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Auf der Toteninsel

Inzwischen hatte der Südostpassat endgültig eingesetzt und der April begonnen. Die Zeit des Abschieds rückte nah. Aber der »Pinguin« blieb aus. Dafür kam über die Funkenstation Tafaigata ein Fernspruch vom Forschungsschiff, daß die Reise verzögert und seine Ankunft vor Apia erst Ende April zu erwarten sei. So sehr sich Friedel auf den Vater gefreut, auch der Aufschub freute ihn. Denn nun rückte die Möglichkeit näher, doch noch Hartmut Stein in seiner Heimat erwarten zu können. Seinen Briefen zufolge mußte er Anfang April Deutschland verlassen. Wenn dann etwa der »Pinguin« sich in Samoa noch zu planmäßigen Forschungen aufhielt, konnte es gelingen. Auch Horst freute sich mit, in besonderer Spannung auf den vielbesprochenen, doch von ihm ja noch nie gesehenen »Samoaner«, wie Friedel immer noch gern sagte. Die Nachrichten, die Horst von seinen Eltern hatte, machten ihm das Bleiben auch nicht gerade schwer; es stand alles gut daheim. Was wunder, daß die beiden Vettern die Sonne von Samoa doppelt strahlend über sich stehen zu sehen meinten, nun sie sich so die Gedanken von Plänen neuer Streifen und Entdeckungsfahrten einspinnen lassen konnten.

Da meldete plötzlich ein zweites von Mulifanua herübergebrachtes Telegramm aus Apia den ältesten Sohn des Hauses, Hermann, zu ganz kurzem, wenigtägigem Besuch bei den Eltern an. Sein Schiff, auf das er als junger Leutnant zur See kommandiert war, lag einige Tage im Apianer Hafen, ehe es zur gründlichen Überholung ins Tsingtauer Dock ging. Hermann Stein, dessen in Tsingtau von Mai ab ein Sonderkommando für ein Jahr wartete, mochte sich doppelt dieses Gelegenheitsurlaubes freuen. Die beiden Jungen besaßen jedenfalls das Feingefühl, für diese Tage kurzerhand aus Haus Neuland zu verschwinden, um ganz die Eltern mit ihrem Ältesten für diese Zeit unter sich zu lassen. Sie siedelten nach Mulifanua zurück und streiften, derweilen sich's Hermann Stein daheim wohl sein ließ, in den Stranddörfern umher, sahen dem Geschick samoanischen Häuserbaus zu, lernten in jeder Stunde eine Fülle neuer Kenntnisse über das Leben und Treiben eines Völkleins, dessen Dasein aus Essen, Fischen, Festefeiern und nur allzu oft süßem Nichtstun zu bestehen schien.

So mancher sehnsüchtige Blick aber flog tagtäglich übers Riff nach der Apolimastraße, von wo der »Pinguin« doch eines Tages zu erwarten war. Schwer enttäuscht kamen sie sich vor, als sie einmal, am Strand entlang heimkehrend, einen Dampfer sahen, der sich schließlich nicht als »Pinguin«, sondern als die alte »Wairuna« entpuppte. Doch war das der Anstoß, Herrn Stein, der mit seinem Sohn an demselben Nachmittag Mulifanua und Nachbar Krüger besuchte, von jenem Erlebnis an Bord desselben Schiffes im Hafen von Apia seinerzeit zu erzählen. Herr Stein machte dazu ein so ernstes Gesicht, daß Horst ganz überrascht war. »Den Fall sollte man gleich jetzt noch beim Amt zur Sprache bringen.« Krüger beschwichtigte. Aber Reinhard Stein ließ nicht locker: »In den Dingen gibt's für uns Europäer keinen Spaß. Haben die Kulis Waffen, dann kriegen wir wieder Aufstände, und es fließt Blut. Und daß der Kapitän da mehr als zwei Augen zudrückt, ist mir verständlich, weil der Mann Engländer ist. Die schreiben sich ja jede Unruhe bei uns aufs Pluskonto. Wir kennen doch die Herren!« Er schrieb sich jedenfalls Dampfer und Kapitän mit dem Datum von damals auf. Daß er den beiden Jungen Vorhaltungen machte wegen ihres »Kneifens« vor dem Besuch in Haus Neuland, nahmen sie, wie es gemeint war, aus Vater Steins Schmunzeln unschwer zu erkennen: nicht ernst. Sie setzten auch jedem Versuch, sie wieder nach Haus Neuland zu holen, denselben feinfühligen Widerstand entgegen, der sie hatte vor Tagen dort verschwinden lassen, und blieben in Mulifanua.

