Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Heinrich Steffens

Aus dem Leben von Heinrich Steffens.

»Was ich erlebte.« Aus der Erinnerung niedergeschrieben von Heinrich Steffens. 10 Bände. (Breslau 1840.)


In Steffens kämpft und verbindet sich auf merkwürdige Weise der wissenschaftliche und religiöse Geist, eine Naturseligkeit und nordische Phantastik mit nordischer Kraft der Forschung, Schärfe des Urtheils und der Kritik, deutsche Weichheit und Empfänglichkeit des Gemüths mit skandinavischer Festigkeit und insbesondere dänischer Schroffheit. Sein Vater, ein Holsteiner, als Chirurgus in verschiedenen Gegenden der dänischen Monarchie wirksam, war ein sehr leidenschaftlicher, unruhiger Charakter, aber dabei von edler Gesinnung, ein großer Verehrer der Wissenschaft und freiester Forschung, nur oft von seinen beschränkten Verhältnissen in seinem kühnen Streben gehemmt; die Mutter war eine Dänin, aus sehr wohlhabender Familie, zart und sinnig, von tiefer Religiosität, aber zu weich und zart für die rauhen Lebensverhältnisse, fast immer bettlägerig und dennoch mit ihrer Sanftmuth das Herz des wilden Knaben noch leichter lenkend, als die Strenge des Vaters vermochte.

Von sechs Geschwistern, vier Söhnen und zwei Töchtern, war Heinrich der zweite Sohn. An Körperschönheit stand er seinen Brüdern nach, aber durch große Beredsamkeit und lebhaften Geist zeichnete er schon früh sich aus, und die Eltern bestimmten ihn für die theologische Laufbahn. Doch erwachte bereits in der Seele des Knaben eine überwiegende Lust an der Naturbeobachtung, ein reger Trieb, die Geheimnisse des natürlichen Lebens zu ergründen. Trotz aller Gefahr für seine äußere Existenz, trotz aller Ermahnung der Eltern (die Mutter drückte noch auf dem Sterbebette den Wunsch ihres Herzens aus, der begabte Sohn möchte sein Talent zum Dienst der Kirche verwenden) blieb der studirende Jüngling der Stimme seines Genius getreu und ergab sich dem Naturstudium – zunächst ohne alle Aussicht auf Versorgung. Und dieser Stimme folgend kam er endlich nach Deutschland, ward ein Schüler des berühmten Philosophen Schelling, einer der bedeutendsten Vertreter der damals aufblühenden Naturphilosophie, Professor an der Universität Halle, dann Breslau, ein echter Preuße und deutscher Patriot, der selber den Soldatenrock anzog und den Degen umschnallte, als es galt, Deutschland vom Joch der französischen Zwingherrschaft zu befreien; und endlich sein Leben in Berlin beschließend, hochgeehrt von seinem König, von den Männern der Wissenschaft, und berühmt als deutscher Schriftsteller, dessen Werke (poetische, religiöse, politische und philosophische) ihm einen ehrenvollen Platz sichern in der deutschen Literatur, und in Bruchstücken schon der Jugend durch Lesebücher und Chrestomathien zugänglich gemacht worden sind.

Aus seiner bändereichen Selbstbiographie, die auch für die Jugend manches Beherzigenswerthe enthält, obwohl sie in ihrer Ganzheit nur von der reiferen Erfahrung des Mannes gewürdigt werden kann, möge hier nur Zweierlei eine passende Mittheilung finden: Erstlich die Schilderungen der nordischen Naturscenen, wie sie dem empfindlichen Gemüth des Kindes, des Knaben und Jünglings sich einprägten, und zweitens die geschichtliche Scene des Befreiungsjahres 1812-1813, wo der deutsche Professor den Ruf des Freiheitskampfes an alle Studenten ergehen ließ. Beide Partieen haben neben dem biographischen Interesse noch einen bedeutenden selbstständigen Werth als geographische und historische Charaktergemälde.

* * *

Stavanger.

Zu Stavanger in Norwegen (wohin der Vater versetzt worden war) bin ich Der lebendigen Darstellung zu lieb behalten wir die direkte Rede bei. den 2. Mai 1773 geboren, und schon in meinem dritten Jahre verließen meine Eltern diesen Ort wieder, und ich machte in diesen frühen Jahren die erste Seereise längs der rauhen Küste des westlichen Norwegens. Im Jahre 1794, als ich Norwegen auf einer Reise nach Bergen wiedersah, mußte das Schiff seine Zuflucht in dem südwestlichen Hafen Siriwaag suchen. Wir blieben, durch widrigen Wind aufgehalten, acht Tage lang in diesem einsamen Hafen. Stavanger ist nur sechs Meilen davon entfernt. Aber auf die Wimpel lauernd, durften wir den Hafen nicht verlassen. Ich kam seitdem meinem Geburtsort nie so nahe. Wie ein Traumbild lag die Gegend vor meinem Blick. Die Kirche zu Stavanger ist eine der ältesten im Norden. Die Stadt selber ist jedoch nur bedeutend durch den Fischfang. Wie auf den Universitäten halbjährig auf die wachsende Zahl der Studirenden und in den Bädern auf die Badegäste gewartet wird, so lauern die Einwohner meines Geburtsortes auf die Heringszüge. Die Stadt ist mit Hull in lebhaftem Verkehr den ganzen Sommer hindurch; Dampfböte mit Ladungen von frischem Lachs und Hummer gehen nach England, reiche Engländer eilen hierher, um einige Gerichte Lachs für ihre schwelgerische Tafel selbst zu angeln; mir aber schweben Häuser, nackte Felsen und Meer in nebelhafter Mischung vor der Seele, und ich weiß nicht zu sondern, was sich aus eigener Erinnerung erhalten hat, was ich durch frühe Ueberlieferung innerhalb der Familie erfuhr, und was ich später erworbenen Kenntnissen verdanke.

* * *

Trondhiem (Drontheim).

Die Erinnerung an Trondhiem, diese in der norwegischen Geschichte so wichtige Stadt, tritt schon bestimmter hervor. Als meine Eltern die Stadt verließen, war ich im siebenten Jahr. Die Umrisse der Stadt sind mir im Gedächtniß geblieben. Die Eltern wohnten in einer Häuserreihe, die offen nach dem felsigen Meerbusen zu lag. Und gegenüber lag die Felseninsel Munkholmen, auf deren Spitze eine Festung, die häufig für Staatsgefangene benutzt wurde.

Die sorgsame Mutter hütete ängstlich die Kinder, so daß wir nur selten in die Umgegend hinausziehen durften. Um so überraschender war mir eine Erscheinung, die ohnedieß zu den Seltenheiten gehört. Die Heerschaaren der Lemminge, dieser wandernden hamsterartigen Thiere, erschienen in einer Gegend, in deren Nähe wir uns aufhielten, erfüllten Scheuern, Hof und Feld und setzten uns in großen Schrecken; aber der Heereszug, wahrscheinlich nur eine Abtheilung eines größeren, verschwand nach wenigen Stunden.

