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Joachim Nettelbeck.

Joachim Nettelbeck, Bürger zu Kolberg. Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst ausgezeichnet und herausgegeben von 3. Ch. L. Haken, 3 Bde., Leipzig 1821-1823. Neue Ausgabe in Einem Bande, Leipzig 1845.


Joachim Christian Nettelbeck wurde am 20. Sept. 1738 zu Kolberg geboren, wo der Vater Bürger und Bierbrauer war. Seine Mutter war die Tochter eines Schiffers, und die Lust zum Seefahren schien das Kind mit der Muttermilch eingesogen zu haben. »Seit ich kaum das Alter von dreiviertel Jahren erreicht,« – erzählt er – »bin ich bei meinen Großeltern väterlicher Seits erzogen worden: aber sobald ich habe lallen können, stand mein Sinn darauf, Schiffer zu werden. Mein Hang dazu trieb mich so gewaltig, daß ich aus jedem Holzspan, aus jedem Stückchen Baumrinde, was mir in die Hände fiel, kleine Schiffchen schnitzelte, sie mit Segeln von Papier oder Federn ausrüstete, und damit auf Rinnsteinen oder auf der Persante handthierte. Meines Vaters Bruder war Schiffer; und keine größere Freude gab es für mich, als wenn er mit seinem Schiffe hier im Hafen lag. Denn da hatte ich zu Hause keine Ruhe, sondern bat, man möchte mich nach der Munde lassen. O, welch' ein vergnügtes Leben, wenn ich auf dem Schiffe war und mit den Schiffsleuten in ihrer Arbeit herumsprang!«

Mit dieser Neigung zum Seewesen, die mit jedem Jahre entschiedener hervortrat, verbanden sich noch zwei Liebhabereien – für den Taubenschlag und für die Kunstgärtnerei, von welcher der Großvater ein Freund war, aber keineswegs für die Schule, die er oft umging, um auf Teichen zu schiffen oder mit seinen lieben Tauben zu verkehren. Als er nahezu acht Jahre alt war und im Lernen noch so wenig Fortschritte gemacht hatte, erklärte ihm sein Pathe Runge, der sich viel mit dem lebhaften Knaben beschäftigte: »Junge, wenn du Schiffer werden willst, so mußt du auch fleißig in die Schule gehen, eine firme Hand schreiben und gut rechnen lernen, sonst denke nur gar nicht mehr daran!« Das wirkte. Als er nun vollends zur Weihnachtsbescheerung von demselben Pathen eine Anweisung zur Steuermannskunst geschenkt bekam, studirte er Tag und Nacht darin, was den Vater bewog, ihm bei einem kolberger Schiffer zwei wöchentliche Unterrichtstage auszumachen. Der Lerneifer des Knaben war so groß, daß er nicht selten in sternklaren Winternächten aus dem Bette sprang, sich auf den Wall schlich und mit seinen Instrumenten die Entfernung der ihm bekannten Sterne vom Horizont und Zenith maß, um danach die Polhöhe zu berechnen. Wenn er dann des Morgens halberfroren nach Hause kam, wunderte sich Alles über ihn und erklärte ihn für einen überstudirten Narren.

Da Joachim ferner gehört hatte, ein Schiffer müsse gut klettern können, um die Masten bei Tag und Nacht zu besteigen, ließ er sich das nicht zwei Mal gesagt sein, besuchte öfters des Glöckners Sohn, um mit diesem im Gebälk der Thurmspitze, ja auch auf das Kirchdach zu klettern. Der Vater verbot zwar solche halsbrechende Kunststücke, aber als er einmal verreist war, benutzte Joachim diesen Zeitpunkt, um mit einem Schulkameraden, der auch Lust zum Klettern bezeigte, aus den Thurmluken auf den Forst des kupfernen Kirchdaches zu steigen. Doch der Gefährte war nicht so muthig und schwindelfrei; kaum war er dem Wagehals einige Fuß nachgeritten, so fing er an erbärmlich zu schreien, klammerte sich zu beiden Seiten an den kupfernen Reifen fest und konnte weder vorwärts noch rückwärts. Nettelbeck kehrte sich nach ihm um. »Hier saßen wir nun Beide« – erzählt er – »sahen uns betrübt in's Gesicht und wußten nicht, wo aus noch ein. Er wagte es nicht, sich umzudrehen; ich konnte an ihm nicht vorbeikommen. Dabei hörte er nicht auf, in seiner Seelenangst aus vollem Halse zu schreien. Auf der Straße gab es einen Zusammenlauf und bald auch Hülfe. Denn der alte Glöckner mit seinem Sohne und mehreren Anderen kamen auf den Thurm und zogen meinen Freund mit umgeworfenen Leinen rücklings nach dem Gerüst und so vollends in die Luke hinein. Ich aber folgte wie ein armer Sünder zitternd und bebend nach. Des andern Tages kam mein Vater zu Hause, und da gab es denn, wie zu erwarten war, rechtschaffene, aber verdiente Prügel.«

Die Eltern überzeugten sich indessen, daß für den unruhigen Knaben auf festem Lande kein Heil zu erwarten sei, und als er sein eilftes Jahr zurückgelegt hatte, nahm ihn sein Oheim (1749) als Kajütenwächter mit nach Amsterdam. Dort erregte der Anblick der großen Kauffahrteischiffe, das lustige Treiben der ankommenden und abfahrenden Matrosen seine ganze Sehnsucht, Theil nehmen zu können an solchen Weltfahrten. Er bat den Oheim, ihm das zu ermöglichen, ward aber, wie zu erwarten stand, mit solchen Wünschen streng abgewiesen. Was thut nun das nach Abenteuern lechzende Bürschchen? Er nimmt die kleine Jölle vom Schiffe seines Oheims, fährt stracks in einer Nacht heimlich zu dem schon lange auf's Korn gefaßten Guineafahrer hinüber, steigt an Bord und läßt den kleinen Kahn auf dem Wasser treiben, daß die Seinigen am andern Morgen nicht anders glauben, als der Joachim sei verunglückt und im Meer ertrunken. Der Kapitän weigert sich anfangs, den unbekannten Knaben mitzunehmen, aber dessen Thränen rühren ihn doch und er nimmt ihn zum Steuermannsjungen an mit 6 Gulden monatlicher Löhnung. So machte nun Nettelbeck seine erste Seefahrt nach Guinea, wo er mit Negern verkehren lernte, und von der afrikanischen Küste ging's dann nach Amerika. Nach 21 Monaten lief das Schiff wieder im Hafen von Amsterdam ein, und von dort schrieb der Wagehals sogleich an seine Eltern. Diese waren freudig erstaunt und antworteten: »Du Unglückskind bist noch nicht einmal konfirmirt! Unser Segen soll Dir werden, wenn Du sogleich zurückkehrst, unser Fluch, wenn Du noch länger ungehorsam bleibst!«