Aber sie planten Großes; hatten entdeckt, daß auf der einst rätselhaften Karte des Vaters der Strich, der auf Manono zu weisen schien, eigentlich in der genauen Verlängerung gerade an dessen Rand vorbeistreifte. Also mußte das kleine Inselchen gemeint sein, hinter Manono, auf der Karte »Nulopa« genannt. »Dahin segeln wir morgen«, schlug Horst kurzerhand vor. Friedels Bedenken warf er platt über den Haufen: »Mensch, ich und nicht segeln können? So siehste aus, du Landratte!« Und der untersetzte Kerl trumpfte weiter auf: »Das ist doch der einzige Weg, deines Vaters letzte Aufgabe noch ganz allein und selbständig zu lösen«, und riß Friedel durch seine Begeisterung mit.

Der nächste Morgen warf ein so glitzerndes Geschmeide von Sonnenglanz über Strand und Wälder und Weiten, daß die beiden Vettern wie in einen Taumel von Entdeckerlust und Fernenhunger gerieten. Selbst Friedel kam nicht darauf, daß sie etwas versäumt haben könnten damit, daß sie Herrn Krüger nur angegeben, sie wollten den Tag und die günstig liegende Flut mal ausgiebig zum Segeln innerhalb der Lagune ausnützen. Das war nicht falsch, denn Manono liegt ja noch innerhalb des Riffs, und Nulopa auch mit seiner einen Seite, und doch war diese Auskunft weder ganz aufrichtig noch – umsichtig. Doch daran dachte ihr jungenhafter Übermut nicht.

Horst hatte nicht zuviel versprochen: segeln konnte er. Das kleine Boot ging vor dem steifen Passat unter seiner Hand sicher und stet durch die leichtgekräuselten Wasser der Lagune auf Manono zu, das sich, lückenlos bewaldet, unmittelbar über ihrem stillen Spiegel hob. Bald kehrten sie der Westspitze Upolus, dem Kap Fatuosofia, den Rücken und kreuzten der Ostküste Mananos entlang nach Nordnordwest, wo jenseits der Brandung, draußen im Meer, die ragenden Klippen von Apolima winkten. Einzelne Hütten der Dorfschaft Salua grüßten strandentlang von Manonos Küste herüber; dann gab die fliehende Linie des Strandes an der Nordspitze der Insel die Sicht nach Westen frei. Vor ihnen sahen sie den »Hahnenkamm« liegen, das Inselchen Nulopa. Mitten aus dem Riff ragten seine steilen Basaltfelsen, gekrönt von zierlichen einzelnen Palmen. Gerade nach der Lagune hin weniger steil abfallend, bot es eine gute Gelegenheit zum Landen.

Sie arbeiteten sich durch Schlingkräuter, Gestrüpp und Graswuchs auf die Höhe, streiften am Rand entlang, mehr als fünfzig Meter steil über der Brandung, genossen den wundervollen Blick auf die Höhen Upolus und Savais und die wie mit Händen greifbare »Familie im Meere«, wie die Dorfschaften Manonos anzureden samoanische Häuptlingssitte ist. Und doch waren sie im tiefsten Grunde enttäuscht, denn sie fanden auf dem Inselchen selbst gar nichts Besonderes; entweder war es Zufall, daß der wegweisende Strich gerade hierher zeigte – aber nein, der Vater, der von früheren Reisen das Inselgebiet kannte, mußte doch genau überlegt haben, als er seine Rätselkarte ausgezeichnet. – Merkwürdig!

Sie stiegen wieder ins Boot und kreuzten hart am Riff die Lagune auf und nieder, um das Inselchen möglichst von der Seite zu Gesicht zu bekommen. Plötzlich entdeckten sie nahe über der Brandung, die sich an seinen Felsen brach, dunkle Öffnungen, wie von Höhlen. –

Wo aber wäre eine Höhle, deren Dunkel einen Jungen nicht doppelt geheimnisvoll lockte? Wenn überhaupt, dann mußte doch ohne Zweifel hier der Sinn dessen liegen, um deswillen des Vaters Plan nach Rulopa wies.