* * *

Helsingör (auf der dänischen Insel Seeland, am Sunde).

Hier erst fängt die zusammenhängende Geschichte meines Lebens an. Klar liegt vor mir die erste Wohnung meiner Eltern in Helsingör. Eine kleine Nebenstraße lief nach dem Sunde zu, es war das letzte Haus am Strande, eine hohe Treppe führte zum ersten Stock; in den wüsten Räumen richteten sich die Eltern nothdürftig ein; Möbel wurden allmälig angeschafft und in den leeren Stuben vertheilt. Der Winter verging höchst traurig; die Sorgen der Einrichtung quälten die Eltern. Ich kam indessen in die Schule. Wie froh war ich, als der Frühling kam! Vor dem Hause nach dem Strande zu war ein Fischerplatz; Netze waren ausgespannt, Böte lagen am Ufer, die Fischerfamilien, Männer, Frauen, Kinder, welche die kleinen Wohnungen in der Nähe einnahmen, trieben sich da herum, die Männer bestiegen die Böte, ruderten, segelten weit weg, verschwanden vor unsern Augen und kamen mit Fischen beladen zurück. Die wilden Fischerknaben wurden unsere Spielgenossen. Die Mutter wünschte es zwar nicht, aber sie konnte es nicht verhindern. Dem Vater schien es eben recht zu sein. Es war eine Zeit, in welcher die strenge äußere Erziehung etwas galt, das Leben in der Luft, das frühzeitige Baden und Schwimmen, das ernsthafte Balgen der Knaben unter einander.

Die Eltern bezogen eine andere Wohnung, die eine höchst günstige Lage hatte. Die Knaben wurden älter, und allmälig schloß sich immer bedeutungsvoller der natürliche und geschichtliche Reichthum der Gegend auf.

Wenn man von Kopenhagen kommt, entdeckt man Helsingör erst ganz in der Nähe, und unter sich sieht man dann die Häuser fast wie im Meere schwimmend. Die Dächer sind dicht an einander gedrängt, in die Länge gezogen, denn zwei Hauptstraßen, mit dem Meeresufer und unter sich parallel (Strandgaden und Steengaden), ziehen sich fast von dem einen Ende der eigentlichen Stadt bis zum andern von Süden nach Norden. Vom nördlichen Ende der erstgenannten Straße ragt die Brücke in das Meer hinein. Hier biegt sich das Ufer der Insel Siaelland plötzlich nach Westen. Der Strand, der hier in das wilde Kattegat hineinsieht, ist wie allenthalben um Helsingör herum ganz flach, und eine lange Straße, ein Fischerdorf, bildet die Vorstadt Lappen. Dort ist der neue Hafen angelegt. Am Ende dieser Vorstadt liegt ein großer Garten mit dem königlichen Lustschloß Marienlyst.

Helsingör hatte damals noch keinen Hafen, alle Schiffe mußten auf der offenen Rhede ankern. Durch die Meerenge des mittelländischen Meeres mag eine viel größere Anzahl Schiffe durchgehen, aber Gibraltar und Ceuta liegen vier Meilen auseinander, und die durchgehenden Schiffe verlieren sich in diesen weiten Räumen. Der Sund ist nur eine halbe Meile breit, nach Schweden zu seicht, daß die durchgehenden Schiffe genöthigt sind, sich näher an das dänische Ufer zu halten. Hier, nicht dicht gedrängt wie in den großen Häfen von Bordeaux und Marseille oder auf der Themse bei London, auf der Elbe bei Hamburg, vielmehr in freien Räumen ankernd, liegen sie da. Jenseit erheben sich die hohen Ufer der schwedischen Küste. Gegen Südwesten liegt frei und stolz die Insel Hween, jener berühmte Sitz des Astronomen Tycho Brahe mit den Ruinen des Schlosses und des Observatoriums Oranienburg.

Ein schöner ruhiger Sommertag schenkte uns von unsern Fenstern aus einen reizenden Anblick. Die Sonne erhob sich des Morgens über die schwedischen Hügel; Helsingborg lag dann, obwohl die Häuser erkennbar, dennoch im Dunkeln. Die Sonne spielte auf den leicht bewegten Wellen; gerade vor uns ankerte in majestätischer Ruhe die königliche Fregatte als Wachtschiff; die Masten ragten stolz in die Höhe; der lange schmale Wimpel hing von dem mittleren größten Mast herunter; die dänische Flagge fiel in Falten um die Stange. Wir erkannten die Matrosen, die sich auf dem Verdeck bewegten. Rund um dieses Wachtschiff herum lagen Schiffe jeder Größe und aller Völker, ebenso ruhig auf der wenig bewegten Wasserfläche. Der durchsichtige Morgenduft warf einen leichten Schleier auf das Ganze. Allmälig regte sich auf allen Schiffen die Mannschaft, es war eine Stille, eine verhängnißvolle Ruhe, die das mannigfaltigste Leben zauberhaft festhielt und band. Dann tönten von allen Schiffen die Morgenglocken und mitten drin ließ sich der Kanonendonner der königlichen Fregatte als Morgengruß hören. Wir sahen den Blitz früher, als wir den Schuß hörten; der Rauch drängte sich hervor, bog sich theilweise in kreisförmigen Ringen, die sich oft verlängerten und krümmten, ohne zu zerreißen, indem sie in der Luft fortgetrieben wurden. Es war etwas so Großartiges und doch so Anmuthiges, etwas so Stilles und doch so mannigfach Bewegtes – wie ein Morgen der Völker, der über den sonnenbeglänzten Wellen aufging. Jedes Mal, wenn ich später die Sonne heiter aufgehen sah von Hügeln über eine flache Gegend, vom hohen Gebirg' über ganze Landschaften, war es mir, als entdeckte ich die Schiffe mit ihren Masten in dem Morgennebel, ich glaubte die Glocken zu hören, ich lauerte auf den Schuß.

Den Tag über war Alles auf den Schiffen beweglich, Böte kamen und gingen, und wenn wir nach der Schule gehend durch die Stadt wanderten, sahen wir die fremden Reisenden, Franzosen, Engländer, Russen, Spanier, Portugiesen, Nord- und Südamerikaner, die, während die Schiffe vorübergehend auf der Rhede verweilten, die Stadt nur auf kurze Zeit besuchten. Auf der Rhede kamen und gingen die Schiffe, je nachdem der herrschende Wind es erlaubte. Durch mäßigen Wind fortgetrieben, ganz mit schwellenden Segeln bedeckt, traten die Schiffe bei Hween hervor und näherten sich immer mehr und mehr dem Sunde, während andere Schiffe die Anker lichteten – nicht selten hörten wir das taktvolle Schreien der Mannschaft – die Segel wurden ausgespannt, die Schiffe setzten sich in Bewegung und verschwanden nach dem Kattegat zu. Einige Male, wenn auch nicht häufig, gingen mächtige große Kriegsschiffe vorbei; kleine Escadren, russische, schwedische, dänische, englische, sehr selten französische. Die königliche Fregatte, die als Wachtschiff uns imponirte, erschien dann neben den mächtigen Zwei- und Dreideckern unbedeutend und klein. Wenn sie aus dem Kattegat erschienen oder nach Norden segelnd die Festung passirten, ward diese mit Kanonenschüssen begrüßt, und die Festung antwortete auf dieselbe Weise. So bewegten sich die Völker durch würdige Repräsentanten vor unsern Augen.