Mit klopfendem Herzen betrat der verloren geglaubte Knabe wieder das väterliche Haus und hielt sich nun ordentlich zum Schulunterricht, bis er das vierzehnte Jahr zurückgelegt und die Konfirmation empfangen hatte. Dann hielt er aber nicht länger mehr auf dem festen Lande aus; eine unwiderstehliche Sehnsucht trieb ihn wieder aufs Meer. Er schwärmte wieder zwei Jahre lang auf verschiedenen kolbergischen Schiffen unter verschiedenen Kapitänen auf der Ost- und Nordsee umher, und war bald in Dänemark und Schweden, bald in England und Schottland, Holland und Frankreich zu finden. Da ihm aber solche kleine Reisen zu wenig Abwechslung boten, verdung er sich in Amsterdam bei einem Landsmann als Konstabler zu einer Fahrt nach Surinam, und rückte unterwegs zur Würde eines Untersteuermanns auf. Nach 14monatlicher Fahrt kam er glücklich zurück. Bei einem Abstecher nach Danzig traf sich's, daß der König August von Polen in der Stadt anwesend war, um in einer schön geschmückten Staatsjacht der auf der Rhede vor Anker liegenden russischen Kriegsflotte einen Besuch abzustatten. Die Mannschaft für jene Jacht war glänzend herausgeputzt, und das Außergewöhnliche nebst dem Trinkgelds von 1 Dukaten bewog den jungen Nettelbeck, sich auch in die Uniform stecken zu lassen. Aber wie erschrak er, als man ihm einen Spiegel vorhielt und er sich mit den bunten Bändern wie ein Narr vorkam. »Das Herz im Leibe wollte mir zerspringen« – sagt er – »wenn ich dabei bedachte, daß ich einen andern als meines Königs Namenszug im Schilde an meiner Stirn tragen sollte. Die Thränen traten mir in die Augen. Mir war's, als muthete man mir zu, meinen großen Friedrich zu verleugnen. Gern hätte ich mir Alles wieder vom Leibe gerissen und den Handel wieder aufgesagt, wenn es möglich gewesen wäre. Doch ich war einmal unter den Wölfen und mußte mit ihnen heulen! Indeß gelobte ich's mir, diesen Makel wieder dadurch gut zu machen, daß ich den verheißenen Dukaten dem ersten preußischen Soldaten zuwürfe, der mir begegnen würde. Ein alter Husar wurde dieses Glückskind, und der mag sich wohl nicht schlecht verwundert haben, daß ein achtzehnjähriges Bürschchen wie ich mit Golde um sich warf!«

Kaum in Kolberg angekommen, ging er schon wieder unter Segel mit des Oheims Schiff, das nach Lissabon bestimmt war (1756). Joachims jüngerer Bruder, 16 Jahre alt, ging auch mit als Kajütenwärter; ferner hatte der Oheim seinen 14jährigen Sohn mitgenommen. Diese Fahrt war höchst unglücklich; bei Helsingör schlug das Schiff um, und die darin saßen, mußten sich durch Schwimmen retten; als man sich wieder zusammengefunden und das Schiff in Stand gesetzt hatte, erhob sich nahe an der flandrischen Küste abermals ein schrecklicher Sturm, der das kleine Schiff auf die Sandbänke warf, wo es strandete. Dem Oheim hatte eine Segelstange das Auge aus dem Kopfe geschlagen, er war gestürzt und hatte sich so verletzt, daß er nur noch röchelte. Mit unsäglicher Angst und Mühe zogen die jungen Leute den lieben Mann an's Land, getrauten sich aber nicht, weil der Grund und Boden österreichisch war und der Krieg zwischen Preußen und Oesterreich begonnen hatte, dort zu bleiben, sondern schafften den Todtkranken auf die nahe französische Grenze in das Lazareth von Nieuport, und von dort nach Dünkirchen, wo das Kloster-Hospital noch bessere Pflege erwarten ließ. Die Klostergeistlichen nahmen den Leidenden auf; eine Untersuchung ergab, daß er das linke Bein gebrochen und einen Rückenwirbel zerschmettert hatte. An Heilung war nicht mehr zu denken, der arme Mann gab unter den heftigsten Schmerzen seinen Geist auf. Nun ward nach dem Glaubensbekenntniß gefragt, und der junge Nettelbeck sagte ohne Arg: protestantisch! Da wollte Niemand die Leiche berühren, Niemand mit den Ketzern zu schaffen haben; nach langem Flehen und Weinen bewirkten die jungen Leute, daß man die Leiche auf dem Felde beischarrte. Das Herz von Schmerz und Angst zerrissen, von allen Mitteln entblößt, mußten nun die Schiffbrüchigen den Rückweg antreten in der kalten Winterzeit und unter den härtesten Entbehrungen.

Auf solche Weise ward Nettelbeck hart in die Schule des Lebens genommen und lernte Muth und Entschlossenheit üben. Als er nach mehreren andern Seefahrten wieder nach. Kolberg kam und in Gefahr gerieth, mit Gewalt zum Soldatendienst ausgehoben zu werden, entzog er sich der Gewalt durch die Flucht, war dagegen, als Kolberg von den Russen belagert ward, sogleich bereit, seiner Vaterstadt Hülfe zu leisten. Schon seit alter Zeit waren die Einwohner von Kolberg durch ihren Bürgereid verpflichtet, zur Vertheidigung der Festung Leib und Leben, Gut und Blut daran zu setzen. Sie blieben also auch bei dieser Gelegenheit, als brave Preußen, nicht hinter ihrer Schuldigkeit zurück. »Meines Vaters Posten,« erzählt Nettelbeck, »forderte, daß er in dieser Zeit stets um die Person des Kommandanten sein mußte; und wo er war, da war auch ich, um ihm als ein flinker und rühriger junger Mensch zur Hand zu gehen. Der alte wackere Festungskommandant v. Heyden sah meinen guten Willen, und das gewann mir sein Wohlgefallen in dem Maaße, daß ich beständig in seiner Nähe sein und bleiben mußte. Ich konnte solchergestalt für seinen zweiten Bürgeradjutanten gelten und wurde oftmals auf den Wällen von ihm gebraucht, seine Befehle nach entfernten Posten zu überbringen. In der That war dies eine gute Vorschule für mich, um zu lernen, was unter solchen Umständen zum Festungsdienst gehört, und die Lektion ist mir noch in spätem Alter trefflich zu gute gekommen.«