Rasch entschlossen, einzig das nahe rätselhafte Dunkel der umgischteten Höhlen vor Augen, wagten sie die Fahrt durch den nahen Riffdurchlaß, der sich in der beginnenden Ebbe deutlich abhob, und kreuzten von See aus an die Felsen heran. Horst erkannte, daß sich um nahe dem Riff selbst eine Möglichkeit zur Landung von See her bot. Gerade dort aber stiebte der Gischt wie weißer Flaum um die Felsen. Wenige Klafter ab hob sich ein einzelner Felsen nur wenig über die See, doppelt gefährlich jedem ansteuernden Boot. Eine etwa zwanzig Meter breite Durchfahrt blieb der einzige Weg, an die Höhlen heranzukommen. Da das Wasser fiel, warteten sie noch und verzehrten, mit gegeitem Segel fahrtlos auf den Wellen treibend, ihre mitgenommenen Früchte und Brote.

Kaum hatte die Ebbe den gefährlichen Felsen deutlich freigegeben und die Brandung sich etwas gelegt, als die beiden kühn auf die Einfahrt zuhielten, Horst am Steuer, Friedel am Schot des Segels, den Weisungen des Vetters umsichtig gehorchend.

Das Wagnis glückte. Glatt und sicher schoß das Boot zwischen den Felsen hindurch und lief mit einem Ruck zwischen mäßiger Brandung auf den schmalen Strand. Was tat das bißchen Nässe von den trotz aller Vorsicht übergekommenen Brechern! Stolz wateten sie zwischen Steinblöcken aufs Trockene, zogen das Boot auf eine sandige Stelle herauf, brachten den kleinen Anker zwischen zwei Felsstücken aus, daß er fest eingeklemmt saß. – Na, und die Ebbe mußte ja schon an sich das Boot immer fester auf Grund legen; also keine Gefahr!

So gingen sie ans Auskundschaften der dunklen Höhlen. Einst ohne Zweifel von der Meeresbrandung ausgewaschen, zeigten sie aber schon auf den ersten Blick deutliche Spuren davon, daß Menschenhände nachgeholfen, sie vertieft und im Innern erhöht hatten. Die ersten waren leer, schienen es aber nicht immer gewesen zu sein. In glühendem Eifer spürten die beiden weiter. Die ganze Klippe zeigte sich unterwaschen und zu Steinkammern ausgehöhlt. Und plötzlich, als sie in eine der höchst-gelegenen hereinzuschauen vermochten, wußten sie um das gesuchte Geheimnis der Insel: Nulopa war ein Friedhof im Meer.

Die zuletzt gefundenen Steinkammern bargen die Reste samoanischer Häuptlinge. Sicher schien es, daß ehedem alle diese Höhlen Begräbnisstätten gewesen, doch mochten die niedriggelegenen von Springfluten ausgewaschen sein.

Stumm standen Horst und Friedel vor ihrer Entdeckung. Hier redete samoanische Vorzeit ein ehern altes Lied von Tod und Ewigkeit. Auch hier eine »Familie im Meere«, aber eine Gemeinschaft von Toten. Schneller Gedanken Folge rief Friedel ins Gedächtnis, daß ja Manono einst der Adelssitz der Samoaner gewesen, dessen Häuptlingsgeschlechter den Titel »Malietoa« vergebend, noch bis fast zum Anfang des Jahrhunderts den bestimmenden Einfluß auf den Inseln gehabt. So redeten die Reste der Toten vor ihnen wie Runen der Geschichte; knöcherne Denkmale einstigen Ruhms, an denen Moder und Zerfall das Geschick alles Sterblichen zu vollenden begonnen.

Noch dunkler schien ihnen das Dämmer der Höhlen zu werden, daß sie plötzlich aufmerkten. In die atemverhaltene Stille drang lauter das Brandungslied von draußen. Und riß sie jäh aus ihrem Forschen und Träumen … Die Flut hatte wieder das Wort genommen. Und draußen drohte schon der Tag über kurze Dämmerung der Nacht in die Arme zu gleiten.

Als sie hastig und eilend zum Ankerplatz zurückfanden, war das Boot verschwunden.

Die Flut mußte es gehoben, das Tau zerscheuert und zerrissen haben. Der Anker klemmte noch zwischen den Klippen, schon um sein rostiges Eisen spielte die Flut.