Gegen Abend bei der sinkenden Sonne glänzte Hween in hellem Sonnenlichte. Die schwedische Küste lag vor uns; wir konnten die Häuser in dem dicht am Ufer liegenden Helsingborg unterscheiden, durch mäßige Fernröhre die Fenster zählen; die Sonne vergoldete die Spitzen der Masten, und während sie sank, ließen sich die Abendglocken aus den Schiffen hören; der Kanonenschuß als Abendgruß erscholl von der königlichen Fregatte, der Rauch wirbelte über die Meeresfläche und Alles versank in Dunkelheit und Ruhe. Es geschah wohl, daß durch konträren Wind, der lange anhielt, mehrere hundert Schiffe sich anhäuften. Wenn dieser sich nun änderte und günstig ward, entstand auf allen diesen Schiffen eine lebhafte Bewegung. Nach wenigen Augenblicken waren die Tausende von Masten mit schwellenden Segeln belastet, und im gedrängten Gewimmel segelte die mächtige Flotte ab und verlor sich in der Ferne. Plötzlich war dann der eben belebte Sund von allen Schiffen entblößt, das Wasser bewegte sich in ruhiger Einsamkeit. Ein oder ein paar Schiffe, die auf der weiten Fläche zurückblieben, ließen die plötzlich eintretende Stille erst recht wahrnehmen.

Wir Knaben hatten auf der Stube eine Flaggenkarte. Bei einer so lebhaften Aufforderung waren uns diese Flaggen, und selbst die öfter wechselnden derselben Nation, bald bekannt. Aber bald wetteiferten wir darin, die Schiffe verschiedener Völker aus dem bloßen Bau ohne Hülfe der Flagge zu erkennen, sowie aus der weiten Ferne die Gattung der Schiffe zu unterscheiden. So lebten wir in lebhafter Verbindung mit allen Handelstädten der Erde. Landkarten lagen auf den Tischen umher, und wenn wir erkannt hatten, zu welchem Volk das Schiff gehörte, verfolgten wir den Weg, den es gehen mußte, wenn es nach der Ostsee segelte oder wieder heimkehrte. Während ich in der Schule die neun Kreise Deutschlands und die Unzahl der Kurfürsten-, Herzogs- und Bisthümer, Grafschaften und freien Ritterschaften mit Mühe im Gedächtniß zu behalten suchte, ohne daß es mir jemals gelang, versetzte die lebendige Phantasie mich hier in die verschiedensten Gegenden der Erde. Ich lebte in den Handelsstädten, ich besuchte alle Küsten, ich sah das Gedränge der Schiffe in den Häfen, ich durchschnitt mit den segelnden Schiffen das Meer, und daß unter solchen Verhältnissen Reisebeschreibungen unsere Lieblingslektüre bildeten, versteht sich.

Zuweilen war es uns vergönnt, dieses oder jenes Schiff zu besteigen. Wir erfuhren, wo es herkam und wo es hinging; wir waren bald mit allen Räumen des Schiffs bekannt; wir lernten die Masten, das Takelwerk, die Segel kennen und machten uns die technischen Ausdrücke eigen. Mit den Matrosen, die an den lebhaften Knaben ihren Gefallen hatten, schlossen wir Freundschaft. Besonders war es uns wichtig, genauere Bekanntschaft mit den Schiffen der ostindischen Kompagnie zu machen. Ihre Ankunft, durch das Gerücht schon im Voraus verkündet, erwarteten wir mit Ungeduld. Wir ließen dem Vater keine Ruhe oder wandten uns zudringlich an die Freunde des Hauses, daß sie uns auf die Schiffe begleiteten. Wir wußten mit einem den Kindern eigenen Instinkt bald den mittheilsamsten Mann zu erkennen, der uns dann sagte, ob das Schiff von der dänischen Besitzung Friedrichs Nagor bei Kalkutta, oder von Tranquebar bei Madras oder von Kanton kam; dann mußte man uns ausführlich von der Pracht der mächtigen Hauptstadt der ostindischen Kompagnie erzählen, von den Wundern der Gegend, von den seltsamen Thieren, von den räthselhaften Bewohnern – und wenn sie auch Manches erdichten mochten, wir hörten es doch gern. Doch lernte ich bald aus dem Tone der Erzählung das wirklich Erlebte von dem bloß Erdichteten unterscheiden.

* * *

Roeskilde.

In meinem zwölften Jahre wurde der Vater als Regimentsarzt von Helsingör nach Roeskilde – jene alte, jetzt zu einem unansehnlichen Landstädtchen herabgesunkene Residenzstadt der alten dänischen Könige – versetzt. Die Gegend von Roeskilde ist gegen Osten schön, ein Meerbusen des Kattegat schneidet tief in das Land hinein; in alten Zeiten fähig, größere Schiffe zu tragen, endigt er jetzt bei einem Dorfe in der Nähe der Stadt so seicht, daß er nur für kleine Jachten fahrbar bleibt; die Ufer sind mit Waldungen bedeckt. Wir Kinder konnten 18 Kirchthürme von dem elterlichen Garten aus zählen, die in der fruchtbaren Gegend zerstreut lagen, und die stille idyllische Anmuth der Umgebung hatte für uns, die wir bisher an das Ufer eines tobenden Meeres und sein Gewühl gewöhnt waren, einen ganz eigenen Reiz; auch für mich schien eine Zeit des ruhigen Genusses eingetreten. Was mir früher geworden war, hatte ich nicht verloren, aber neue Schätze boten sich mir dar, und ich genoß sie in vollem Maaße.

Aus diesem innigen, freudigen, einsamen Naturleben entsprang meine Liebe für die Naturforschung; ich wollte die Schätze, welche die liebende Mutter noch verbarg, mir zu eigen machen. Die fernen Gebirge Norwegens und ihre gepriesenen Bewohner beschäftigten mich unaufhörlich. Daß die Felsblöcke, welche in der flachen Gegend umherlagen, jenen Gebirgen ursprünglich angehörten, hatte ich erfahren – ich weiß nicht wehr, durch wen, und von jetzt an waren sie mir Gegenstände der sorgfältigsten Untersuchung. Bald unterschied ich mehrere Gebirgsarten; ich wußte sie nicht zu nennen, aber ich ordnete sie nach ihrer Verwandtschaft, und konnte jubeln, wenn ich ein reines, weißes, durchsichtiges Quarzgeröll am Ufer des Meeres fand. Es brachte mir Grüße von dem fernen Geburtslande, dieses selbst schien mir durch meine Geburt in seinen Gebirgen das Mysterium meines Daseins zu verhüllen.