Die Russen mußten wieder abziehen und Nettelbeck setzte seine Seefahrten wieder fort. Nach seiner Verheirathung ließ er sich in Königsberg als Transportschiffer nieder, doch wollte ihm das beschränkte Geschäft nicht behagen; er ließ Frau und Kind daheim und fuhr wieder nach Afrika und Amerika, nahm auch kurze Zeit Dienst bei den Engländern, deren Wesen ihm nicht so zusagte wie das der Holländer, deren Pünktlichkeit und Ordnungsliebe ihm besonders gefiel. Dann leitete er mehrere Jahre eine Navigationsschule in seiner Vaterstadt, und ging nun. als Schiffsherr zur See, indem er theils für eigene, theils für Rechnung großer Kaufleute Ladungen einnahm. Manche Gefahren, manche harte Verluste hatte er zu bestehen, aber seine Ausdauer war unermüdlich, seine Entschlossenheit und Geistesgegenwart außerordentlich, sein guter Humor unverwüstlich. Wo Keiner mehr Rath wußte, da wußte ihn Nettelbeck. Da er als Kapitän streng war und unbedingten Gehorsam forderte, geschah es einige Mal, daß sein Schiffsvolk meuterisch wurde. Die Matrosen fielen über den Weinvorrath her, und tranken sich toll und voll. In dieser Verlegenheit kam er auf den Gedanken, zwei der übermüthigsten zu bereden, mit ihm an's Land zu gehen und zur Ader zu lassen. Die beiden Tobsüchtigen mochten selber so ein Bedürfniß fühlen und hatten kein Arg daraus. Der Barbier, welcher schon von Allem unterrichtet war, ließ ihnen aber ein paar Schüsseln voll Blut ab, so daß sie ohnmächtig zum Schiffe zurück wankten und 14 Tage lang die zahmsten Menschen waren. Ein ander Mal hatten sich die Hamburger Matrosen in den Kopf gesetzt, durch die Gesetze ihrer Stadt zum Ungehorsam gegen einen preußischen Kapitän berechtigt zu sein, und so viel Thee und Kaffee trinken zu können, als ihnen beliebte. Jeder kam nach Belieben mit seinem Kessel und kochte. Nettelbeck schlug ihnen vor, um die Verschwendung zu hemmen, daß sie sammt und sonders sich seines großen Kessels bedienen sollten. Vergebens. Das ganze Volk, den Bootsmann und Koch an der Spitze, marschirte wie verabredet in Einer Reihe auf, jeder mit seinem Kessel in der Hand. Da hielt sich Nettelbeck nicht länger, stürzte sich auf die Ersten und warf ihre Kessel über Bord in's Meer. Nun aber ward er von der Rotte umringt, die Kerle schrien: »Schlagt zu! schlagt zu!« und er rettete sich schnell in seine Kajüte, deren Thür er hinter sich zuschloß. In dieser Noth fiel ihm ein altes Exemplar des Hamburger Schifferrechts in die Augen, er schlug nach und fand den gewünschten Artikel:

»Einem Schiffer steht frei, seine Leute zu züchtigen, und es darf keine Gegenwehr geschehen. Sollte aber ein Schiffsmann sich unterstehen, seinen Schiffer zu schlagen oder sonst zu mißhandeln: so wartet seiner der Galgen, nach Hamburger Recht.«

Er legte das Buch aufgeschlagen auf den Tisch, seinen gewichtigen Rohrstock daneben, und zog nun die Glocke, die den Kajütenjungen herbeirief mit seiner Frage: »Was zu Dienst?« – »Der Bootsmann soll zu mir kommen!« Dieser erschien mit trotziger Zuversicht. »Kannst Du lesen, Bursche?« fragte ihn Nettelbeck. – »Hm, ich werde ja, was soll's damit?« – Nun ward ihm der betreffende Paragraph unter die Augen gehalten, doch er fuhr heraus: »Hoho, das ist nur Wischewäsche!« – »So, guter Kerl? Nun, ich will Dir zeigen, was Wischewäsche ist!« und damit griff der Kapitän nach seinem Rohr und walkte ihn durch nach Leibeskräften. Das böse Gewissen erlaubte dem Schuldigen nicht, sich thätlich zu widersetzen; stöhnend taumelte er aus einem Winkel in den andern. Als der strafende Arm müde geworden war, öffnete Nettelbeck die Thür und warf den Taugenichts hinaus, dann ward abermals geschellt und der Koch vorgefordert. Dieser leistete zwar Gehorsam, aber wohl wissend, was seiner wartete, steckte er bloß den Kopf durch die halb geöffnete Thür. »Näher, Schurke!« donnerte ihm die Stimme seines Herrn entgegen. Er bat: »O, lieber Kapitän, laßt es doch gut sein!« Da er durchaus die Thür in der Hand behielt, warf ihm Nettelbeck sein Rohr an den Kopf. Die beiden Haupträdelsführer waren gedemüthigt; aber es galt noch einen Hauptschlag gegen die Andern. So trat denn der Kapitän an's Steuerruder, und gebot, nach der schwedischen Küste den Kurs zu richten, wo er die Rebellen. aburtheilen und hängen lassen wollte. Nun bat und flehte Alles um Verzeihung – die Reise ward ordentlich fortgesetzt, der Gehorsam war wieder hergestellt; aber in Memel empfingen die drei Rädelsführer von Gerichtswegen ihre Strafe.

