchte sie wieder und wieder in die Lebensflut und fragte dazwischen: ›Was ist dort?‹ – ›Westen.‹ – ›Und dort?‹ – ›Osten.‹ – ›Und dort?‹ – ›Süden.‹ – ›Und dort?‹ – ›Norden.‹ Da ward Sina wieder lebendig.

In Matamolalis Behausung erhielt Sina einen Kamm, ihr wirres Haar zu ordnen. Sie betrachtete ihn näher und flüsterte vor sich hin: ›Sei mir willkommen, du lieber Kamm!‹ – Warum bist du denn so gerührt?‹ fragte die Alte. – ›Ach, er sieht gerade so aus, wie der, den mir mein Liebster schenkte!‹ Da winkte Matamolali dem Tulau'ena, hereinzukommen. Und beide sanken sich in die Arme und weinten und freuten sich in einem.

Tulau'ena aber hörte kaum, warum Sina einst in den Tod gemußt, da machte er sich auf, den Nebenbuhler zu strafen, fand ihn und stieß ihn in wildem Ringen über diesen Felsen Mukatea hinunter. Aber der andre hielt ihn im Fallen fest. Beide fand man zerschmettert am Strand.

Matamolali saß neben der schlafenden Sina und nickte. Sie wußte, was geschah, denn sie hatte Tulau'enas Opfer selbst gefordert. Für Sinas Leben das seine! Als aber San erwachte und auf den heimkehrenden Tulau'ena voller Sehnsucht wartete, indem sie in Unruhe umherging und mit ihrer lieblichen Stimme das Lied der Mädchen sang:

Le lupe, 'o le manu a ali'i
Fa'amolemole a fo'u fesili,
Pe na'ua fau nei loe'ufili.

›Taube, du herrlicher Vogel, du sollst es mir sagen,
Bitte, erhöre doch meine Fragen,
Kommt denn mein Liebster nicht bald gegangen‹ –

da erbarmte Matamolali ihr Geschick. Sie gab ihr einen Zaubertrank, der ihr alles Erinnern nahm, so daß sie nichts mehr wußte von allem, was sie erlebt.

Aber deine Treue will ich auch lohnen, dachte sie, denn sie hatte Sina liebgewonnen, hütete sie wie ein eigenes Kind und gab ihr nach einiger Zeit allerhand tiefe Geheimnisse zu wissen. Bald darauf nahm sie Sina mit zum höchsten Baum auf der Insel und sagte ihr: ›Steige, Tochter, in sein Geäst, immer höher, immer höher. Ich werde den Zauber sprechen, und auch der kleinste Zweig wird dich tragen. Kannst du zurück, so ist es mir lieb; wenn nicht, so weiß ich, daß du dich in guter Hut befindest.‹

Da stieg Sina in den Baum. Immer höher. Und der Baum wuchs mit, immer höher. Schließlich langte sie an einem kleinen Häuschen an, das seine Zweige nahe dem Himmel berührten. Darin fand sie ein altes blindes Mütterchen, das Zuckerrohr-Sirup kochte. Unbemerkt nahm Sina eine ihrer Schalen und aß den Sirup, denn sie hatte Hunger. Und danach die zweite, die dritte der Schalen, bis plötzlich die Alte, die gemerkt hatte, daß ihre Schalen immer weniger wurden, ihren Arm erwischte und ein großes Geschrei anhob, daß nun ihre heimkommenden Söhne nicht satt würden. Da bot ihr Sina ihr größtes Geheimnis zum Geschenk und heilte ihre Blindheit.

Noch war die Alte wie trunken vor Freude über die schöne Welt, die sie plötzlich sah, als ihr einfiel, sie müsse Sina vor ihren Söhnen verbergen, damit sie sie nicht töteten. Und schon kam Maui, ihr ältester Sohn, die Sonne, mit seinem ganzen Glanz. Und als die Mutter sich geblendet abwandte, was sie sonst nie getan, merkte Maui, daß seine Mutter sehend war. ›Wer, Mutter, hat solch ein Wunder an dir getan?‹ fragte er. Da kam sein Bruder Tamola, der Mond, sah sofort den Glanz in seiner Mutter Augen, sog aber auch gleich die Luft ein und sprach: ›Mutter, was für ein Duft ist hier? Es riecht nach Menschen.‹ – ›Ja,‹ sagte die Mutter, ›ein holdes Mädchen kam von der Erde und hat mich von meiner Blindheit geheilt; so lieblich ist es und schön, daß es einer von euch heiraten soll.‹

›Gut, Mutter,‹ antworteten beide, ›es mag wählen zwischen uns. Und wir wollen nicht eifersüchtig sein.‹

Darauf ging Pipiula, die Alte, zum Öltrog, und als sie ihn hob, kam Sina hervor. Pipiula nahm sie bei der Hand und sprach: ›Nun, Kind, triff deine Wahl! Welchen willst du zum Mann?‹

Sina überlegte einige Zeit, sah Sonne und Mond an und sagte dann: ›Ich kann Maui nicht heiraten, er ist zu heiß, und ich kann ihn nicht ansehen. Aber Tamola sieht so ruhig und gut aus, mit dem will ich gehen.‹ Als Sina so gesprochen, kam Tamola auf sie zu, legte seine Arme um sie und begann mit ihr durch die Luft zu segeln.

Und so kann bis auf den heutigen Tag jeder das Mädchen im Monde sehen, wie sie mit ihm durch den Himmel reist.«

Die Brandung rauscht.

Märchenmondnacht leuchtet über den Weiten.

Südseezauber spinnt um Seele und Sinn.


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