Die Bibliothek meines Vaters enthielt meist medizinische und chirurgische Schriften; Gellert, Hagedorn, Klopstock und Haller, jene gepriesenen Dichter einer vergangenen Zeit, waren da. Aber unter allen Schriften waren zwei – Tabernamorttani Kräuterbuch und Krügers Naturlehre – die mir wichtig wurden. Das große alte botanische Foliowerk mit seinen rohen Holzschnitten hatte für mich einen unendlichen Reiz. Ich sammelte Pflanzen, untersuchte ihren Bau, ich versuchte sie nach dem alten Tabernamontanus zu bestimmen und freute mich über jede neue Pflanze, mit ihren barbarisch lateinischen Namen, wie über einen gewonnenen Schatz.

Wichtiger noch ward mir Krügers Naturlehre. Mit welchem mühseligen Fleiß suchte ich mir Newtons Gravitationslehre begreiflich zu machen, wobei ich wohl merkte, daß einige mathematische Vorkenntnisse nöthig waren. Die Schule ertheilte gar keinen mathematischen Unterricht, und in der Bibliothek des Vaters fand sich kein Lehrbuch der Art; ich ruhte nicht eher, bis ich im Besitz eines solchen Buches war, und bald verstand ich wenigstens so viel von den Elementen der Geometrie und Arithmetik, daß ich Krügers Lehrbuch fassen konnte. Der mechanische Theil der Physik ist darin ausführlich abgehandelt. Die Schrift war in jener Zeit erschienen, als die Erscheinung der Elektrisirmaschine die Aufmerksamkeit der Naturforscher auf die gewaltigen Aeußerungen der Elektrizität hinlenkte. Muschenbroek hatte eben die Wirkung der leydener Flasche empfunden und die Erzählung dieser merkwürdigen Erscheinungen traf mich, jetzt einige dreißig Jahre später, als wenn sie eben Statt gefunden hätten. Schon in Helsingör hatte mir ein Knabe, welcher ein paar magnetische Stäbe besaß, das Spiel der Anziehungen und Abstoßungen gewiesen und wie die schwebenden Stäbe nach Norden zeigten. Wie geheimnißvoll erschien mir diese inhaltsschwere, stumme Sprache der Natur, wie beneidete ich den glücklichen Knaben um diesen herrlichen Besitz! Ich konnte, was ich dort zum ersten Mal gesehen, nicht vergessen, und als Krüger mich jetzt von den magnetischen Kräften unterrichtete, suchte ich jene früheren Erfahrungen wieder recht lebhaft in mir hervorzurufen. Mit welcher Ungeduld erwartete ich die erste Gelegenheit, die größern Wirkungen der Elektrizität kennen zu lernen, und dennoch wie glücklich war ich, wenn die geriebene Siegelstange Papierschnitzel anzog, wenn ich ein Glas so lange reiben konnte, bis ich das Knistern hörte!

Diese Beschäftigung erhielt einen eigenen Reiz durch ihre Heimlichkeit. Die unscheinbaren Gegenstände, welche ich sammelte, hatten für die Brüder nichts Merkwürdiges. Was ich im Stillen trieb, blieb dem Vater verborgen; die vertrauten Unterhaltungen mit der kranken Mutter waren ganz anderen Inhalts, weder Mitschüler noch Lehrer hatten eine Ahnung von meinen kindlichen Naturstudien, und in der ganzen Stadt war mir keiner bekannt, der mich leiten, belehren, meine Zweifel lösen konnte. So besaß ich ein eigenes, tiefes Geheimniß, ich sah mich durch diese Beschäftigung schon frühzeitig an eine genußreiche Einsamkeit getrieben, und Alles, was mich mit der Natur verband – jenes tiefe Gefühl, mit welchem ich ihr Leben zu umfassen suchte, und jene stillen Bemühungen, sie im Einzelnen zu ergründen, schlossen mich von der Umgebung aus.

* * *

Kopenhagen.

Was bis in meine alten Tage eine Gewohnheit geblieben ist, setzte mich auch in der ersten Zeit meines Aufenthalts in Kopenhagen in lebhafte Bewegung. Ich suche auch jetzt noch mit den Oertlichkeiten der Stadt, in welcher ich wohne, schnell und genau vertraut zu werden. Ich fühle mich erst heimisch, wenn ich die Stadt kennen gelernt; und wenn die nähere Umgebung mir bekannt geworden, mache ich mich mit den entfernteren Gegenden, ja mit den versteckteren, vielen Einwohnern selbst unbekannten, bekannt. Die Vorstädte, die stillen Nebengassen, wo die letzten Häuser liegen, ziehen mich vorzüglich an. Daß in der früheren Jugend dieser Trieb noch zerstreuender war und mich gewaltsamer in Bewegung setzte, ist begreiflich. Ich trieb mich in den Straßen, in den Häfen, in den Vorstädten und schönen Gegenden herum, und selbst wenn das strengste Gebot des Vaters mich im Hause festhielt, war ich von den neuen Bildern, die mich erfüllten, in eine Zerstreuung gerathen, die mich alles Frühere vergessen ließ. Das Gewühl der Stadt, das Summen in der Luft, das dumpfe Rollen der Wagen auf den Straßen, aus der Ferne vernommen, bildete dann ein eben solches Gewühl in meiner Seele, in welcher das Verschiedenartigste sich bunt durchkreuzte, ohne sich zu verwirren. Und als Gegensatz gegen dieses große Ganze diente mir dann das enge Leben der stilleren Umgebung. Kinder, welche im Sonnenschein spielten, kleine Gärten, die in die Felder hinausliefen, arme Familien in ihrem mein Herz rührenden Mangel zogen mich an. Die Pflanzen, die ich pflückte und untersuchte, das Gewühl der Insekten zwischen den schwimmenden Wasserpflanzen in einem Teiche, wurden mir Mittel der Beruhigung und Versöhnung.