Ein nicht minder glänzendes Beispiel seines kühnen Muthes gab Nettelbeck am 28. April 1777 in seiner Vaterstadt, als um die Mittagszeit ein Gewitter aufzog und der Blitz in den Kirchthurm schlug, der auch gleich lichterloh brannte. Wir lassen den Helden selber erzählen: »Ich, herzlich erschrocken, rannte nach der Kirche und die Thurmtreppe hinan! Im Hinaufsteigen überdachte ich mir's, wie groß das Unglück werden könne und müsse, da wohl schwerlich Jemand sich unterfangen würde, bis in die höchste Spitze zu klimmen, wo er in den finstern Winkeln nicht einmal so bekannt sei als ich, der ich sie in meiner Jugend so vielfältig und oft mit Lebensgefahr durchkrochen hatte. ›Also nur frisch darauf und daran! – rief eine Stimme in mir – du weißt hier ja Bescheid!‹

»In der That wußt' ich auch, daß droben auf dem Glockenboden stets Wasser und Löscheimer bereit standen; aber an einer Handspritze, die hier hauptsächlich Noth thun würde, konnte es leichtlich fehlen. Dies erwägend, macht' ich auf der Stelle rechtsum; drängte mich mit Mühe neben den vielen Menschen vorüber, die Alle nach oben hinauf wollten; flog gleich in's erste nächste Haus und rief um eine Spritze, die aber hier – die auch im zweiten Hause nicht zu finden war und meiner steigenden Ungeduld erst im dritten gereicht wurde.

»Jetzt wieder (die Angst und der Eifer gaben mir Flügel) zum Thurme hinauf! In der sogenannten Kunstpfeiferstube, die dicht unter der Spitze ist, fand ich mehrere Maurer und Zimmerleute, die indeß Alle nicht recht zu wissen schienen, was hier zu thun oder zu lassen sei. ›Lieben Leute,‹ sprach ich, indem ich unter sie trat – ›hier ist freilich nichts zu beginnen. Wir müssen höher hinauf nach oben. Folgt mir!‹ – ›Leicht gesagt, aber schwer gethan,‹ antwortete mir der Zimmermeister Steffen. ›Wir haben es schon versucht, aber es geht nicht. Sobald wir die Fallthür über uns haben, fällt ein dichter Regen von Flammen und glühenden Kohlen hernieder und setzt auch hier die Zimmerung in Brand.‹

»Das war freilich eine schlimme Nachricht! ›Ei, es muß schon etwas drum gewagt sein!‹ rief ich endlich. Sie öffneten mir die Luke, ich ließ mir einen Eimer voll Wasser und die Handspritze reichen, und nun mußte man die Fallthür schließen, um den Zug zu vermeiden. Eine Menge von Kohlen prasselte nieder, so daß ich mir den Kopf mit dem Wasser aus meinem Eimer anfeuchten mußte, um nicht aus meinen Haaren ein Feuerwerk zu machen. Um zugleich die Hände frei zu bekommen, schnitt ich ein Loch vorn in den Rock, durch welches ich die Spritze steckte, den Bügel des Eimers nahm ich in den Mund und zwischen die Zähne, und so ward denn die fernere Reise angetreten!

»Die Thurmspitze ist inwendig mit unzähligen Holzriegeln durchweg verbunden, die mir zur Leiter dienen mußten. Allein wohin ich griff, um mir empor zu helfen, da fand ich Alles voll glühender Kohlen; nur halt' ich nicht Zeit, an den Schmerz zu denken oder machte mich gegen ihn fühllos, indem ich Kopf und Hände zum Oeftern wieder anfeuchtete. Mit alledem hatt' ich mich endlich so hoch verstiegen, daß mir in der engen Verzimmerung kein Raum mehr blieb, mich noch weiter hindurch zu winden; und hier sah ich denn den rechten Mittelpunkt des Feuers annoch 8 oder 10 Fuß über mir zischen und sprühen.

»Jetzt klemmte ich den Wassereimer zwischen die Sparren fest, zog meine Spritze daraus voll und richtete sie getrost gegen jenen Feuerkern, wo das Löschen und Ersticken am nothwendigsten schien. Nur beging ich die Unvorsichtigkeit, dabei unverrückt in die Höhe zu schauen, weil ich auch die Wirksamkeit meines Wasserstrahls beobachten wollte: darüber aber bekam ich die ganze Bescheerung von Wasser, Kohlen und Feuer so prasselnd in's Gesicht zurück, daß mir Hören und Sehen verging – bis ich, nachdem ich mich wieder ein wenig besonnen hatte, das Ding geschickter anfing und bei den zwei oder drei nächsten Handhabungen meiner Spritze die Augen fein abwärts kehrte. Auch hatt' ich die Freude, daß sich bei jedem Zuge das Feuer merklich verminderte.

»Nun aber war auch der Eimer geleert! Neue Verlegenheit. Denn das leuchtete mir allerdings wohl ein, daß, wenn ich hinabstiege, weder ich noch sonst ein Mensch je wieder nach oben gelangte. Ich schrie indeß aus Leibeskräften: ›Wasser, Wasser her!‹ bis der vorbenannte Zimmermeister die Fallthür aufschob und mir zurief: ›Wasser ist hier, aber wie bekommst Du es nach oben hinauf?‹ – ›Nur bis über den Glockenstuhl schafft mir's. Da will ich mir's selber langen,‹ war meine Antwort. Und so geschah es auch. Jene wagten sich höher und ich kletterte ihnen von Zeit zu Zeit entgegen, um die vollen Wassereimer in Empfang zu nehmen, von denen ich denn auch so fleißigen Gebrauch machte, indem ich den Brand tapfer kanonirte, daß ich endlich das Glück hatte, ihn zu überwältigen und völlig zu löschen. Wo es aber noch irgend zu glimmen schien, da kratzte ich mit meinen Händen die Kohlen herunter, soweit ich irgend reichen konnte.

»Jetzt erst, da es hier nichts mehr für mich zu thun gab, gewann ich Zeit, an mich selbst zu denken. Ich spürte, wie mir mit jeder Minute immer übler zu Muthe ward, denn das zurückspritzende Wasser hatte mich bis auf die Haut durchnäßt und zugleich war eine Hitze im Thurme, die je länger je unausstehlicher wurde. Zwar eilte ich nun hinunter, aber indem ich gegen die Schalllöcher kam, gab es einen so schneidenden Luftzug, daß mir plötzlich die Sinne vergingen. Auch weiß ich nicht, ob ich auf meinen eigenen Füßen Gottes Erdboden erreicht, oder ob mich die Leute hinabgetragen haben.