Horst fand sich zuerst in die Lage. Sehr gemütlich ging er dabei nicht mit seiner Muttersprache um, aber er meinte ehrlicherweise sich selber bei dem Beweis zoologischer Kenntnisse, den er gab. Und zu ändern war eben nichts an der Sachlage, daß der Friedhof im Meere notgedrungen nun ihr Nachtquartier werde. Jetzt kam ihnen auch die Dummheit zum Bewußtsein, die sie gemacht, indem sie niemanden in Mulifanua verrieten, daß sie nach Manono und Nulopa wollten. Wichtiger aber als alle solche verspäteten Überlegungen war die Frage: »Was nun?«

Die Flut stieg, die paar Fußbreit Klippenstrand wurden schmal und schmaler. »Was man sich einbrockt, muß man auch ausessen können«, suchte Horst der Lage noch mit etwas wie Selbstbewußtsein zu begegnen. Aber auch Friedel ließ sich nicht unterkriegen. Sie suchten einen möglichst hochgelegenen trockenen Platz in einer der leeren Steinkammern, fanden hier und da im letzten Licht auch noch einige Büschel trockenen Tang und lernten die Nacht hinbringen, freilich nicht gerade mit viel oder ruhigem Schlafen. Wenige Meter unter ihnen brüllte die Brandung, in den Steinkammern ächzte das Echo der Flut. Der Ort und seine Geschichte, die nahebei modernde »Familie im Meere«, sorgten für – Zerstreuung und Wachen.

Bereits das erste Licht des Morgens sah die beiden nach Wegen in die Freiheit suchen. Keiner war gangbar; irgendwie an dem zum Teil überhängenden Felsen in die Höhe oder auf dem Manono gegenüber liegenden flacheren Teil des Inselchens zu gelangen, mißglückte gänzlich. Dabei vermochte Horst übrigens nirgends Trümmer des Bootes festzustellen, die die Flut doch hätte antreiben müssen, und schloß daraus, daß das Boot irgendwo treibe, und hoffte, es werde gefunden und nach seinen Insassen geforscht. Vergeblich. Auch zeigten sich nirgends Fischersegel; das Stückchen Meer, das sie übersehen konnten, lag leer und still. Um Mittag ward der Hunger schon empfindlich. Gegen Abend waren sie so weit, zu versuchen, was sie von Samoanern so oft gesehen: »Figota« zu verzehren, roh. Lockte auch der Geschmack nicht, so zwang doch halt die Not.

Die zweite Nacht verbrachten sie an einem bei Ebbe erreichten höheren und nach See zu, Apolima gegenüber gelegenen Platz, hatten allen über Tag gefundenen trockenen Tang und alles Genist gesammelt, auch ein oder das andere seltene Stück angeschwemmten Holzes war darunter, und versuchten mit den letzten Streichhölzern zum zweitenmal ein Feuer zu entfachen. Tagsüber hatte es sich als zwecklos herausgestellt, da der Passat allen Rauch zerstreute, noch ehe er über die Felsen hochstieg. Und nur der Rauch hätte am Tage ein Ruf sein können. Nun mußte es der Feuerschein bei Nacht. Aber noch ehe der Morgen kam, war aller Vorrat verbrannt, und die Flammen erlöschen. Sie bestanden diese neue Probe auf ihre jugendliche Zuversicht und Zähigkeit. Ehe die Sonne aufging, waren sie schon wieder auf neuer unermüdlicher Suche nach netterem Brennstoff.

Doch bevor sie noch ein paar Arme voll Tang gefunden, schallten plötzlich Stimmen in ihre Einsamkeit der Klippen. Im Morgendämmerstand ein sehnig schlanker junger Samoaner vor ihnen, fast noch erstaunter über ihre Gestalten, als sie über sein plötzliches Auftauchen. – Manaia heiße er, sei Häuptlingssohn von Apolima, hätte das Feuer vor zwei Stunden gesehen auf der Fahrt zum Fischfang. Und deshalb auf Nulopa zu gehalten – soviel entnahmen sie den Bruchstücken gegenseitigen Verstehens. Es war in ihrer Lage mehr als genug. Und die Sonne, die über die Kimmung sprang, erschien ihnen noch strahlender als vor zwei Tagen, bei ihrer Ausfahrt in eitel Abenteuerlust und wenig Überlegtheit.


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