Zu den ersten Schriften, die mir in die Hände fielen, gehörte Raffs Naturgeschichte für Kinder. Sie gewährte mir großen Genuß. In Kopenhagen, noch innerhalb der Wälle, ist ein königlicher Garten (Kongehaven), an das alte Schloß Rosenborg sich anschließend; ein Wald mit ansehnlichen Bäumen, von Gängen und Alleen durchzogen. Dieser Garten ist dem Publikum preisgegeben. Besonders gegen Abend, an schönen Tagen, an Sonn- und Festtagen war er mit Spaziergängern aller Klassen gefüllt. Am Tage aber, besonders des Vormittags, war der Garten ziemlich leer, und da unser Lehrer Nachmittags seine Lehrstunden gab, gelang mir es nicht selten, mich an schönen Sommervormittagen mit meinem geliebten Raff in den Garten zu schleichen. Hier, ganz einsam, von den Bäumen und Gebüschen umgeben, in der Nähe eines Teiches, unter dem Schatten eines Baumes, ergriff mich nun das Bild der unendlichen Natur. Eine bestimmte Thiergestalt, ein Insekt, wie ein Säugethier, in seiner bestimmten Form, in seiner beschränktesten Lebensweise, war mir wie ein geheimnißreicher Schlüssel, der zauberisch mir das Innerste, Verborgenste der lebendigen Natur erschloß.

Neben der Kinderschrift wirkte aber noch ein bedeutenderes Buch, Büffons Naturgeschichte, die mir in der alten Hallerschen Übersetzung in die Hände fiel. Das Deutsche machte mir keine Schwierigkeit, aber der Inhalt war doch nicht so schnell gefaßt, als ich dachte. Ich hatte zwar von großen Ueberschwemmungen, von Erdbeben und vulkanischen Eruptionen gehört. Der Schrecken, welcher durch das Erdbeben von Lissabon erregt wurde, war noch in frischem Andenken, als die schauderhafte Erschütterung Calabriens im Jahre 1787 ganz Europa entsetzte. Doch klang nur das Alles noch wie ein Mährchen; erst durch Büffons geistreiche Darstellung lernte ich eine gewaltsame Zeit kennen, eine gährende Bildung der Erdoberfläche in sich selbst, wo ganze Länder sich hoben und senkten, sich bildeten und wieder zerstört wurden, um andern Bildungen Platz zu machen. Daß die Erde ganze Geschlechter von Thieren und Pflanzen in sich verbarg, wurde mir erst jetzt bekannt. Nun eröffneten die Versteinerungen, die mir zu Gesicht kamen, den Blick in eine neue Welt.

Die Liebe zum Bücherlesen wurde durch die reiche und schöne Naturscenerie der Insel (Scaelland, Seeland) stets erfrischt. Seeland ist eine reizende Insel. Zwar, wer auf dem Landwege durch Holstein, Schleswig, Fühnen und zuletzt Seeland nach Kopenhagen reist, wird dieses kaum glauben. Er bleibt fast fortdauernd auf dem hohen kahlen Rücken, der das Festland und die Insel durchschneidet. Hier und da trifft er vorübergehend eine lieblichere Gegend wie im Fluge; die eigentlich reizenden Gegenden liegen aber in Holstein und Schleswig gegen Osten und Westen, in Fühnen und Seeland gegen Süden, und auf der letzten Insel zum Theil gegen Norden. Hier trifft man die Majestät der Buchenwaldung, die auf diesen Inseln ihren königlichen Sitz hat. Was den Deutschen auf der Insel Rügen ergreift, ist nur die schwache Andeutung jener eigenthümlichen Pracht, die besonders in der ersten Hälfte des Sommers, so lange die Blätter der Buchen die frische, Helle saftige gelblich-grüne Farbe behalten, einen unendlichen Zauber besitzt. Frische Wiesen, fruchtbare Aecker schließen sich den Waldungen an, große Seen werden geheimnißvoll von dichtstehenden Buchen umschlossen und wie verborgen gehalten. Milde Hügel wechseln mit den sanften Vertiefungen, die freilich nur höchst selten eigentliche Thäler bilden. Und wenn die tiefen, mannigfaltig gekrümmten Meerbusen sich durch die fruchtbaren Aecker, durch die dichten Buchenwaldungen, durch die waldbedeckten Höhen, durch die frisch grünenden Wiesen, die luftigen Dörfer und Höhen berührend, hindurchdrängen, erhält die Gegend den höchsten Reiz. Ein stiller dichterischer Zauber ruht auf ihr und milde idyllische Sagen, das Glück und die Wehklagen der Liebe scheinen wie heimathliche Naturtöne aus Buchen und Wald, aus Meer und Luft laut zu werden.

* * *

Bergen.

Der kopenhagener Student konnte dem Studium der Theologie keinen Geschmack abgewinnen; bald waren Botanik, Zoologie, besonders aber Mineralogie diejenigen Fächer, die er mit dem größten Eifer ergriff und fleißig studirte. Die Naturwissenschaft war freilich eine brodlose Kunst, doch die Verwandten ließen den Sonderling gewähren. Nach glücklich überstandener Prüfung erhielt der 20jährige Student von der naturforschenden Gesellschaft den Auftrag, die Westküste von Norwegen geognostisch zu untersuchen, und so machte sich der junge Mann, obwohl mit sehr geringen Mitteln ausgerüstet, auf die Reise.

Die ersten Eindrücke bei der Ankunft schildert Steffens also: Norwegens Westküste ist mit keiner andern in Europa zu vergleichen; das mittelländische Meer hat freilich Reize, die dieser rauhen Gegend fremd sind, aber die kühne großartige Verbindung, mannigfaltig wechselnde Zwischen einem grenzenlosen Meere und Gebirgen, die in ihrem Innern zerrissen, oft mit einer Höhe von 4 bis 5000 Fuß sich in das Meer hineinstürzen, findet man nirgends. Die Felseninseln an der Küste sind selbst durchwühlt und zerrissen. Vorgebirge treten durch niedrige Landengen, von den Inseln getrennt, in die Wasserfläche hinein, und die schroffen Wände, die fast lothrecht hinunterstürzen, halten, auch wenn die untere Gegend im Sonnenschein liegt, die Wolken fest.

Wir segelten dicht an einer schroffen Felsenwand vorüber, die in einer unermeßlichen Höhe aufzusteigen schien; die Meeresfläche war völlig ruhig, wellenlos und spiegelglatt, wir blickten durch das klare Wasser in eine bedeutende Tiefe, wie in einen Abgrund hinein, in welchem sich die Felsenwand schroff nach unten zu verlieren schien, wie nach oben in der grenzenlosen Atmosphäre: wir sahen Austern über- und nebeneinander an der Felsenwand kleben; wir entdeckten ein Gewimmel mannigfaltiger Fische; hoch über uns erblickten wir einen krummen, durch den Sonnenschein erhellten Faden, der von dem höchsten Rande des Gebirges sich in die Luft hineinbog, ein unerklärbares Räthsel für den, welcher zum ersten Mal von diesem Anblick überrascht war. Es ist ein Wasserfall, der sich von dem Gebirge herabstürzt; man entdeckt in der Höhe keine Spur von Bewegung der herabstürzenden Fluthen. Es scheint ein ruhender glänzender Bogen zu sein, das Wasser zerstäubt in bedeutender Höhe, jede Spur von feuchtem Wasserdunst verschwindet in der Atmosphäre; wir segelten unter dem Wasserfalle hindurch. Plötzlich verlassen uns die Inseln, wir entdecken sie in weiter Ferne wieder, der Meerbusen erweitert sich immer mehr, und vor uns liegt in seiner ganzen Größe das atlantische Meer, welches sich mit seinen mächtigen Wellen in den Meerbusen hineinwälzt.