»Als ich mich wieder besann, lag ich auf dem Kirchhofe, und mir zur Seite standen zwei Chirurgen, die mir an beiden Armen eine Ader geöffnet hatten. Außerdem gab es noch einen dichten Haufen von Menschen um mich her, welche von Theilnahme oder Neugierde herbeigeführt sein mochten. Mit meinem wiederkehrenden Bewußtsein begann ich nun aber auch meine Schmerzen zu fühlen. Meine Hände waren überall verletzt, die Haare auf dem Kopfe zum Theil abgesengt, der Kopf selbst wund und voller Brandblasen, wo denn auch in der Folge nie wieder Haare gewachsen sind. Nicht minder sind mir die beiden äußersten Finger an der rechten Hand, die vom Feuer am meisten gelitten hatten, krumm geblieben.

»Vom Kirchhofe trug man mich nach meiner Wohnung, wo eine gute und sorgfältige Pflege mir denn auch bald wieder auf die Beine half. Einige Wochen später behändigte mir der Herr Kriegskommissar eine goldene Denkmünze in der Größe eines Doppelfriedrichsd'or nebst einem Belobungsschreiben, die ihm beide von Berlin zugeschickt worden, um sie mir gegen meine Quittung zu überliefern. Das Gepräge dieser Denkmünze ließ ich mir in mein Petschaft stechen.« –

Auf einer neuen Seefahrt, die Nettelbeck unternahm, begab es sich, daß er in Lissabon einige Zeit verweilend eines Tages über den Marktplatz ging, und eine große Menschenmenge bemerkte, die sich um ein Zelt drängte, auf welchem die preußische Flagge wehte. Noch mehr ward er überrascht, als er näher herantretend vor dem Zelte zwei baumhohe preußische Grenadiere Schildwachen stehen sah. Schon wollte er seiner Freude in einem lauten Gruße Luft machen, als er die Wachsfiguren erkannte, welche die Zuschauer in's Innere des Zeltes locken sollten. Die Neugier trieb ihn auch hinein, und da sah er denn, so getreu und natürlich als ob er lebte, den alten Fritz mit einem Richterschwert in der Hand, und vor ihm lag ein Mann mit Weib und Kindern auf den Knieen, die um Gerechtigkeit zu flehen schienen. Dem Könige zur Rechten war eine große Waage angebracht, deren eine Schaale mit Papieren und Akten angefüllt war, während in der andern eine kleine Göttin der Gerechtigkeit thronte. Zur andern Seite eine Gruppe preußischer Generale und Gerichtspersonen, und im Hintergründe in großen leuchtenden Buchstaben die Inschrift in portugiesischer Sprache: »Gerechtigkeitspflege des Königs von Preußen«, darunter der Name »Arnold«. Das Gerücht von dem Prozeß des Windmüllers Arnold war bis nach Lissabon gedrungen; wem das Bild noch unverständlich blieb, ward von dem bestellten Ausrufer des Näheren belehrt. Alles horchte aufmerksam und schien tief ergriffen. Dem preußischen Bürger ward aber das Herz warm, er mußte sich in den innersten Kreis vordrängen, und rief voll Begeisterung in seinem gebrochenen Portugiesisch: »Mein König! Ich bin Preuße!« Diese Worte fielen wie ein elektrischer Strahl in die Gemüther des Volks, die Menge gerieth in Bewegung, drängte sich an Nettelbeck heran, dessen Züge in der That nicht ohne Aehnlichkeit mit denen des großen Königs waren, sank vor ihm auf die Kniee und hob gleichsam anbetend die Hände zu ihm empor. »Gloria dem König von Preußen!« rief der Eine. »Heil ihm – Heil für die strenge Gerechtigkeit!« der Andere. Froher Jubelschrei begleitete den in diesem Augenblicke selber hoch aufgeregten Patrioten bis in das Haus seines Korrespondenten.

Es sollten aber noch Zeiten kommen, wo der wackere Mann daheim seine treue Vaterlandsliebe und seinen deutschen Muth zu bewahren hatte. Nachdem er sich bis zu seinem 45sten Lebensjahre durch Freud' und Leid' in allerlei Fährnissen nah und fern tapfer durcharbeitet hatte, wollte er als guter Bürger seine ferneren Tage in Kolberg beschließen und richtete sich daselbst eine kleine Brauerei und Brennerei ein. Bald wurde er zum Mitglieds des kolberger Seegerichts, dann zum Bürger-Repräsentanten (Stadtverordneten) und endlich zum Rathsherrn gewählt, und gab in allen diesen Stellungen die schönsten Proben seiner Umsicht und Klugheit, die magistratum aus mancher Verlegenheit riß, aber auch seiner Menschenliebe, der kein Opfer zu schwer war, und seines Rechtssinns, der alle Unterschleife und Advokatenschliche aufdeckte. Hätte er nur in seiner Familie mehr Freude gehabt! Er war leider in der Wahl seiner Lebensgefährtin unglücklich gewesen; sein einziger Sohn starb ihm in der Blüthe der Jahre. Doch Nettelbecks Gemüth war zu elastisch, um sich von irgend einem Unglück niederwerfen zu lassen.

Als die Schlacht von Jena verloren ging, war er 68 Jahre alt. Mit Ingrimm hörte er, wie die preußischen Festungen sich feig an die Franzosen ergaben; auch Stettin ging über. In Kolberg schlugen aber noch wackere Preußenherzen, die nicht den Muth verloren und keineswegs gewillt waren, ohne Kampf sich dem Feinde Preis zu geben. Die Festung Kolberg war freilich eine der kleinsten und ihre Werke dazu sehr mangelhaft; man hatte in den Zeilen der Ruhe Alles verkommen lassen. Von Pallisaden war keine Spur, die Wälle schadhaft, nur drei Kanonen standen in der Bastion Pommern auf Laffetten und dienten zu Lärmschüssen, wenn ein Ausreißer von der Festung verfolgt werden sollte. Alles übrige Geschütz lag am Boden, hoch vom Grase überwachsen und die dazu gehörigen Laffetten vermoderten in den Remisen. Die Zahl der Vertheidiger war unzureichend und ihre Haltung sehr unkriegerisch. Der Kommandant, Oberst v. Loucadou, ein alter abgestumpfter Mann, blind an dem Herkommen hangend, ohne Verständniß seiner Zeit und Lage, ohne Geist, ohne Muth, ohne Willen. Während Alles, was Militär hieß, seinen trägen Schlummer mit ihm zu theilen schien, fühlte sich die ganze Bürgerschaft von der äußersten Unruhe und Besorgniß ergriffen; Nettelbeck als ihr Repräsentant wurde abgeordnet, mit dem Kommandanten Rücksprache zu nehmen über die zu treffenden Maßregeln.

Loucadou und seine Offiziere, die auf Alles, was keine Uniform trug, mit der tiefsten Verachtung herabschauten, wunderten sich nicht wenig, als Nettelbeck ihnen eröffnete, daß die Bürgerschaft mit Gott entschlossen wäre, in diesen bedenklichen Zeitumständen mit dem Militär gleiche Last und Gefahr zu bestehen. Sie stände im Begriff, sich in ein Bataillon von 7 bis 800 Bürgern zu organisiren, die mit vollständiger Rüstung versehen wären, und bäten nun um die Erlaubniß, sich vor ihm aufstellen zu dürfen, damit er die Güte hätte, sie zu mustern, nach seinem Ermessen auf die nöthigen Posten zu vertheilen und das Weitere anzuordnen. –

Ein Major von Nimptsch, der bei Loucadou war, fuhr den Sprecher hart an: »Aber, Herr, was geht das Ihn an!« Der Oberst sprach mit höhnischem Lächeln: »Mögen sie sich versammeln!« Das Bürgerbataillon trat auf dem Markte in guter Ordnung zusammen, Nettelbeck begab sich abermals zum Kommandanten, erhielt aber nun die schnöde Antwort: »Macht dem Spiel ein Ende, Ihr guten Leutchen! Was soll mir's helfen, daß ich Euch sehe?« Solche Geringschätzung ging den Bürgern tief zu Herzen. Nettelbeck aber verlor keineswegs die Geduld, er ging bald darauf wieder zum Oberst mit einem Antrage, von dem er glaubte, daß er seinem militärischen Dünkel weniger anstößig sein werde. »Es sei vorauszusehen« – sagte er – »daß, um die Festung zur Gegenwehr zu rüsten, es auf den Wällen viel Arbeit geben würde, um das Geschütz aufzustellen, zu schanzen und die Pallisaden herzustellen. Die Bürgerschaft sei gern erbötig, zu diesen Arbeiten mit Hand anzulegen, und er möge nur befehlen.« »Die Bürgerschaft, und immer wieder die Bürgerschaft!« antwortete er mit einer häßlichen Hohnlache – »ich will und brauche die Bürgerschaft nicht!«

Der unermüdliche Nettelbeck ließ sich aber nicht sobald einschüchtern, er kam wieder, und um nur endlich vor ihm Ruhe zu haben, sagte der träge Kommandant: »Was außerhalb der Festung geschieht, kümmert mich nicht; meinetwegen mögt Ihr draußen schanzen, so viel Ihr wollt!« Damit waren die Kolberger vorläufig zufrieden. Nicht nur, was Bürger hieß, zog nach der sogenannten Bergschanze aus, sondern auch Gesellen, Lehrburschen und Dienstmädchen waren in ihrem Gefolge. Nettelbeck leitete die Arbeit und zog selbst mit einem Hohlkarren und der Schaufel voran. Das Werk gerieth nicht übel, wurde später verbessert und bildete einen Posten, der dem Feinde nicht wenig zu schaffen machte.

Es mußten aber auch für die zu erwartende Belagerung die Lebensmittelvorräthe genau festgestellt und von Außen her die Zufuhren in Gang gebracht werden. Nettelbeck ging umher und machte die Verzeichnisse, die er dem Loucadou vorlegte. Dieser sagte: »Jeder Bürger mag für sich selbst sorgen; für meine Soldaten ist noch Vorrath genug in den Magazinen!« Vergebens bat ihn der Bürger-Repräsentant, er möchte doch wenigstens die Papiere nachsehen. Er wollte nicht. Sogar die Köchin des Obersten mischte sich in die Sache und sagte schnippisch: »Der Herr Oberst wird das doch wohl besser verstehen!« Da lief dem braven Nettelbeck die Galle über, er sägte dem Weibsbilde, was sie nicht zu hören wünschte, und hatte nun um so mehr sich den Herrn zum Feinde gemacht. In Kolberg, das sah er wohl, war keine Hülfe zu finden; so entschloß er sich trotz des Winters, sich auf den Weg zu machen, um seinem guten, unglücklichen, so schlecht bedienten Könige in Königsberg, Memel oder wo er ihn fände, die Lage Kolbergs vorzustellen. Glücklicherweise traf in diesem Augenblicke der Kriegsrath Wisseling ein, der sich von Stettin entfernt hatte, um dem Feinde nicht dienen zu müssen. Als er mit eigenen Augen gesehen hatte, wie es stand, sagte er zu Nettelbeck: »Vertrauen Sie mir Ihre Papiere und Alles, was auf die Festung Bezug hat, an, ich will selbst zu dem Könige und ihm Vortrag halten.« Der Mann hielt Wort, und kehrte mit ausgedehnten Vollmachten für die bessere Verpflegung der Festung zurück.

Unterdessen hatte Nettelbeck unter den Versprengten auch den Lieutenant v. Schill kennen gelernt, der, am Kopfe schwer verwundet, nicht weiter kommen konnte, und erzählte darüber: »Er war ein Mann nach meinem Herzen, einfach und bescheiden, aber von echtem deutschem Schrot und Korn, und so braucht' es nicht lange Zeit, daß er mir mein volles Vertrauen abgewann. Wie konnt' ich ihm aber dieses schenken, ohne ihm zugleich unsere ganze verzweiflungsvolle Lage zu schildern, meine Klagen über Loucadou in sein Herz auszuschütten und daneben meine frommen Wünsche über so Manches, was zur Sicherung und Erhaltung der Festung zu veranstalten noch übrig sei, gegen ihn laut werden zu lassen? Alles, was ich ihm sagte, machte je mehr und mehr seine Aufmerksamkeit rege, und es mag wohl sein, daß es ihn in seinem Entschlusse befestigte, in Kolberg zu bleiben und sich hier nützlich zu machen. Sobald er ein wenig zu Kräften gekommen war, besahen wir uns den Platz und seine Umgebungen. Wir trafen dabei in dem Urtheil zusammen, daß die Erhaltung desselben zuletzt hauptsächlich auf den Besitz des Hafens und die Behauptung der Gemeinschaft zur See mit Preußen und unsern Verbündeten ankommen werde. Hinwiederum war die »Maikuhle« der Schlüssel des Hafens, und dies angenehme Lustwäldchen, welches sich hart am Ausfluß der Persante, westlich eine Viertelmeile längs den Uferdünen der Ostsee hinstreckt, mußte um jeden Preis festgehalten werden. Noch war aber zur Verschanzung dieses wichtigen Punktes keine Schaufel angesetzt worden.«