Wir hatten zwei Tage und helle Nächte auf der Fahrt zwischen den Inseln hindurch zugebracht; der beständige Wechsel der Gegenstände hatte mich fortdauernd in Spannung erhalten. Am Morgen des dritten Tages entdeckten wir auf der Höhe eines hervorspringenden Vorgebirges eine Reihe großer weißer Gebäude; es waren Packhöfe, die auf die Nähe von Bergen schließen ließen. Indem wir das Vorgebirge umsegelten, sahen wir eine Menge von Schiffen im Hafen und über diese weg die weitläufige, hell erleuchtete Stadt mit ihren Thürmen, die, eng von hohen Gebirgen umgeben, einen großartigen Eindruck machte.

* * *

Nordwestküste von Norwegen.

Ich habe in der Zeit anderthalb Breitengrade auf der Westküste von Norwegen befahren und kennen gelernt; ich drang in die innersten Tiefen der beiden großen Fjorde (Meerbusen) Hardanger und Sognefjord hinein, und die großartige in Europa einzig kühne Gebirgsnatur umgab mich allenthalben. Es war ein seltsames Leben, welches ich nun meist in der Einsamkeit, umgeben von den schmutzigen Fischbauern, den sogenannten Striglern, führte. Den größten Theil des Tages brachte ich anfangs zwischen den Inseln zu, meist ohne zu wissen, wo ich in der Nacht ausruhen würde; oft führten mich meine Bootsleute nach einigen Fischerhütten, die keineswegs einladend waren. Man fand schon vor dem Hause die Spuren eines unerträglichen Geruchs – ekelhafte Reste verfaulter Fische umgaben die Hütten; ich mußte mich bücken, um durch die Thür, die ohne Schloß von selbst hinter mir zuklappte, in den dunkeln engen Raum hineinzutreten. Das einzige Licht fiel durch die Oeffnung des spitz zulaufenden Dachs; brannte auf dem Herde ein Feuer, so war die ganze Stube voll erstickenden Rauchs, so daß man die geschwärzten Wände nicht mehr sah. Und doch mußte ich, vom Regen gezwungen, öfters ein Nachtlager in solchem Striglerhause nehmen.

Für manche Entbehrung gewährte indeß meine Beschäftigung stets neuen Ersatz. Wenn das ganze Netz mit dem starken eisernen Rande, auf der einen Seite mit einer Schneide beschwert, allmälig in die Tiefe des Meeres hinabgelassen wurde, verfolgte ich es mit den Augen, bis es verschwand; dann lauerte ich auf den Augenblick, in welchem es auf den Boden des Meeres aufstieß. Langsam ward nun das Boot in Bewegung gesetzt, während die scharfe Kante des Instrumentes, auf dem Meeresgründe fortgleitend, was sich in der Tiefe vorfand, in das Netz warf. Mit einer großen Spannung erwartete ich dann jedesmal, was der Fang mir schenken würde. Das wahrhaft phantastische Gewühl von Schnecken, Muscheln, Seegräsern, Korallen, die neben einander da lagen, an- und aufeinander gewachsen waren, während ganz seltsam gestaltete gallertartige Mollusken sich zwischen ihnen bewegten, eröffnete mir eine Welt der seltsamsten Art.

Bekanntlich haben auch die Norweger den Glauben, es lebe im atlantischen Meere ein Riesenpolyp, der, wenn er aus dem Grunde des Meeres aufsteige, die Meeresfläche in Wallung setze und mit seinen ungeheuren Fangarmen Alles verschlinge, was sich ihm nahe. Einst verweilte ich auf einer der westlichsten Inseln. Da stürzen eines Morgens, als ich auf dem dürftigen Lager noch schlief, meine Begleiter herein und riefen ganz erschrocken: »Der Kraken läßt sich sehen!« Ich sprang schnell auf, und entdeckte in der That, etwa in der Entfernung einer halben Meile, eine heftige Wallung des Meeres, auf einer bestimmten Stelle, die offenbar von einem oder mehreren ausgetauchten Thieren entstanden sein mußte. »Wir wollen den Kraken in der Nähe besehen,« sagte ich und lief zum Boote. Meine Begleiter sahen mich erstaunt und erschrocken an. – »Das ist eine Tollheit, eine Raserei!« schrieen sie, und schlugen mir die Begleitung ganz entschieden ab. Ich hatte schon verdrießlich alle Hoffnung aufgegeben, wollte aber doch noch versuchen, was meine Beredtsamkeit vermöchte. »Ihr wißt doch,« sagte ich, »daß ich von den Thieren mehr weiß, als ihr; auch euren Kraken kenne ich und weiß, wie ihm ohne Gefahr beizukommen ist; ich stehe euch für jede Gefahr. Ich bin weichlich in der warmen Stube unter Büchern aufgewachsen und ihr seid Norwegens und der ganzen Welt berühmte kühne Seeleute; soll ich, der Schwache, Verwöhnte, euch beschämen und das wagen, wovor ihr zurückschaudert?«

»Na,« riefen sie verdrießlich; »damit sollst du Weichling nicht prahlen, aber wenn der Kraken uns verschlingt, magst du es vertreten!«

Wir setzten uns in das Boot, und da die Leute ärgerlich waren, so wurden ihre Ruderschläge kräftig; sie schienen trotzig sich und mich dem sicheren Tode entgegenführen zu wollen, und das Boot flog schnell durch die Wellen.

Gespannt blickte ich in das Meer hinaus und erkannte bald den Grund der Bewegung. Ich sah den bekannten Springbrunnen, der durch die Spritzlöcher der Walfische in die Höhe stieg, und mehrere dieser Thiere, die nicht sehr groß zu sein schienen, stoben nach allen Seilen auseinander, indem wir uns näherten. Ich forderte meine Begleiter auf, sich umzusehen und sich selber zu überzeugen, daß die Wallung des Meeres durch Walfische entstanden wäre. Sie behaupteten aber, der Kraken wäre in die Tiefe getaucht und hätte die Walfische nach oben getrieben.

* * *

Breslau, 1812.