Loucadou wollte davon abermals nichts wissen, und Nettelbeck machte sich an's Werk. Er trieb aus allen umliegenden Dörfern Tagelöhner und Häusler zusammen, versprach guten Lohn und zahlte 400 Thaler aus eigener Tasche. Tag und Nacht schanzten und arbeiteten wenigstens 60 Menschen, und die Befestigung ward nach Schills Plane ausgeführt. Die Besatzung ward aus den Ranzionirten und Versprengten gebildet, die sich freiwillig um den tapfern Schill versammelt hatten. Woher aber die Löhnung nehmen? Nettelbeck zahlte, so lange er noch einen Thaler im Beutel hatte, und spendete dazu seine Küchenvorräthe und seinen Branntewein.

Schills, wenn auch nicht immer glückliche, doch kühne heldenmüthige Ausfälle, die er in die ganze Umgegend machte, erhöhten den Muth der Bürgerschaft; auch die Sendung des Hauptmanns v. Waldenfels als Vize-Kommandant erweckte Vertrauen. Freilich war der tapfere Waldenfels mehr zum Schlachtenkampf als zur Vertheidigung einer Festung geschickt und mit dem alten Loucadou wollte er auch nicht geradezu brechen. Es fehlte noch immer an der einheitlichen Leitung und dem kräftigen Willen Eines erfahrenen Kriegsmannes.

Im März 1807 begann die Belagerung. Loucadou machte den einfältigen Vorschlag, die Dächer der Häuser mit einer Lage Mist zu bedecken, um die Bomben an dem Durchschlagen zu hindern. Nettelbeck machte solchen Vorschlag lächerlich. Während sie noch so verhandelten, schlugen einige französische Granaten durch die Dächer, platzten und richteten großen Schaden an. Eine Bombe zersprang ganz in der Nähe der Beratenden, bei ihrem Knall sah sich der alte Oberst ganz verwirrt um und stotterte: »Meine Herren, wenn das so fortgeht, so werden wir doch noch müssen zu Kreuz kriechen!« Solche Worte brachten den feurigen Greis Nettelbeck außer sich. Er fuhr gegen Loucadou auf und schrie im höchsten Zorne: »Halt! der Erste, wer er auch sei, der das verdammte Wort wieder ausspricht von zu Kreuze kriechen und Uebergabe der Festung, der stirbt des Todes von meiner Hand!« Sein Degen fuhr aus der Scheide und mit der Spitze gegen den Feigling gerichtet, setzte er hinzu: »Laßt uns brav und ehrlich sein, oder wir verdienen wie die Memmen zu sterben!«

Der Oberst ward nun auch seinerseits wild und drohte, den Nettelbeck erschießen zu lassen; der Schuldige mußte sogleich in Arrest, aber die ganze Bürgerschaft nahm seine Partei und es ward ihm kein Haar gekrümmt. Der wackere Schill aber, gegen den Loucadou den größten Widerwillen hatte, verließ ungeduldig die Festung, um außerhalb derselben zu ihren Gunsten zu wirken. Da wandte sich Nettelbeck abermals mit einer Eingabe an den König und diese hatte die Absendung eines Mannes zur Folge, der den Kolbergern wie ein rettender Engel erschien. Major v. Waldenfels überraschte den guten Nettelbeck, als dieser zu ihm kam Rapport zu erstatten und verwundert einen jungen rüstigen Mann von edler Haltung und angenehmem Aeußern bei ihm sah: »Freuen Sie sich, alter Freund! Dieser Herr hier – Major v. Gneisenau, ist der neue Kommandant, den uns der König geschickt hat« – und zu seinem Gast: »Dies ist der alte Nettelbeck!« Ein freudiges Erschrecken (so erzählt der Patriot selber) fuhr mir durch alle Glieder; mein Herz schlug mir hoch im Busen und die Thränen stürzten mir unaufhaltsam aus den alten Augen. Zugleich zitierten mir die Kniee unter dem Leibe; ich fiel vor unserem neuen Schutzgeist in hoher Rührung auf die Kniee, umklammerte ihn und rief aus: ›Ich bitte Sie um Gottes willen, verlassen Sie uns nicht, wir wollen Sie auch nicht verlassen, so lange wir noch einen warmen Blutstropfen in uns haben! Sollten auch alle unsere Häuser zu Schutthaufen werden! So denke ich nicht allein; in uns Allen lebt nur Ein Sinn und Gedanke: die Stadt darf und soll dem Feinde nicht übergeben werden!‹ Der Kommandant hob ihn freundlich auf und tröstete: »Nein, Kinder! Ich werde Euch nicht verlassen. Gott wird uns helfen!«