Napoleon war heimlich allein, nur von einem seiner Heerführer begleitet, Tag und Nacht in einem Schlitten durch Schlesien geeilt; ein Postmeister in Haynau hatte ihn erkannt. In Breslau war Alles in Bewegung; die gewöhnliche Sorge für den Tag und seine stille Beschäftigung war selbst in dem häuslichen Gemache dem großen Ereignisse gegenüber, welches wie ein innerer Mahnruf aus einem Jeden herausklang, zurückgewichen. Auf den Straßen wogte es von Menschen, die sich zuflüsterten; ein Jeder erwartete den Befehl zur bestimmten That, und Alle blickten sich an, als müßte der Befehlshaber, der sie zusammenrufen, bewaffnen, ordnen sollte, nun plötzlich erscheinen.

Da ward zuerst die Sorge für die Sicherheit des Königs laut. Werden die Reste der französischen Armee, welche die geheime Gesinnung kannten, um die Sicherheit des Rückzuges zu decken, sich in dem von Ihnen besetzten Berlin Gewaltthätigkeiten gegenseine geheiligte Person erlauben? Jetzt trat zuerst jene geheim bewahrte Treue, die den rechten Mittelpunkt aller zukünftigen That gefunden hatte, mächtig hervor. Man sprach es laut aus und ein treuer Schlesier war Echo genug, die Bitte selbst an den König zu richten, er möchte Berlin verlassen und nach Breslau kommen.

In diesem Augenblicke fühlte ich mich, obgleich ich die Morgenröthe des langersehnten Tages freudig begrüßte, dennoch innerlich sehr verlassen. »Sechs lange und leidensvolle Jahre hast du zugebracht, auf diesen Moment, als den seligsten deines Lebens, harrend; und nun bist du hier in einer entlegenen Stadt, der Strom der mächtigen Ereignisse wird diese Gegend nicht berühren; gegen Westen, in der Mitte des bewegten Deutschlands wird die Kraft des erwachten Volkes sich vereinigen, wird der Kampfplatz der großen Männer sein, deren Vertrauen und Wohlwollen dich in den Tagen des Leidens aufrecht erhielt und erhob. Du wirst hier thatenlos in unglücklicher Muße, was Großes geschieht durch deine Freunde, wie ferne Märchen dir erzählen lassen müssen.« So klagte ich: da kam Befehl, alle disponiblen Lokale in Breslau sollten für den König und sein Gefolge hergerichtet werden, und nun erkannte ich, wie ungegründet meine Klagen wären. Gott hatte mich gerade in den Brennpunkt des großen geschichtlichen Ereignisses versetzt.

Der König kam, die königlichen Kinder begleiteten ihn, Hardenberg war an seiner Seite, die höchsten Beamten, eine Menge von Generalen drängten sich hier zusammen; schon war das Gerücht von General Yorks erster großer, Alles aufregender Kriegsthat laut geworden; der Krieg war erklärt, obgleich noch keine Kriegserklärung da war. Eine unermeßliche Menge Männer, vorzüglich Jünglinge, strömten nach Breslau; alle Häuser waren angefüllt, auf den Straßen wimmelte es; Scharnhorst war da, Gneisenau wurde erwartet; nur Ein Gedanke erfüllte die zusammengedrängte Menge.

Unter der Unzahl der angekommenen Fremden war der Hauptmann Boltenstern, der, durch Gneisenau nach Halle geschickt, unsere geheime politische Thätigkeit von Neuem belebte. Er gehörte zu den Schülern Scharnhorsts; ich fand bei ihm mehrere Offiziere, seine Freunde, und der einzig mögliche Gegenstand unseres Gesprächs war natürlich der bevorstehende Krieg. Hier nun erfuhr ich, daß in der den Tag darauf erscheinenden Zeitung der königliche Aufruf zur freiwilligen Bewaffnung erscheinen würde. Die ganze preußische Jugend erwartete ihn; aber noch war der Feind nicht genannt. Gespannt, freudig erregt, und dennoch zugleich beunruhigt, verließ ich nach Mitternacht die Gesellschaft. Ich brachte die Nacht in wilden unruhigen Träumen zu, und erwachte, um mich so viel wie möglich auf einen Vortrag über Naturphilosophie vorzubereiten, der um 8 Statt finden sollte. Indessen ging, was ich erfahren hatte, mir durch den Kopf, und plötzlich – meine Familie hatte ich wie gewöhnlich noch nicht gesprochen – ergriff mich der Gedanke: »es steht ja bei dir, den Krieg zu erklären, deine Stellung erlaubt es dir, und was der Hof beschließen wird, wenn es geschehen ist, kann dir gleichgültig sein.« Ich zweifelte gar nicht an dem Entschluß, des Königs, sich mit Rußland zu verbinden. Daß man unmöglich die Jugend auffordern konnte, für Frankreich zu kämpfen, war mir völlig klar; man konnte aber verborgene Gründe haben, den Feind noch hinzuhalten. »Dann, so sagte ich mir, wird man deinen Schritt öffentlich mißbilligen, dich vielleicht in's Gefängniß schicken!« Daran lag mir nichts, denn daß ich nach Kurzem wieder entlassen sein würde, verstand sich, wie ich glaubte, von selbst.

Mein Hörsaal war nicht stark besetzt, die Studirenden hatten keinen rechten Begriff von der Naturphilosophie und die Begeisterung einer früheren Zeit war verschwunden; außerdem entleerte die gewaltsame Aufregung der Zeit alle Hörsäle. Als ich meinen Vortrag geschlossen hatte, wandte ich mich an die wenigen Versammelten und sprach sie folgendermaßen an:

»Meine Herren, ich sollte um 11 Uhr einen zweiten Vortrag halten, ich werde die Zeit aber benutzen, um über einen Gegenstand mit Ihnen zu sprechen, der wichtiger ist. Der Aufruf Sr. Majestät an die Jugend, sich freiwillig zu bewaffnen, ist erschienen oder wird noch heute an Sie ergehen. Dieser wird Gegenstand meiner Rede sein. Machen Sie meinen Entschluß allenthalben bekannt. Ob die übrigen Vorträge in dieser Stunde versäumt werden, ist gleichgültig. Ich erwarte so Viele, als der Raum zu fassen vermag.«

Die Bewegung in der Stadt war grenzenlos, Alles wogte hin und her, Jeder wollte etwas erlauschen, irgend etwas vernehmen, welches der immer stärker heranwachsenden Gährung eine bestimmte Richtung geben könnte; Unbekannte sprachen sich an und standen sich Rede; die vielen Tausende, die. aus allen Gegenden nach Breslau strömten, wogten mit den aufgeregten Einwohnern auf den erfüllten Straßen, drängten sich zwischen heranziehende Truppen, Munitionswagen, Kanonen, Ladungen von Waffen aller Art; ein ausgesprochenes Wort, wenn es irgend eine Beziehung auf die Angelegenheiten des Staats hatte, ward urplötzlich und wie mit gewaltiger Stimme von Allen gehört.