Alsbald gewannen die Vertheidigungsmaßregeln eine andere Gestalt, und Nettelbeck, der wie vormals in jüngeren Jahren dem Kommandanten als freiwilliger Bürgeradjutant zur Seite trat, konnte nun ungehindert seine ganze Wirksamkeit entfalten. Ihm ward die Leitung der um die Festung her zu bewerkstelligenden Überschwemmungen übertragen, wozu er bei seiner genauen Ortskenntniß der rechte Mann war. Als geübter Seemann unterhielt er auch jetzt die Verbindung mit der Rhede und geleitete die Hülfe bringenden Schiffe in den Hafen, selbst in der stürmischsten Witterung, wenn kein Anderer das Lootsenboot zu besteigen den Muth hatte. Eine schwedische Fregatte mit 40 Kanonen, welche die Belagerer in der Flanke und im Rücken zu beschießen bestimmt war, führte er, des Seegrundes vollkommen kundig, als Pilot zunächst dem Ufer in die vortheilhafteste Stellung. Die Löschanstalten in der Festung, welche bei dem unausgesetzten furchtbaren Bombardement so höchst wichtig wurden, waren unter seiner Aufsicht, und wo es galt, durch schnelles Zugreifen dem Feuer Einhalt zu thun, war Nettelbeck der Erste unter den Löschenden, der dem dichtesten Kugelregen Trotz bot. Bei jedem Ausfall war er in der Nähe, entweder den Fechtenden Munition und Erfrischung zuzuführen, oder auf Wagen die Verwundeten in Sicherheit zu bringen. Auf seinem Herde ward der große Kessel, der Speise für die Soldaten wie für die armen Bürger enthielt, nie leer. »Oftmals – erzählt er – habe ich den ganzen Fleischscharren und alle Bäckerläden auskaufen lassen; oftmals bin ich von Haus zu Haus gegangen, und habe gebeten, daß für meine Schill'schen Kinder in der Maikuhle zugekocht werden möchte. In der That betrachteten sie mich als ihren Vater und nannten mich ihren Brod- und Trankspender; und wenn ich mich in der Nähe der Lagerposten zeigte, ward ich gewöhnlich mit kriegerischer Musik empfangen. Nicht selten zuckelte ich, wenn sie zu irgend einem Angriffe in's Freie ausrückten, auf meinem Pferdchen nebenher und suchte ihnen getrosten Muth einzusprechen; oder ich stimmte, ob ich gleich nicht von sangreicher Natur bin, mit meiner Rabenkehle das Liedchen an: ›Halt't euch wohl, ihr preußischen Brüder!‹ – wobei Alle lustig und guter Dinge wurden.« Die Mißhelligkeiten zwischen der Besatzung und der Bürgerschaft wußte er bald auszugleichen, durch ihn ward eine beispiellose Eintracht hergestellt. Seine Meldungen an den Kommandanten waren stets die sichersten, seine Rathschläge eines gedienten Kriegers würdig.

Das Feuer wurde immer heftiger, immer näher rückten die Franzosen mit ihren Arbeiten an die Stadt heran; auf die Wolfsschanze wurden in einer einzigen Stunde 361 Schüsse gerichtet und ihre Besatzung mußte sich endlich ergeben. Am 2. Juli, als die Feinde der wichtigsten Außenwerke sich bereits bemächtigt hatten und nun mit Uebermacht einen allgemeinen Angriff unterhielten, – als es in Kolberg an allen Punkten brannte und bei der allgemeinen Erschöpfung der Kräfte nur noch zwei Männer, Gneisenau und Nettelbeck, den Muth der Belagerten aufrecht erhielten: da verstummte plötzlich der Kanonendonner auf französischer Seite, der Kourier war erschienen, der die Nachricht von dem zu Tilsit abgeschlossenen Frieden überbrachte.

Nettelbecks Name flog von Mund zu Munde; der König ertheilte ihm in Begleitung eines anerkennenden Schreibens die goldene Verdienstmedaille und die Erlaubniß, die preußische Admiralitätsuniform zu tragen. In diesem Ehrenkleide stellte er sich seinem Monarchen vor, als das Königspaar im Dezember 1809 nach Berlin reiste und in Stargard anhielt, wo Nettelbeck zur königlichen Tafel gezogen wurde. In einer Privataudienz, die er bei dem König und der Königin hatte, sprach er sein ganzes treues Herz aus: dann, von Rührung ergriffen, ward er still und blickte mit gefalteten Händen gen Himmel. Der König legte die Hand auf seine Schulter und fragte mit unendlicher Güte: »Haben Sie noch was auf dem Herzen?« Nun brach er in die Worte aus: »Ach, wenn ich Ew. Majestät und meine gute Königin jetzt so vor mir sehe und das Unglück bedenke, was Sie noch immer so schwer zu tragen haben, dann ist mir's, als müßte mir das Herz aus dem Leibe entfallen. Gott erhalte Ew. Majestäten und gebe Ihnen Kraft und Stärke, daß Sie diese harte Schicksalsprüfung bald und glücklich überstehen mögen.« Bei diesen Worten senkte der König sein Haupt auf die Brust und die hellen Thränen entfielen seinen Augen; die Königin aber streichelte ihm still die Wangen und weinte auch. Schon bei der ersten Vorstellung hatte der König vor der glänzenden Versammlung in großer Bewegung die Worte gesprochen: »Kolberg hat sich bereits im siebenjährigen Kriege treu gehalten und dadurch die Liebe meines Großoheims erworben. Auch jetzt hat es das Seinige gethan; und wenn ein Jeder so seine Pflicht erfüllt hätte, so wäre es nicht so unglücklich gegangen.«

Der Abend von Nettelbecks Leben war friedlich und heiter. Nachdem er zweimal mit der Ehe Unglück gehabt hatte, versuchte er es in seinem 75sten Jahre zum dritten Mal, und diesmal fand er eine würdige Lebensgefährtin, die eine Stütze seines Alters ward. Ja, er hatte noch die Freude, daß ihm eine Tochter geboren wurde, die er Luise nannte und bei deren Taufe der König Pathenstelle vertrat. Den rüstigen, für das Wohl des Vaterlandes wirkenden Geist bewahrte er bis an sein Ende, und namentlich beschäftigte ihn der Gedanke, daß Preußen sich eine Kolonie in Amerika erwerben, unter eigener Flagge und Wimpel seinen überseeischen Handel schützen sollte. Solche Gedanken erschienen aber noch zu kühn. Und doch, welche tüchtige Seeleute würde Preußen an seinen Pommern haben!

Nettelbeck starb in einem Alter von 86 Jahren am 19. Januar 1824. Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll, ob seinen hohen, zum Herrschen geborenen Geist und urkräftigen Willen, oder die anspruchslose schlichte einfache Art, wie er sich darstellte, den für alles Reinmenschliche, für Recht und Gerechtigkeit empfänglichen Sinn, oder die markige preußische Tugend und das deutsche Herz. Seine oben erwähnte Selbstbiographie ist eine Zierde der deutschen Literatur, sie liest sich wie der spannendste Roman und ist voller Abenteuer, wie sie die Phantasie eines Dichters kaum zu schaffen vermag, und doch athmet jedes Wort die Einfachheit und Wahrheit Dessen, der sie schrieb.


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