Noch waren die zwei zwischenliegenden Stunden kaum zur Hälfte verflossen, als eilig und mit heftiger Aufregung eine große Masse meiner Wohnung zuströmte. Der Hörsaal war gedrängt voll. In den Fenstern standen Viele, die Thür konnte nicht geschlossen werden, auf dem Korridor, auf der Treppe, selbst auf der Straße bis in bedeutender Entfernung von meinem Hause wimmelte es von Menschen. Es dauerte lange, ehe ich den Weg zu meinem Katheder fand. Noch hatte ich an diesem Tage meine Frau nicht gesehen. Mein Schwiegervater Der Kapellmeister Reichardt., der mit Frau und Tochter nach Breslau gekommen war, wohnte eine Treppe höher bei v. Raumer Schwager von Steffens, damals Professor der Mineralogie., die Schwiegermutter bei uns. Das Zuströmen der ungeheuren Menge Menschen war ihnen unbegreiflich; sie mochten wohl eine unbestimmte Ahnung von meinem Entschluß haben. Meine Frau wagte sich nicht heraus; durch die zu Erkundigungen abgesandte Magd ließ ich sie auf eine spätere Stunde vertrösten; dann, versprach ich, solle sie Alles erfahren.

Ich hatte diese zwei Stunden in einem seltsamen Zustande zugebracht; was ich sagen wollte, regte mein ganzes innerstes Dasein auf; ich sollte jetzt aussprechen, was fünf Jahre lang zentnerschwer auf meinem Gemüth gelastet hatte; ich sollte der Erste sein, der nun öffentlich laut aussprach, wie jetzt der Rettungstag von Deutschland, ja von ganz Europa da war; die innere Bewegung war grenzenlos. Vergebens suchte ich Ordnung in meine Gedanken zu bringen, aber Geister schienen mir zuzuflüstern, mir Beistand zu versprechen, ich sehnte mich nach dem Ende dieser quälenden Einsamkeit; nur Ein Gedanke trat vorherrschend hervor: »Wie oft hast du dich beklagt, daß du hier in diese Ecke von Deutschland geschleudert wurdest; und sie ist jetzt der Alles ergreifende, begeisternde Mittelpunkt geworden; hier fängt eine neue Epoche der Geschichte an, und was diese Menschenmenge bewegt, darfst du aussprechen.« Thränen stürzten mir aus den Augen, ich fiel auf die Knie, ein Gebet beruhigte mich. So trat ich unter die Menge und bestieg mein Katheder. Was ich sprach, ich weiß es nicht, selbst wenn man mich nach dem Schluffe der Rede gefragt hätte, ich würde keine Rechenschaft davon ablegen können. Es war das drückende Gefühl unglücklich verlebter Jahre, welches jetzt Worte fand; es war das warme Gefühl der zusammengepreßten Menge, das jetzt auf meiner Zunge ruhete. Nichts Fremdes verkündete ich. Was ich sagte, war die stille Rede Aller, und sie machte eben deßwegen, wie ein Echo aus der eigenen Seele eines Jeden, einen tiefen Eindruck. Daß ich, indem ich die Jugend so aufforderte, zugleich meinen Entschluß erklärte, mit ihnen den Kampf zu theilen, versteht sich von selbst.

Nach geschlossener Rede eilte ich zu meiner Familie, um sie zu beruhigen; dann, nach wenigen Minuten, stand ich wieder in der einsamen Stube, im Herzen erleichtert und froh über das, was ich gethan. Da erschienen Deputirte der Studirenden; sie forderten mich auf, die Rede in einem größeren Lokale zu wiederholen; sie schlugen dazu den Fechtsaal vor; ich mußte, obwohl ungern, meine Einwilligung geben. Dann drängten sich Besuche der Masse von Müßigen in meine Stube, die mir keineswegs schmeichelten. Kaum war eine peinliche Stunde verflossen, als Professor Augusti, der damalige Rektor der Universität, erschien. Er habe, sagte er, etwas äußerst Wichtiges mit mir allein zu sprechen. Obgleich diese Anrede mich gewissermaßen beunruhigte, war ich doch zufrieden, als ich meine Stube von der lästigen Menge der Besucher befreit sah. Augusti gehörte zu meinem näheren Umgänge, wir lebten im freundschaftlichen Verhältnisse. »Ich komme, sagte er mit feierlichem Tone, vom Staatskanzler.« Mr. Marsan, der französische Gesandte, war, als er das laute Gerücht von meiner Rede vernommen hatte, zum Staatskanzler geeilt. Wenige Tage nachher theilte mir dieser selbst den Inhalt des Gesprächs mit. »Sagen Sie mir – hatte er geäußert – was das zu bedeuten hat? Wir glauben mit Ihnen in Frieden zu leben, ja, wir betrachten Sie als unsern Bundesgenossen, und nun wagt ein Universitätslehrer unter den Augen des Königs uns den Krieg zu erklären!« – Hardenberg antwortete dem wohlwollenden Freunde, dessen bedenkliche Stellung er auf jede Weise zu schonen suchte, folgendermaßen: »Die Gesinnung des Volks, der Jugend, kann Ihnen kein Geheimniß sein; die Rede konnten wir nicht verhindern; daß sie gehalten wurde, erfuhren wir erst, als sie geendigt war. Der König desavouirt sie. Fordern sie Genugthuung, die soll Ihnen werden. Aber wir dürfen Ihnen nicht verheimlichen, daß ein jeder Schritt gegen den übereilten Redner ihn in einen Märtyrer verwandeln und eine Bewegung erregen wird, die wir schwerlich zu hemmen vermöchten.«

Mich ließ der Staatskanzler durch den Rektor wissen, wie er vernommen, daß ich, dazu aufgefordert, morgen die Rede zu wiederholen dächte. Er wollte nun zwar, meine Individuelle Ueberzeugung zu äußern, mich nicht hindern, bäte mich aber, Napoleons Namen nicht zu nennen. Aus einer Art von Instinkt hatte ich dieses auch in der ersten Rede vermieden. Ich befürchtete, daß die Nennung des Namens mich zu unschicklichen leidenschaftlichen Aeußerungen verleiten könnte. Mein Freund entfernte sich, und nun konnte ich noch zu Scharnhorst eilen.

Oberst v. Boyen, der spätere Kriegsminister, einer der wichtigsten, thätigsten und umsichtigsten der stillen Verbrüderung des »Tugendbundes« (für den auch Steffens ein thätiges Mitglied war), war eben angekommen und besuchte seinen Freund; ich trat herein und kaum erblickte mich Scharnhorst, als er auf mich zueilte, mich umarmte und in tiefer Bewegung ausrief: »Steffens, ich wünsche Ihnen Glück! Sie wissen nicht, was Sie gethan haben!« – Es war mein schönster Ruhm. Ich sah es ein, daß ich, ein vierzigjähriger still grübelnder Gelehrter, ein ungeschickter Krieger sein würde; aber mitgehen mußte ich, wenn dieser Moment irgend eine Bedeutung haben sollte.


 << zurück weiter >>